Ein Arbeitszimmer unweit der Elbe. Am Schreibtisch sitzt ein 75 Jahre alter Herr, vor ihm liegen stählerne Nieten, hinter ihm hängen Konstruktionspläne von Viermastbarken, überall stapeln sich Bücher: Schiffsinventare, nautische Lexika, Abhandlungen über Ewer und alte Frachtsegler.
Seinen Namen muss der Mann gar nicht nennen. Joachim Kaiser ist weit über sein Umfeld hinaus als Retter der „Peking“ bekannt. Und vieler weiterer Schiffe. Als „Ewer-Papst“, wie er mal in der Hamburger Presse genannt wurde. Hier sitzt der Vater diverser Fördervereine zur Erhaltung alter Pötte und Mit-Initiator der Stiftung Hamburg Maritim. Der Grandseigneur der deutschen Traditionsschifffahrt.
Und wer ihm gegenübersitzt, stellt sich nach einer gewissen Zeit unweigerlich eine Frage, die wissenschaftlich noch nicht erforscht wurde. Kann der Hang zu historischen Schiffen im Erbgut verankert sein? Kaiser überlegt auf diese Frage hin einen Moment, dann sagt er: „Ich weiß nicht, woher ich das habe, in der Familie lag es jedenfalls nicht. Für Schiffe hat sich bei uns früher keiner die Bohne interessiert.“
Da stand er also damals, im nach dem Krieg aufstrebenden Hamburg, ein eher mittelmäßiger Schüler, die Mutter Musiklehrerin, der Vater Professor der Zoologie. Auch seine Brüder, Onkel, Nachbarn: Für das Meer, fürs Segeln interessierte sich niemand. Umso unglaublicher die Biografie, auf die Joachim Kaiser heute zurückblickt.
Schiffe, Schiffe, Schiffe. Und was heißt zurückblickt? Pläne von einem berühmten Rahsegler liegen derzeit auf seinem Tisch. Kaiser schreibt an einem Gutachten, muss den Zustand des riesigen Schiffes bemessen, seine Details erfassen. Dann ist da sein eigenes Boot, eine 7-KR-Yacht aus Mahagoni, 1967 gebaut von Matthiessen & Paulsen in Arnis. Er will damit diesen Sommer wieder hoch nach Norwegen.
Sein größtes und wohl bekanntestes Rettungsobjekt liegt heute in Hamburg. Ein Wahrzeichen der Stadt, eine 106 Meter lange Touristenattraktion, die einst mit 62 Meter hohen Masten und 34 Segeln über die Meere zog: die stählerne Viermastbark „Peking“, erbaut 1911 bei Blohm + Voss in Hamburg. Seit 1974 hatte der stolze Windjammer als Museumsschiff in New York vor sich hingerottet – ihn über vierzig Jahre später zurück nach Deutschland zu holen war im Grunde eine Wahnsinnsidee.
Für Joachim Kaiser allerdings hatte die Geschichte mit der „Peking“ schon viel früher begonnen. In den frühen siebziger Jahren hatte er einen Stummfilm über das Schiff gesehen: „The Peking Battles Cape Horn“.
Kaiser war damals noch ein Greenhorn, dafür umso beeindruckter von dem imposanten Schiff – und dem Mann, der den Film im Hamburger Überseeclub vorführte: Irving Johnson. Der Amerikaner hatte die verrückte Idee, die seinerzeit in England aufliegende „Peking“ anzukaufen, sie wieder aufzubauen – und an der Pier des South Street Seaport Museums vor der Skyline Manhattans auszustellen. 1976 war Kaiser einer der ersten Besucher, die das frisch aufgetakelte Schiff bestaunten.
Gut 30 Jahre später allerdings war das Museum pleite. Eine Schicksalsfrage stand im Raum: Was tun mit dem vergammelten Windjammer? Entsorgen? Abwracken? Für Kaiser ein kaum zu ertragender Gedanke.
