In der traditionsreichen Hanseatischen Yachtschule in Glücksburg hat Ende Oktober Bobby Schenk sein 19. und letztes Blauwasser-Seminar veranstaltet. Mit dabei: Der heimliche Stargast Kirsten Neuschäfer. Gut 150 Seglerinnen und Segler kamen bei Vorträgen und im gegenseitigen Austausch dem Traum von der langen Reise ein Stück näher. Wer dazu den finalen Anstoß brauchte, bekam ihn von der Golden Globe-Gewinnerin Kirsten Neuschäfer.
Elf erfahrene und eloquente Referenten zu wichtigen Blauwasser-Themen hat der erfahrene Weltumsegler Bobby Schenk für sein letztes Seminar geladen, über das wir in diesem Artikel berichten. Der Top-Star der Veranstaltung aber ist zweifellos Golden-Globe Gewinnerin Kirsten Neuschäfer.
Nicht, dass sie wie ein Star wirkt, im Gegenteil: Von Bobby Schenk als „das Mädchen aus dem Busch“ angekündigt – er habe gefragt und dürfe sie so nennen – hält sie sich während des gesamten Treffens im Hintergrund, bis ihr Vortrag beginnt. Wer glaubt, nach der umfassenden Berichterstattung am Rande des Golden Globe-Rennens schon alles über die 43-jährige Südafrikanerin zu wissen, wird eines Besseren belehrt. So hatte auch Schenk seine liebe Not, sie im Vorfeld des Seminars zu erreichen: Sie war mit ihren Hunden spazieren – 200 Kilometer mit Rucksack und Zelt.
Im Raum herrscht Stille ab der ersten Minute. Niemand schaut in seinem Handy nach neuesten Nachrichten oder blättert gelangweilt in den Seminarunterlagen. Alle Augen sind auf die zierliche Frau mit den blonden Locken gerichtet, die lebhaft berichtet. Nicht nur vom Golden Globe Rennen, das sie berühmt machte, sondern auch davon, welch ungewöhnlicher Weg sie dorthin führte.
Die Tochter eines Deutschen und einer Südafrikanerin verbringt ihre Kindheit und Jugend in ihrer Heimat Südafrika, bis sie nach dem Abschluss der Schule für zwei Jahre nach Finnland geht, um Schlittenhunde zu trainieren. Für den Rückweg von Europa nach Südafrika wählt sie das Fahrrad. „Die Leute haben versucht, mich davon abzuhalten“, erzählt sie. „Und ich habe gedacht: Die haben das alle selber noch nicht versucht, also können sie es nicht wissen.“
Ein Jahr später steht sie am südlichsten Punkt ihres Heimatlands, dem Kap Angulhas. Nichts von dem, was andere vorher befürchtet haben, ist bei ihrer ausgedehnten Fahrradtour eingetroffen. Im Gegenteil: „Ich hatte eine sehr bereichernde Zeit und habe mich gefreut, dass ich gemacht habe, wovon ich geträumt habe“, erzählt sie. „Und dann stand ich da und habe auf die beiden Ozeane geguckt, den Atlantik auf der einen, den Pazifik auf der anderen Seite, und habe gedacht ‚Jetzt will ich ein Segler werden, damit ich weiterreisen, aber auf See unterwegs sein kann.‘“
Sie macht einen Segelschein und hört sich nach Mitsegelgelegenheiten um. In ihrem Revier bedeutet das schnell auch mal sehr anspruchsvolle Törns. „Aber wenn man als Segler arbeiten und auch Jobs bekommen möchte, braucht man auch die Erfahrung. Also habe ich überall gefragt, ob ich mal eine Runde mitfahren kann, um diese Seemeilen zu sammeln.“
Auf einem dieser Törns machen sie auf dem Weg von Durban nach Kapstadt Halt in East London. „Wir sind zur Kneipe gegangen, wie man das so macht“, erzählt sie. Dort kommt sie mit dem Betreiber der örtlichen Segelschule ins Gespräch. „Er hat mich gefragt, wie viel Erfahrung ich habe und ich habe geantwortet: ‚eigentlich gar keine, ich habe den Küstenschein und sonst nichts‘.”
