Paul KohlhoffKieler Foiling-Könner und Olympia-Hoffnung im Porträt

Tatjana Pokorny

 · 25.05.2023

Paul Kohlhoff und Alica Stuhlemmer sind im Nacra 17 in Deutschland eine Klasse für sich
Foto: DSV/Felix Diemer

Zwei Jahre nach ihrem Bronze-Coup von Japan zählen Paul Kohlhoff und Alica Stuhlemmer auf Kurs Marseille 2024 wieder zu den olympischen Hoffnungsträgern im German Sailing Team. Kraft dafür schöpfen die Familienmenschen im Heimathafen Kiel

Den 3. August 2021 werden Paul Kohlhoff und Alica Stuhlemmer nie vergessen. Jeder Augenblick der 19 Minuten und 57 Sekunden ihres olympischen Finalkrimis in der Sagami-Bucht hat sich ins Gedächtnis eingebrannt: der verpatzte Start, der brutale Auftakt-Penalty, die Aufholjagd und der Zieldurchgang in achter Position. Nach bangen Sekunden schlägt die Erkenntnis wie ein Blitz an Bord des Nacra 17 ein: Das ist Bronze! Es ist das Happy End eines historischen Tages für den deutschen Segelsport. Drei Medaillen in dreieinhalb Stunden hatte es bei Olympia nie zuvor gegeben.

Tina Lutz und Susann Beucke hatten die deutsche Olympia-Gala mit 49er-FX-Silber eingeläutet, Erik Heil und Thomas Plößel sie mit Bronze fortgesetzt. Paul Kohlhoff und Alica Stuhlemmer vollendeten den Glanztag als jüngste Crew in der Flotte der rasenden Nacra-17-Katamarane. Nach dem olympischen Karriereende der vier Skiff-Akteure sind die Kieler Foiling-Könner die Einzigen aus dem Dream-Team von Japan, die 2024 erneut um olympisches Edelmetall kämpfen wollen.

Kampf zurück ins Leben und ins Boot nach einer Hirnblutung

Nichts davon ist für Paul Kohlhoff und Alica Stuhlemmer selbstverständlich. Kaum eine Crew weiß so gut wie diese beiden, heute 27 und 23 Jahre alt, wie schnell Träume platzen können, wenn ein Schicksalsschlag dazwischenfunkt.

Paul Kohlhoffs dunkelste Zeit begann bei einem Trainingslager Ende 2017 auf Mallorca mit extremen Kopfschmerzen. Er lässt sich in einem Krankenhaus in Palma de Mallorca untersuchen. Die niederschmetternde Diagnose für den jungen Athleten: Hirnblutung! Experten wollen das Wagnis eines chirurgischen Eingriffs zunächst nicht eingehen. Als jedoch wenige Tage später eine Nachblutung erfolgt, bleibt in akuter Lebensgefahr nur noch dieser Weg. Am Tag vor Heiligabend geht es für Paul Kohlhoff nicht mehr um Medaillen. Jetzt steht nicht weniger als sein Leben auf dem Spiel.

Paul Kohlhoff hat Riesenglück im Unglück. Der spanische Chirurg Jon Olabe traut sich die seltene wie gefährliche mehrstündige Operation zu. Sie geht gut. „Er ist mein Lebensretter, einer, der täglich Leben rettet und für mich immer eine Inspiration sein wird“, sagt Paul Kohlhoff über den Mann, der zu seinem Freund und Mentor wurde. Über viele Monate kämpft sich Kohlhoff nach dem Eingriff erst zurück ins Leben, dann zurück aufs Boot. Es ist ein oft frustrierender Weg. Lange ist sein Sichtfeld eingeschränkt, weil Nerven in Mitleidenschaft gezogen wurden. Er sieht doppelt und ist im Frühjahr 100 Kilogramm schwer, weil sein Körper nach Zucker schreit, ihn aber nicht verbrennen kann. Die Großfamilie Kohlhoff, Freunde und sein Sport tragen Paul durch die schwere Zeit.

