Text von Christoph Vougessis
Hier, das habe ich noch unten im Keller gefunden! Das gehört da auch irgendwie noch dazu. Falls was ist, ich bin nebenan.“ Der nette Hafenmeister aus dem Marinehafen im niederländischen Den Helder dreht sich um und verschwindet in Richtung Kabuff. Zu Sofa, Fernseher und Kaffeemaschine. Ich bleibe zurück. Mit einem Haufen öliger Kleinteile, die zu den Fahrrädern gehören, die, zerlegt in ihre Einzelteile, vor mir auf einer Werkbank liegen. Niemals hätte ich mir als gelernter Bootsbauer vorstellen können, dass ich mich eines Tages mal als Fahrradmechaniker unter Beweis stellen muss, aber gerade dieses Unvorhersehbare macht die Arbeit als Handwerker auf Wanderschaft so spannend. Zumal wenn es eine Walz nach eigens aufgestellten Regeln ist, ohne Zylinder, Stock und drei goldene Knöpfe – das will ich auch gar nicht.
Der Begriff der Walz soll lediglich erklären, was ich mit meinem Boot vorhabe. Die Welt bereisen und dabei hier und dort handwerklich arbeiten und ein bisschen Geld verdienen. Denn jeder Langfahrtsegler muss sich der Frage stellen, wie er die Bordkasse unterwegs auffüllen kann.
Seit meiner letzten großen Reise 2016 bis 2017 (YACHT 17/2017) gab es keinen Tag, an dem ich mir nicht gewünscht hätte, bald wieder die Segel setzen zu können und neue Abenteuer zu erleben. Damals segelte ich nach dem Abitur direkt drauflos, mit einem Boot, das ich mir kurz nach der schriftlichen Matheprüfung noch auf dem Schulhof stehend mit dem Smartphone in der Hand über eBay kaufte. Eine Hurley 22 aus den siebziger Jahren, klein, aber robust und billig in der Anschaffung.
Mit wenig Erfahrung, dafür mit der nötigen Leidenschaft, rüstete ich die „Shalom“ damals aus – aus heutiger Sicht mehr schlecht als recht – und machte mich im Hochsommer auf den Weg. Von Hamburg aus ging es durch die Nordsee nach England wie auch diesmal mit einem Zwischenstopp in Den Helder. Die Biskaya hatte ich, von Südengland kommend, nach acht Tagen überquert, und nach einem kurzen Stopp in Nordspanien ging es in elf Tagen zu den Kanaren, genauer gesagt nach La Gomera. Schon damals wollte ich am liebsten möglichst schnell in den Pazifik gelangen und machte mich auf den Weg.
Auf Jamaika angekommen, holte mich die Realität dann jedoch ein und ich erkannte, dass es als ungelernter junger Bengel sehr schwer war, Geld zu verdienen. Darüber hinaus fehlte mir das nötige Wissen, mich vernünftig um die zutage tretenden Baustellen an der „Shalom“ zu kümmern, sodass ich Kurs gen Heimat setzte. Mit Stopp auf den Azoren ging es zurück ins kalte Deutschland. Während der Seetage kam mir die Idee: Die nächste Reise wird eine Walz. Eine Walz unter Segeln.
Auch in Den Helder hat mich die Realität unterdessen einmal mehr eingeholt. Wie soll ich das Problem mit der Rücktrittsbremse lösen? Ich habe keine Ahnung, wie die Mechanik im Hinterrad funktioniert, aber bin fest entschlossen, das herauszufinden. Eine Hinterradbremse, die nur ab und zu funktioniert, sei schließlich keine Option, sage ich dem Hafenmeister, als er wieder vorbeischaut.
Der nickt erst bedächtig, winkt dann aber mit einer forschen Handbewegung ab: „Wer weiß, wie lange du noch hier bist. Kümmer dich lieber erst mal um den Doppelschleifer und die Stecheisen. Das Fahrrad bekomme ich zur Not auch selber repariert. Ansonsten machst du das am Ende.“ Er klopft mir freundschaftlich auf die Schulter und verlässt die Werkstatt schnell wieder. Im Fernsehen läuft gerade die Formel 1. Das Rennen findet sogar in den Niederlanden statt. Außer mir will das niemand im Hafen verpassen.
Ich stelle also das verbliebene Hollandrad in die einzige freie Ecke der Werkstatt und mache mich daran, den Doppelschleifer zu reparieren. Anschließend sollen noch Stecheisen des Werkstattsortiments geschärft werden. Genug Arbeit für heute und morgen, denke ich und bin zufrieden.