„Das ist ja toll, ich brauche eine Segellehrerin, du kannst morgen bei mir anfangen!“ Ihrem Einwand, dass sie doch selber noch lerne, begegnet er mit den Worten: „Das ist gar kein Problem, du kannst lehren und lernen gleichzeitig.“
Und das tut wie kaum eine andere. Sie wird Segellehrerin und beginnt mit Überführungstörns der größeren Art. Ihr erster Einhandtörn ist die Überführung einer Ferrozement-Yacht von Portugal nach Südafrika. Es folgen Überführungen von so ziemlich jedem Winkel der Erde zu einem anderen. Jene gern mal ruppigen Routen, die sich Eigner nicht zutrauen und die über Südgeorgien, die Falklands oder zu einsamen Inseln führen.
Einmal fahren sie bei einer Überführung nach Saint Paul, eine unbewohnte Insel im Indischen Ozean auf halber Strecke zwischen Südafrika und Australien. Die Insel ist nichts weiter als ein hoch aus dem Meer aufragender Vulkankrater, der an einer Seite weggebrochen ist und eine vielleicht einhundert Meter breite Einfahrt bereithält, die anzusteuern selbst bei wenig Wind wegen der hohen Dünung schon ein waghalsiges Unterfangen ist. Sie werfen den Anker mitten im Krater. Schwimmend gelangen sie an Land. „Dort waren jede Menge Robben, die mit uns schwammen. Sie kennen Menschen nicht als Feinde und haben uns einfach begleitet“, schwärmt sie. Eine längere Pause ist ihnen nicht vergönnt, denn nachts zerrt das Boot in heftigen Fallwinden zwischen den hohen Kraterwänden am Anker. Sie suchen im Dunkeln die schmale Ausfahrt, das Licht ihrer starken Taschenlampe bringt hunderte von Robbenaugen an Land zum Leuchten. „Es sind diese Orte, an die man sonst nicht kommt, nur mit dem Boot, die das Segeln so besonders machen.“
Dort draußen ist sie auf sich allein gestellt und muss an alles denken, bevor sie ablegt. Ersatzschrauben und Taucherausrüstung inklusive. Sie muss technisch ebenso versiert sein wie seglerisch. Dazu bescheiden, was Komfort angeht, innig verbunden mit dem Meer und furchtlos, auch wenn es tobt. Beste Voraussetzungen, um zum einsamsten Rennen der Erde zu starten.
Sie wählt den dazu passenden Bootstyp: Eine Cape George 36. Mit einem Leergewicht von 13 Tonnen nicht eben ein Racer, aber stäbig und zuverlässig. In Neufundland, Kanada, steht eine zum Verkauf. Die Entfernung schreckt sie nicht. Kirsten Neuschäfer nimmt einen Kredit auf, fliegt einmal diagonal über den Atlantik und kauft das Boot. Dann kommt Corona. Ein Jahr lang darf sie nicht zu ihrem Boot; die kanadischen Behörden lassen sich nicht von der Dringlichkeit überzeugen.
Als sie endlich einreisen darf, ist Dezember. Das Boot ist vereist. Nur ein paar Meilen segelt sie bis Prince Edward Island, dann macht ihr der Winter einen Strich durch Rechnung. Sie muss das Boot an Ort und Stelle für das Golden Globe vorbereiten. Die kleine Inselgemeinde ist begeistert von den ungewöhnlichen Plänen und unterstützt sie nach Kräften. Die „Minnehaha“ wird auf dem Trailer eines Fischerbootes in eine Scheune transportiert, als Lager für den Mast müssen Heuballen herhalten. Gemeinsam mit einem Freund arbeitet sie monatelang daran, das Boot zu refitten und verstärken, bis sie jeden Winkel kennt. Bei jedem Arbeitsschritt denkt sie an den weisen Satz erfahrener Regattasegler: “Das Rennen wird vor dem Start gewonnen.” Den alten Holzmast tauscht sie gegen einen aus Aluminium, doch bevor sie diesen stellt, übt sie das Segeln mit einem Jury-Rigg, denn „ein Mastbruch ist beim Golden Globe ja nicht unwahrscheinlich.“
Als sie endlich lossegeln kann, ist es immer noch so kalt, dass sie die Festmacher mit heißem Wasser auftauen muss. 56 Tage segelt sie nonstop bis Kapstadt. Zeit, das Boot kennenzulernen und eine Liste der möglichen Verbesserungen zu erstellen. Schon drei Monate später geht die Reise von dort hoch, über die Azoren ins Regattamekka Les Sables-d’Olonne. 15.000 Solo-Seemeilen haben sie und ihre „Minnehaha“ so bereits vor dem Rennstart im Kielwasser. Drei knappe Wochen bleiben ihr, um das Rennen nach den strengen Regeln final vorzubereiten. Essen zu bunkern, Bücher, Musikkassetten und alles was man sonst gebrauchen kann in Monaten vollkommener Einsamkeit. Moderne Technik und Kommunikationsmittel sind tabu. Dann dürfen es zumindest gute Bücher und Essen sein.