Alica Stuhlemmer und Paul Kohlhoff wollen “etwas Großes” erreichen

Auch Alica Stuhlemmer ist ein Fels in der Brandung. Die Segelpartnerin, damals selbst erst 18 Jahre alt, übernimmt auf Kurs Olympia Verantwortung für das mit Paul Kohlhoff gerade erst formierte Team. Fast auf Anhieb hatte das Duo bei der WM 2017 Platz fünf erobert. Da wollen die beiden nach dem Tiefschlag wieder hin. Die als „Konditionswunder“ geltende Alica trainiert, ackert und organisiert die Kampagne, während sich Paul Kohlhoff an alte Stärken herantastet. Im Neuaufbruch geben sich Paul und Alica das Versprechen, gemeinsam „etwas Großes“ zu erreichen.

Auch daran erinnert sich Paul Kohlhoff fünf Jahre später beim frühmorgendlichen Kaffee an der Bar des Club Nàutic Arenal. Es ist der Finaltag des Spanien-Klassikers Trofeo Princesa Sofía im April 2023. Im Clubhaus an der Bilderbuchbucht von Palma kennen viele die dramatische Geschichte des jungen Deutschen und wissen, dass Pauls Leben hier gerettet wurde. Und sie erinnern sich an die Zeit, in der er im März 2018 nach der erfolgreichen Operation auf wackligen Beinen, übergewichtig und mit verquollenen Augen in den Club kam. „Wenn ich nach Mallorca komme, ist das alles omnipräsent“, sinniert der Kieler, dessen Schicksal so eng mit der Insel verknüpft ist.

“Wir hatten als Familie immer Boote”

Aufgewachsen ist Paul Kohlhoff mit seinen Brüdern Max und Johann in einer lebendigen Großfamilie, die ersten zehn Jahre in Bremen, dann in der Wahlheimat Kiel. Seine Erkrankung hat den ungestümen Jungspund von einst geerdet. Er sagt: „Heute ziehe ich alles, was ich mir vornehme, so durch, als hätte ich keine Zeit mehr zu verlieren.“ Das gilt für den Sport, aber auch für sein Privatleben. Mit seiner Lebensgefährtin Jana hat Paul früh eine Familie gegründet.

Im Mai 2022 kam mit Bruno der gemeinsame Sohn des Olympiaseglers und der angehenden Lehrerin zur Welt. Ein Jahr später hat der junge Vater beim Weltcup-Auftakt vor Mallorca die Antwort auf eine seiner drängendsten Fragen bekommen. „Ich bin nicht schlechter geworden, weil ich Familie habe“, sagt er beruhigt.

Szenen einer Laufbahn zum olympischen Medaillen-Erfolg

„Wonder Kids“: Kohlhoff und Carolina Werner segelten 2015 als jüngste Crew auf WM-Platz 5
Foto: KiWo/segel-bilder.de

Mit Platz sechs haben er und Alica sich im Rekordfeld des Spanien-Klassikers in der Nacra-17-Weltspitze zurückgemeldet. Ein bemerkenswertes Resultat, denn im Vorjahr hatte das Team aufgrund einer Knieverletzung von Alica bei der Weltmeisterschaft passen müssen und mehrere Trainingsmonate verloren. Jetzt ist klar: Die national konkurrenzlosen Katamaran-Foiler bleiben auf Kurs Olympia 2024 Weltklasse.

Einmal mehr erscheint richtig, dass Paul Kohlhoff einst seinen Jugendtraum von einer Fußballkarriere zugunsten des Segelsports aufgegeben hat. Als Kicker war er in der Kindheit glücklicher als auf dem Wasser. „Wir hatten als Familie immer Boote, die unser perfektionistischer Vater hochtunte. Und wir haben mitunter auch zu fünft darauf gewohnt, sind viel gesegelt. Aber mir hat Fußball als Junge mehr gefallen.“

Mit Carolina Werner startet Kohlhoff im Nacra 17 durch

Zwei Ereignisse bringen Paul im Teenager-Alter doch zum Segelsport: Im Einsatz für die Jugendmannschaft von Holstein Kiel verletzt sich der junge Mittelfeldspieler auf dem damals löchrigen Bolzplatz in Dänischenhagen. Zeitgleich stößt er zu einer neuen, aufstrebenden 29er-Gruppe im Kieler Yacht-Club. Die wird von Coach Patrick Böhmer stark geführt, ist die Keimzelle künftiger Olympia-Cracks.