Bevor ich die Segel zu dieser Wanderschaft setzen konnte, arbeitete ich in erster Linie an meinem eigenen Boot. Ich hatte es drei Jahre vor der Abfahrt in Kiel gekauft. Es war günstig, denn es hatte einen Sturmschaden. „Leider war das Boot nicht richtig festgebunden und ist mehrfach gegen den Steg gestoßen“, erklärte mir die Eignerin bei der Besichtigung ihrer „Smilla“, während ich mir skeptisch das etwa faustgroße Loch im Vorsteven anschaute, kurz unterhalb des Vorstagpüttings. „Das wird eine größere Baustelle“, dachte ich bei mir, während mein Blick ins Rigg wanderte. Dort sah ich eine große Beule im Aluminiumprofil des Mastes, direkt unterhalb der Saling, wo die Unterwanten befestigt sind. Ein neues Rigg müsste also auch her.
Im Kopf ging ich alle Mängel durch, die ich gefunden hatte, um mich auf die Kaufverhandlungen vorzubereiten, denn ich war längst entschlossen. „Das Sandwichdeck ist am Ende, das fühlt sich wie eine Mooswiese an, wenn man darübergeht. Die Fensterrahmen aus Gummi sind undicht und die Backskistendeckel aus Sperrholz völlig vergammelt. Die Holzteile an Deck sind in einem schlechten Zustand. Und mit dem Ruder stimmt auch was nicht.“
Die Eignerin unterbricht meine Aufzählung: „Ich weiß, ich weiß, das Boot ist in einem schlechten Zustand. Es gehörte meinem Mann, und seit seinem Tod hat sich niemand mehr darum gekümmert. Mir ist nur wichtig, dass es in gute Hände kommt. Es wäre schön, wenn die alte Dame noch mal was erleben würde.“
Ich erkläre ihr, dass ich als Bootsbau-Lehrling das Geld nicht gerade säckeweise nach Hause bringe, und nach nur einer halben Stunde haben wir uns geeinigt. Für 1.000 Euro werde ich stolzer Eigner der alten Bianca 27, die lediglich noch dazu in der Lage ist zu schwimmen. „Ach so, der Motor geht auch nicht mehr an. Davor lief er aber super“, erfahre ich noch. Mir ist das aber egal. Ich werde das Boot ohnehin entkernen müssen. Den Motor würde ich dann schon überarbeiten.
Was mich umtreibt, als ich wenig später im Zug von Kiel nach Hamburg sitze, ist jedoch die Frage, wie ich die Bianca ohne Antrieb durch den Nord-Ostsee-Kanal nach Hamburg verholt bekomme. Auch sonst gehen mir Tausende Gedanken durch den Kopf. Doch bei allem überwiegt die Freude darüber, dass es nun endlich wieder losgehen wird.
Aber Theorie und Praxis können weit auseinander liegen, wenn man sich mit voller Leidenschaft einer Sache verschrieben hat. Der ursprüngliche Plan war schnell aufgestellt und theoretisch auch einfach zu befolgen: die Ausbildung zu Ende bringen, währenddessen mit dem Refit anfangen und später dann einen Teilzeitjob finden, um sich ganz dem Bootsprojekt zu widmen.
Doch die äußeren Umstände wurden problematisch und brachten mich mehrfach zur Verzweiflung. Aufgrund des geringen Ausbildungsgehalts zog ich mangels Alternativen schon einen Monat nach Erwerb der Bianca 27 an Bord. Fortan führte ich ein improvisiertes Leben auf einem noch gar nicht dafür geeigneten Wohnschiff. Im Winter im Wasser, im Sommer auf einem der vielen leer umherstehenden Trailer an Land in der Halle meines Segelvereins. Dort konnte ich mich ungestört dem Refit widmen, während die anderen Segler der Saison frönten.
Dabei stellte sich heraus, dass es der reinste Horror sein kann, im Hochsommer in einer Halle auf einer Bootsbaustelle zu leben, die vor Glasfaserstaub nur so glänzt. Vier Meter über dem Steinboden herrscht eine Bullenhitze, und an manchen Tagen erschienen mir flimmernde Sterne vor den Augen, während ich dabei war, Harze anzumischen, Holz zuzusägen und das Boot Stück für Stück neu aufzubauen.