Der Österreicher Norbert Sedlacek musste gerade seinen fünften Versuch abbrechen, alle Ozeane nonstop und Einhand zu bezwingen und hat jede Menge Vorräte, die nun in die Schapps der „Minnehaha“ wandern. Besser noch: ein französischer Koch versorgt sie mit 100 Einmachgläsern mit eigens kreierter, lokaler Küche.
Hardcore-Regattasegler schütteln den Kopf über die 100 Kilo an zusätzlichem Gewicht, Neuschäfer zuckt mit den Schultern. „Mein Boot hat ein Leergewicht von 13 Tonnen, da machen 100 Kilo zusätzlich für das Essen und 100 Bücher auch nichts mehr aus“, erzählt sie lachend. Beides, das Essen und die Bücher, seien im Gegenteil in der monatelangen Einsamkeit sehr wertvoll gewesen.
Wenn sie vom Rennen erzählt, verschieben sich die Relationen der Freizeitsegler. Es beginnt mit einer Flaute, auf den ein erwartbarer Sturm folgt. „Es war ein tropischer Sturm, war also nicht so schlimm“, schildert sie 40, 50 Knoten Wind und viel Regen. Der immerhin füllt die Kanister. Denn Wasser für acht Monate konnte keins der Boote bunkern und Entsalzer oder Wassermacher sind verboten. So muss das Wasser gesammelt werden, vielleicht etwas gelblich vom Saharastaub, aber immerhin: Süßwasser. Das höchst sparsam nur zum Trinken und Kochen verwendet wird, für alles andere muss das Meerwasser herhalten. Sie zeigt ein Filmchen von sich selbst, wie sie hinter dem fahrenden Boot hängt für das regelmäßige Bad „Ich habe nur gedacht, wie dumm es wohl aussähe, wenn ich jetzt losließe.“
Ihren Alltag bestimmen Sextant, Uhr und Seekarten. Kochen muss sie dank der guten Versorgung durch den französischen Koch kaum; ihr Zwiebelvorrat soll nahezu unangetastet und wohlbehalten am Ende der Reise wieder dort ankommen, wo sie ihn gekauft hat. Gelegentlich muss sie unter Spi und Windfahnensteuerung in den Mast, einmal tief im Süden auch im kalten Wasser das Unterwasserschiff von Bewuchs befreien. Gut 500 Meilen vor der Küste rettet sie den finnischen Regattateilnehmer Tapio Lehtinen, nachdem sein Boot gesunken war und er 24 Stunden in der Rettungsinsel trieb. Er möchte keinen Tee und nichts zu essen, nur einen Rum. Wenige Tage später steigt er auf einen Frachter um und Kirsten Neuschäfer ist wieder allein.
Als endlich Kap Hoorn erreicht ist, bereitet sie für den Funkanruf beim Leuchtturmwärter auf Kap Hoorn eine längere Erläuterung vor. Doch als sie ihn anfunkt, meldet er sich bereits mit „Hallo Kirsten“. Es ist dieser Kontrast, der das Rennen zu einer besonderen Herausforderung macht: Die Rennleitung und mit ihr die Welt haben sie im Auge, sie selbst wähnt sich vergessen und ist bis auf gelegentliche Funksprüche vollkommen allein. Sie hat ihre „Moitessier-Momente“, sagt sie nach dem Rennen in einem Interview. Am schlimmsten äußern die sich in den Doldrums, als sie wochenlang dahindümpelt und Zwiegespräche mit sich selbst führt: “Kirsten, wir werden hier noch monatelang vor uns hindümpeln, vielleicht sogar Jahre!“ „Hör auf, du spinnst. Wir werden den Wind finden!“
Das tut sie. Es geht nach Hause. Neunzehn Teilnehmer sind bei einem der härtesten Rennen um den Globus gestartet, drei kommen an. Dass sie die erste von ihnen ist, weiß sie erst bei der Einfahrt in den Zielhafen. Ein weiterer, unwirklicher Moment. Er wirkt spürbar nach in den Bildern auf der Leinwand und einem eigens für sie geschriebenen Lied, das den Namen ihre Boots im Titel trägt: „Minnehaha“.
Als sie es abspielt, muss sich auch der eine oder andere toughe Segler heimlich ein Tränchen von der Wange streifen. Einer von ihnen stellt treffend fest: „Es gibt kein Adjektiv für das, was du geleistet hast.“