„Ich hatte nach verpasster Opti-Ausbildung viel aufzuholen“, erinnert sich Kohlhoff an diese Anfangszeit. „Aber man muss kein Superstar im Opti sein, um ein erfolgreicher Segler zu werden. Der Spanier Jordi Calafat ist der einzige Segler, der Opti-Weltmeister war, eine olympische Goldmedaille und den America’s Cup gewonnen hat.“

Ich hatte nach verpasster Opti-Ausbildung viel aufzuholen“

Mit der Kielerin Carolina Werner startete Kohlhoff 2014 im neuen aufregenden Mixed-Katamaran Nacra 17 (siehe unten) durch. Sie gewannen 2015 auf Anhieb die EM und WM der Junioren. Als WM-Fünfte im olympischen Seniorenfeld katapultierten sie sich im selben Jahr in die Weltspitze und bekamen den Spitznamen „German Wonder Kids“.

Mit Platz 13 bei der Olympia-Premiere 2016 unter Rio de Janeiros Zuckerhut waren aber weder Paul noch Carolina zufrieden, obwohl sie unter den 20 Teams als mit Abstand Jüngste agierten. Die junge Sportehe wird auf Kohlhoffs Initiative geschieden.

Paul Kohlhoff findet in Alica Stuhlemmer die ideale Segelpartnerin

Nach intensiver Suche findet Paul in Alica Stuhlemmer die ideale Segelpartnerin für seine Zukunftspläne. Für Alica kommt die Chance ihres Lebens wie aus dem Nichts. „Paul und Caro waren damals die krassesten Vorbilder, sie waren die German Wonder Kids! Für mich war das eine andere Welt. Ich liebte das Regattasegeln, hatte aber mein Abi noch vor mir …“

Das packt sie mit einem Notendurchschnitt von 1,8 ebenso gut wie den Kaltstart in die olympische Kampagne. Die Crew harmoniert auf Anhieb. Der 1,87 Meter große Paul sagt: „Ich bin vermutlich der längste Steuermann der Flotte, Alica mit 1,60 die kleinste Vorschoterin. Wir könnten beide kaum mit jemand anderem segeln. Entscheidender aber ist der menschliche Aspekt. Es passt perfekt.“

Mit Paul im Boot fühle ich mich immer sicher.“ (Alica Stuhlemmer)

Beide schätzen, was Kohlhoff beschreibt: „Wir haben einen Partner, mit dem man eine Vision teilt und bereit ist, alles auf den Tisch zu legen, bis man oben ankommt.“ Trotz mehr als 100 gemeinsamen Kenterungen in einer Klasse, die schon schwere Unfälle zu beklagen hatte, sagt Vorschiffsstürmerin Alica: „Mit Paul im Boot fühle ich mich immer sicher.“

Beide Athleten sind Obermaat in der Sportfördergruppe der Bundeswehr. „Mit dem Sold können wir fest kalkulieren. Darüber hinaus arbeiten wir mit dem, was unsere Sportfirma erwirtschaftet“, erklärt Paul.

Enges Partnernetzwerk mit der Kieler Wirtschaft

Die erste mit Bronze belohnte gemeinsame Olympia-Kampagne hat sechsstellige Jahresbudgets mit einer Eins am Anfang verschlungen. Ein Nacra 17 kostete im letzten Olympiazyklus rund 40.000 Euro. Heute sind es etwa 50.000 Euro.

Ein von Paul und Alica erfolgreich aufgebautes Partner-Netzwerk trägt die Aushängeschilder des German Sailing Teams solide bis mindestens 2024. „Bei uns können kleinere und größere Unternehmen dabei sein. Viele haben einen engen Bezug zu Kiel, zum Kieler Sport, zu Holstein Kiel und auch zum THW“, erklärt Unternehmer-Sohn Paul die enge Vernetzung mit der heimischen Wirtschaft.

