Es ist schwer zu sagen, wann genau die Antarktis für uns als Segelziel „mental“ zugänglich wurde. Vielleicht durch die Reisen des Briten Bill Tilman auf „Mischief“ und des Franzosen Jérôme Poncet auf dessen „Damiens“. Beide waren Ende der Sechziger- und Anfang der Siebziger-Jahre Segelpioniere in der Antarktis. Desgleichen David Lewis mit seinem Einhandtörn auf „Icebird“ und Gerry Clark mit seiner verrückten Antarktis-Umrundung auf „Totorore“ – auch wenn wir uns ein knappes halbes Jahrhundert später kaum noch an ihre Namen und Reisen erinnern.
Es waren heikle, risikoreiche Vorstöße in eine lebensfeindliche Eiswelt. Hinein in eine Abgeschiedenheit, deren Ausgang man nicht kannte. Ohne Sicherheitsnetz, ohne Wettervorhersagen, meist auch ohne Radiokontakt. Und ohne GPS. Im letzten Jahrhundert wurden sie zudem in einem medialen schwarzen Loch gesegelt. Drang überhaupt etwas aus diesem heraus, dann nur zeitverzögert und ganz altmodisch in Form eines Buchs. Dieses wiederum hatte, wie es sich gehörte, viele Worte, aber wenige Fotografien.
Die raren Berichte all der einsamen Abenteurer änderten wenig daran, dass es einem damals nicht in den Sinn kam, als Paar in die Antarktis zu segeln. Das änderte sich, als Anfang der Achtziger-Jahre Rolf Bjelke und Deborah Shapiro – er Schwede, sie Amerikanerin– am polaren Horizont erschienen. Im englischen, doch auch im deutschen Sprachraum war es ihr 1986 erschienenes Buch über ihre Reise von der Arktis in die Antarktis auf ihrer 40-Fuß-Stahlketsch „Northern Light“, das dem Segeln in den hohen Breiten das Eis brach. Denn: Dieses Buch war anders; es hatte nicht nur Text, sondern einen ebenbürtigen Anteil an Fotos. Auf diesen war fast immer die eindrucksvolle und rot hervorstechende „Northern Light“ im Fokus.
Diese Bilder riefen in uns etwas wach, das unterhalb einer Vernunftebene lag. Sie zogen uns in sich hinein und damit in eine menschenleere Wildnis, die in uns selbst noch wie gefroren lag. Seither, über mehr als 30 Jahre hinweg, setzten Rolfs und Deborahs zahlreiche Reisen in polare Regionen den Standard für jeden, der es ihnen gleichtun wollte.
Die Nachricht von Rolfs Tod lässt mich an meine stille Befangenheit zurückdenken, als ich ihn und Deborah 1986 – kurz nach dem Erscheinen ihres Buchs – zum ersten Mal traf. Ich lebte auf „Wanderer III“ und arbeitete als Holzbootsbauer im norwegischen Risør. Eines der ersten Risør Trebåtfestivals hatte ihnen einen Grund geliefert, die Vorbereitungen für ihr nächstes Vorhaben – eine Überwinterung in der Antarktis – zu unterbrechen. Sie waren von Fiskebäckskil an der schwedischen Westküste hinübergekommen.
Was sich mir damals einprägte, war die Sorgfalt, mit der sie ihr Schlauchboot wuschen, falteten und verstauten. In einer so ruhigen, methodischen, fast akribischen Weise, selbst für nur knapp 60 Seemeilen übers Skagerrak im Sommer. Mir wurde klar: Wenn das der Ansatz war, eine Reise in die Antarktis anzugehen, hatte ich eine ganze Menge zu lernen.
Drei Jahre später setzte sich mein Unterricht an der US-amerikanischen Ostküste fort. Und zwar im Dezemberfrost auf dem Intracoastal Waterway in North Carolina. Völlig überraschend hatten „Wanderer“ und „Northern Light“ sich im Wartemodus vor einer Hebebrücke bei Norfolk, Virginia, getroffen. Von dort ab folgten wir einer gemeinsamen Route südwärts, in einem für mich magischen Rhythmus.
Für fünf unvergessliche Tage startete ich – da auf dem langsameren Boot – jeweils vor ihnen früh in den Morgen. Irgendwann im Lauf des Tages überholten sie mich, wählten einen Platz für die Nacht, an dem ich neben ihnen ankerte und zu ihnen hinüberruderte. Das Abendessen simmerte da meist schon. Jeder einzelne dieser Abende füllte mich mit den Details antarktischen Segelns. Ihre Erfahrungen im Eis, die Vor- und Nachteile spezifischer Bootsdetails und Riggs, Sturmtaktiken im Südmeer für Yachten mit langem Lateralplan, dazu Fotografie, Schreiben, Schokolade, Wein: All das und mehr kam auf den Tisch.
Das ging so, bis sich unsere Kurse trennten. Sie steuerten gen Antarktis, um dort zu überwintern. Ich segelte in die Karibik, um dort Kicki zu treffen. Nicht, dass ich es damals schon wusste, aber während dieser fünf Tage waren Rolf und Deborah zu Paten meines zukünftigen Segelns geworden.