Im ersten Sommer beschäftigte ich mich mit dem Rumpf oberhalb der Wasserlinie. Es war an der Zeit, das große Loch im Vorsteven wieder zu schließen. Als meine Bianca 27 mit dem Vorsteven immer wieder gegen den Steg gestoßen war, hatte sich nicht nur dieses Loch aufgetan, sondern auch Weißbruch bis weit hinter der Bruchstelle. Um die erwünschte Stabilität wieder herzustellen, entfernte ich den Weißbruch und schäftete das Laminat großzügig an, um dadurch große Klebeflächen für das neue Laminat zu erzeugen. Nachdem der Vorsteven wieder hergestellt war, ging es daran, den Rumpf zu lackieren. Das neue Epoxidharz-Laminat sollte vor UV-Strahlung geschützt werden. Und weil ich den Rumpf ohnehin von seinem ausgekreideten Weiß befreien wollte, lackierte ich ihn gleich im ersten Jahr des Refits – entgegen der logischen Reihenfolge, nach welcher der Lack erst zum Schluss aufgetragen wird.
Der zweite Sommer galt dem Unterwasserschiff. Ein Voreigner hatte zusätzlichen Ballast an den Kiel laminiert, sodass das Boot im Wasser leicht auf der Nase lag und nicht mehr in der Konstruktionswasserlinie schwamm. Eines schönen Sommertags hängte ich mein Zuhause daher in die Krangurte meiner Lernwerft, nahm die große Flex mit nach draußen und begann, die Wulst von der Kielflosse abzuflexen. Am Ende fielen laut Kranwaage zweihundert Kilo Blei samt Laminat herunter.
Den restlichen Sommer über befreite ich das Unterwasserschiff von Antifouling, Primer und zig Osmosebläschen, fand einige dilettantische Reparaturen unter der ganzen Farbe und reparierte hier und da kleinere Laminatstellen. Auch größere Baustellen traten zutage. Die Bianca 27 ist ein Langkieler mit angehängtem Ruder. Das ist von innen hohl, der Kiel im Bereich der Ruderaufhängung ausgeschäumt. Das Ruderblatt selbst war völlig delaminiert, und so baute ich schließlich ein neues. Der Schaum im Kiel war durch eingedrungenes Seewasser klitschnass, weshalb ich die Kielflosse öffnete und den achteren Bereich komplett neu ausschäumte – im vorderen Bereich war der Ballast einlaminiert. Nachdem die Struktur unterhalb der Wasserlinie wieder hergestellt war, wurde das Unterwasserschiff in ein dickes Epoxid-Kleid gesteckt, um Osmose entgegenzuwirken. Anschließend folgten etliche Anstriche mit Primer und Antifouling.
So stand ich nach zwei Jahren vor meiner Bianca, hatte von der Kielsohle bis zur Deckskante alles restauriert und war immer noch hoch motiviert und voller Pläne: „Nächsten Sommer geht es an den Aufbau!“
Dieser dritte Restaurierungssommer schloss sich nahtlos an. Als der Winterschlaf beendet war, wurde das Werkzeug herausgeholt, und weiter ging es. Mit wenig Mühe drückte ich zu Beginn dieses letzten Abschnitts die Fenster aus dem Aufbau heraus. Die alten Gummidichtungen hätten keiner Welle mehr standgehalten. Ich nutzte die Form der Fenster zum Schablonenbau und fräste mir aus acht Millimeter dickem Acrylglas neue, die ich später im Jahr mit Bolzen und PU-Kleber befestigen wollte.
Als nächstes überarbeitete ich sämtliche Holzteile an Deck. Und das sind bei der Bianca 27 einige. Süll, Fußleiste, Schiebeluk, Vorschiffsluke, Backskistendeckel und die Lukengarage waren in einem schlechten Zustand, vieles bereits verfault. Backskistendeckel und Schiebelukgarage mussten komplett neu gebaut werden, den Rest konnte ich retten. Die Winschen bekamen dicke Unterfütterungen aus Kambala anstatt der dünnen Edelstahlprofile und die restlichen Hölzer mehrere Schichten Bootslack. Nach den schönen Holzarbeiten ging es ans Sandwichdeck. Vom Vorstag bis zu den Winschen öffnete ich das komplette Deck, entfernte Sperrhölzer und nassen Schaum und fertigte die Schäftungen an, um später das neue mit dem alten Laminat verbinden zu können.