Ob die Olympia-Medaille reproduzierbar ist? Marcus Lynch, Olympic Performance Manager der Segelnationalmannschaft und Trainer von Paul und Alica, sagt: „Ja, sie haben die Erfahrung und das Selbstbewusstsein, ihr Ziel erneut zu erreichen.“

Eineinhalb Jahre vor seinem angestrebten dritten Olympia-Start weiß Paul Kohlhoff: „Eine Goldmedaille ist unverhältnismäßig schwerer zu gewinnen als Silber oder Bronze. Da muss man vor den Spielen der Dominator sein. Das sind wir noch nicht.“ Andererseits spreche einiges für seine Crew: „Ich sehe uns in privilegierter Position, weil es viele neue Teams gibt, die noch nicht so viel Erfahrung haben. Unser Gesamtpaket ist sehr professionell. Es wäre unabhängig von der Farbe der Medaille das Größte, noch mal auf dem olympischen Podium stehen zu dürfen.“

Paul Kohlhoff verfolgt kompromisslos seine Profi-Karriere

Sein Medaillenhunger ist auch übergeordneten Zielen geschuldet: Paul Kohlhoff zählt wie Laser-Weltmeister Philipp Buhl zu den wenigen deutschen Top-Seglern, die kompromisslos eine Profikarriere anstreben. Ohne das Netz und den doppelten Boden eines Studiums suchen sie ihre Chancen auf der Basis olympischer Erfolge.

In einer der führenden Segelnationen wie Neuseeland, Australien, Großbritannien oder Frankreich hielte Kohlhoff womöglich längst das Steuer eines SailGP-Katamarans in der Hand oder wäre im America’s Cup gefragt. So wie die überragende italienische Nacra-17-Konkurrenz. Olympiasieger Ruggero Tita arbeitet schon für Patrizio Bertellis Rennstall Luna Rossa Prada Pirelli, während er mit Vorschoterin Caterina Banti erneut olympisch angreift.

Mangels solcher internationaler Leuchtturmprojekte hierzulande muss und will Paul Kohlhoff dauerhaft zu den Besten der foilenden Katamaran-Zunft zählen, um seine Chance zu wahren, international gesehen und berücksichtigt zu werden.

Kieler Woche, Pre-Olympics und WM

Eine Kostprobe ihres aktuellen Leistungsstandes geben Paul Kohlhoff und Alica Stuhlemmer beim Heimspiel in Kiel. Gefordert und zu sehen sind sie in der ersten olympischen Hälfte der Kieler Woche vom 17. bis zum 21. Juni. Unbelastet von Qualifikationsdruck, bietet ihnen das Weltcup-Finale auf der Förde die Chance zur Genuss-Gala vor der eigenen Haustür.

Weitere Höhepunkte für Paul Kohlhoff und seine Vorschoterin sind in diesem Jahr die Pre-Olympics Anfang Juli vor Marseille und die Weltmeisterschaft aller zehn olympischen Segeldisziplinen, die Mitte August in Den Haag stattfindet.

Paul Kohlhoff freut sich auf alles, was kommt. Und auf die Kieler Woche: „Ich race gerne in Kiel und identifiziere mich stark mit der Stadt. Unser Sohn ist hier geboren. Kiel ist der Lebensmittelpunkt meiner Familie. Unsere ganze Segelkampagne ist hier vernetzt. Ich glaube, es hilft sehr, sich mit einer Stadt und einer Gruppe von Menschen so sehr verbunden zu fühlen, wie wir es tun.“


Der Nacra 17

Foto: wikimediacommons/Barbetorte - Own work, CC BY-SA 3.0

Die Amerikaner Gino Morrelli und Pete Melvin konstruierten den Nacra 17 2011. Der foilende Katamaran wird vorwiegend von Mixed-Crews gesegelt und feierte 2016 olympische Premiere. Frei wählbar ist, ob Frau oder Mann steuern. Bei nur 5,25 Meter Länge ist das Boot äußerst fordernd: Durften noch bei Olympia 2021 nur die Daggerboards zwischen den Rennen verstellt werden, so sind inzwischen auch im Wettkampf Foils und Ruder separat voneinander aktiv zu bedienen. Dadurch „fliegt“ der Foiler am Wind öfter, aber erst ab 10 Knoten Wind. Die schnellste olympische Bootsklasse fasziniert mit einem maximalen Speed von 26, 27 Knoten.


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