Ich mochte ihre „Northern Light“ auf Anhieb, sowohl ihr Aussehen als auch ihre durchdachte, funktionale Stärke. Ihre Rumpfform ist identisch mit Moitessiers „Joshua“, aber es ist ihr kraftvolles Rigg, das sie zu nichts anderem als einer ästhetisch gelungenen Segelmaschine macht. Darüber hinaus war sie das Zuhause der beiden, nahezu bis zur Perfektion optimiert, um lange Perioden genau dort zu verbringen, wo die Natur wahrhaftig unwirtlich wird. Die Liebe zu den Wildnissen der Welt war so groß wie die zum Segeln. Nur ganz wenige unter uns schaffen es, diese Liebe auch zu leben und ein Leben lang zu einem Strang zu flechten, an dem man zu zweit in dieselbe Richtung zieht.
Sie teilten Eigenschaften wie ihren Blick auf Details, die Weitsicht beim Planen, ihre organisatorischen Fähigkeiten. Aber was hervorsticht, ist etwas anderes: die Art und Weise, wie sie die Herausforderungen auf und neben dem Meer angingen. Es ist die bewusste Parität und absolute Ebenbürtigkeit in allem, was sie taten, die so außergewöhnlich war – beim Navigieren, der Decksarbeit, dem Bootserhalt, dem Fotografieren, Filmen, Schreiben und – ihrer Zeit voraus – beim Präsentieren der ersten Multimedia-Shows. Ihr Segeln brachte ihnen 1984 die Blue Water Medal ein, ihr Filmen einen Festivalpreis in Cannes, ihre Multimedia-Präsentationen weltweit die Bewunderung unzähliger Segler.
17 Jahre nach den Abendlektionen auf dem Waterway war meine Lehrzeit beendet. Tief im Süden der Südhalbkugel beobachtete ich in einem Moment einen Royal Albatros und erkenne im nächsten Moment in der Distanz neben „Wanderer“ eine rote Ketsch. Ich konnte es kaum glauben, es war eindeutig „Northern Light“. Kicki und ich waren seit Langem seglerisch im Kalten zu Hause. Doch bei den neuseeländischen subantarktischen Auckland-Inseln als einzige andere Yacht auf Rolf und Deborah zu stoßen, war besonders. Hinsichtlich der Ausrüstung beider Boote schien „Wanderer“ für diese Regionen zwar weniger geeignet, aber solch ein Zweifel bestand für niemanden von uns vieren.
Jahrzehntelanges Segeln hatte uns gelehrt, wie wichtig es ist, besonders an Orten wie diesen einander Raum zu geben, um genau das empfinden zu können, weshalb man gekommen war: um sich in einer Urwelt natürlicher Geräusche und dominierenden Winds wiederzufinden, um zu spüren, wo man ist. Und ja, auch, um zusammenzukommen, Abendessen zu teilen oder Deborahs Geburtstagskuchen für Kicki zu genießen. Für uns war beides ganz natürlich. Denn das Soziale und das Ferne hatte sich bei jedem auf genau derselben Wellenlänge eingependelt.
Als wir im letzten Jahr Rolf und Deborah in Schweden besuchten, war „Northern Light“ längst verkauft und Rolf 86 Jahre alt. Sein Körper wollte nicht länger so wie er, aber sein Verstand war scharf wie das frisch gefrorene Eis der ersten Tage ihrer antarktischen Überwinterung in Hovgaard Bay. Seine Bestimmtheit, Entschlossenheit und Klarheit waren unvermindert. Sie hatten sein Leben geleitet, genauso wie in anderer Weise der Zauber des sich nie setzenden Lichts einer Polarsommernacht.
Es war 2007 in Hovgaard Bay, wo wir uns zum letzten Mal gesehen hatten, als die beiden auf ihrem finalem Segelprojekt, eine Weltumseglung im Südmeer mit Stopps auf den subantarktischen Inseln, noch einmal für einige Sommermonate zu ihrem Lieblingsort zurückgefunden hatten.
Unter ihren außergewöhnlichen Fotos aus der Zeit ihrer Überwinterung dort choreografierten sie eines, das besser als jedes andere die Essenz ihres Segelns ausdrückt: Es zeigt „Northern Light“, gegriffen und gehalten vom weißesten Schnee, sämtliche Segel gesetzt, der Spinnaker windgefüllt, inmitten eines lichttrunkenen Bühnenbilds einer friedlichen antarktischen Landschaft. Über Jahre hing es als Poster bei maritimen Schiffsausrüstern, Segelmachern und Riggern überall in der Welt.
Hatte man diese Fotografie einmal gesehen, drang sie in einen und verließ einen nicht mehr. Auch mich nicht. Die beiden hatten die ultimative Balance gefunden zwischen planen und spielen. Rolf starb im Alter von 87 Jahren am Tag der Sommersonnenwende – dem Tag, an dem die Sonne an den Enden unserer Welt in vollster Entfaltung leuchtet. Danke, Rolf, und danke, Deborah, dass ihr mich auf meinen Pfad geleitet habt.
Rolf Bjelke und Deborah Shapiro haben ihre damalige Reise in die Polarregionen dokumentiert. Das Buch ist gebraucht für rund 25 Euro erhältlich.