Als auch diese Arbeiten abgeschlossen waren, ging es an den alten Bukh DV 20. Ein unverwüstlicher Motor, der mich aufgrund seiner Farbgebung an die Kinderserie „Kleiner Roter Traktor“ erinnerte. Nach einem Monat Arbeit tuckerte er wieder glücklich vor sich hin, allerdings noch nicht im Wasser, sondern auf einer Euro-Palette, umzingelt von Vereinsmitgliedern mit Bierflaschen in der Hand, die wir uns prostsagend an die Münder hielten. Mit einer selbst gebauten Zugvorrichtung wuchtete ich den alten Diesel wieder in die Bianca, baute ihn ein, richtete ihn sorgfältig neu aus und installierte bei dieser Gelegenheit auch gleich ein neues Stevenrohr samt Stopfbuchse.
Auch dieser arbeitsreiche Sommer neigte sich dann irgendwann dem Ende zu, und in den letzten warmen Tagen des Jahres lackierte ich schließlich den Aufbau samt Deck und Cockpit. Der als Grau gekaufte Lack für das Deck erwies sich zwar als Babyblau, aber das war mir zu diesem Zeitpunkt ziemlich egal. Ich wollte nur noch fertig werden. Zu guter Letzt baute ich noch zwei Doradekästen für die Lüfter und vereinigte als krönenden Abschluss endlich die neu gebauten Fenster mit dem Aufbau.
Am Ende des dritten Sommers war die vom Sturm beschädigte „Smilla“ zu meiner „Tallawah“ geworden – und nicht mehr wiederzuerkennen. Ich hatte wirklich ein neues Boot.
Als ich am 18. Juli des vergangenen Sommers endlich am Mast stehe, das neue Großsegel und die Genua setze, bin ich so von Glück erfüllt, dass es mir fast die Luft zum Atmen abschnürt. Wie benommen schaue ich nach vorn zum Bug und auf das Wasser davor. Kraftvoll schiebt sich die „Tallawah“ durch die kleinen Elbwellen und macht ihrem neuen Namen alle Ehre – Tallawah, das jamaikanische Wort für stark.
Eher sanft setzt das Boot hingegen in die Wellen ein und wirft dabei winzige Gischtfontänen zu jeder Seite, wo sie sich in Miniaturregenbögen verwandeln. Fast könnte man meinen, dass sich „Tallawah“ genauso freut wie ich, nach so langer Zeit wieder unterwegs zu sein. Gemeinsam sind wir das erste Mal auf dem Wasser – noch nie war ich vorher mit meinem Boot segeln.
Der Abschied fällt entsprechend leicht. Nach all der Arbeit ist es an der Zeit, Freunden und Familie endlich „Bis bald!“ zuzurufen. Unter Motor bin ich aus dem Hafen gefahren, und nun entschwinden wir wie durch Zauberei aus der Elbmarsch. Doch erst, als die Elbe sich am Abend im Licht der letzten Sonnenstrahlen von Horizont zu Horizont weitet und ich die Nordsee schon riechen kann, begreife ich es wirklich: „Ich bin wieder unterwegs. Unfassbar.“
Den ersten Job meiner selbst komponierten Walz habe ich gleich bei meinem ersten Stopp auf Helgoland. Die Halle vom Segelverein muss isoliert werden. Mein mitsegelnder Bruder Jonas ist davon wenig bis gar nicht begeistert : „Ich kann nicht mehr!“, sagt er schwitzend.
Jonas steht auf der vorletzten Leitersprosse und versucht, ein großes Stück Steinwolle zwischen zwei Holzbalken zu stopfen. In Schutzanzug, Handschuhen und Maske macht er einen unglücklichen Eindruck. Er kommt die Leiter herunter und klopft sich den Dreck vom Anzug: „Weißt du, als du mich eingeladen hast, mit dir ein Stück des Weges gemeinsam zu segeln, hätte ich nicht gedacht, dass du schon auf Helgoland Arbeit findest und gleich drei Wochen hierbleibst.“
Mit einem Schraubenzieher öffne ich zwei Flaschen Bier, die ich aus einem gesponserten Kasten nehme und reiche ihm eine davon. „Das ist ja das Schöne am Reisen. Dass man nie weiß, was morgen passiert. Und was man auf dem Weg mitnehmen kann, sollte man mitnehmen“, sage ich zufrieden. „Arbeit, Sonne und Meer. Das ist doch super! Lass uns das hier einfach schnell erledigen und dann geht es ja auch schon gleich wieder weiter. Ich hole schon mal die Kreissäge, Schlag- und Akkuschrauber sowie die Japansägen für die Querhölzer.“
Mein Bruder muss lachen und schüttelt den Kopf. „Unfassbar, dass du das alles bei dir an Bord hast. Die ‚Tallawah‘ ist ja wirklich eine schwimmende Werkstatt.“ Zufrieden nicke ich: „Genau das war auch der Plan. Bis gleich!“