Für die 2001 gegründete Stiftung Hamburg Maritim begutachtete er – längst kein Greenhorn mehr – den berühmten Flying P-Liner, der einst 34-mal Kap Hoorn umrundet hatte. 2008 kroch er durch den Rumpf des gewaltigen Schiffs, musterte dessen Innenleben und sah massive Schäden.
Die „Peking“ war zum Wrack verkommen, und Kaiser entsetzt. Hätte er nicht noch immer diesen frühen Schwarzweißfilm im Kopf gehabt, er hätte die Besichtigung abgebrochen. Doch vor seinem inneren Auge liefen jene dramatischen Szenen ab, die die Viermastbark zu ihrer Hochzeit zeigten. Die „Peking“ im Sturm, umschäumt von wilder See. Und er machte weiter.
Inzwischen im Vorstand der Stiftung, warnte Kaiser zu Hause dennoch vor der verwegenen Idee, die „Peking“ wieder nach Hamburg zu bringen. Ohne einen zweistelligen Millionenbetrag, so seine Überzeugung, würde sie die Stiftung ruinieren.
Diese erwarb derweil den Hamburger Stückgutfrachter „Bleichen“. Annähernd so groß wie die „Peking“, war das Schiff technisch noch komplizierter. Hoch motivierte Ehrenamtler kamen zusammen, ABM-Kräfte, Sponsoren und Handwerker. Fast zehn Jahre lang biss sich die Truppe die Zähne an der Restaurierung aus. Doch 2015 wurde das 95 Meter lange Schiff – perfekt restauriert – tatsächlich wieder in Fahrt gebracht. Woraufhin Kaiser sich nach nervenaufreibenden Jahren in den Ruhestand verabschiedete, um endlich segeln zu gehen.
Dachte er. Doch ein Jahr später wurde der Stiftung dann die Restaurierung der „Peking“ unter seiner Leitung angetragen. Bund, Förderer, Kuratoren und Kulturbehörde hatten das Projekt „Bleichen“ genau beobachtet und mehrheitlich befunden: Wenn die „Peking“ geholt und gerettet werden soll, dann von diesen Jungs.
Kaiser haderte. Er wusste ja, was auf ihn und alle anderen zukommen würde. Doch wieder spielten sich die Szenen des Films in seinen Gedanken ab. Bis er schließlich doch sagte: „Nun denn, gehen wir es an!“
Ohne Irving Johnson und seinen Film hätte die ,Peking‘ höchstwahrscheinlich nicht überlebt“
Mit seinem eingespielten Team übernahm Kaiser, was er nüchtern als „Projektsteuerung“ bezeichnet. Das Unterfangen dauerte am Ende fünf Jahre, kostete fast 40 Millionen Euro. Heute ist die „Peking“ nicht nur ein Stück deutscher Seefahrtsgeschichte, sondern auch ein Juwel des Hafens. Doch Kaiser ist sich sicher: „Ohne Irving Johnson und seinen Film hätte die ,Peking‘ höchstwahrscheinlich nicht überlebt.“
Die „Peking“ ist letztlich nur die Spitze des Eisbergs. Joachim Kaiser blickt mittlerweile auf über 40 Jahre zurück, die gespickt sind mit dem Auffinden, Begutachten und Restaurieren alter Schiffe. Bei komplexen Operationen kooperierte er häufig mit Sachverständigen und Werftexperten, holte Bootsbauer und Handwerker hinzu.
Doch meist war er es, der die Fäden zog. Wie ein Dirigent, vor dessen Pult alte Schiffe zum Leben erweckt werden. Schwimmendes Kulturgut, das irgendwo auf der Welt verstreut lag und das Joachim Kaiser wieder zu einem sichtbaren maritimen Erbe Deutschlands zusammengeführt hat – gemeinsam mit vielen Weggefährten, wie er betont. Mit Jugendlichen, Bootsbauern und Unterstützern aller Art, die sich engagierten und für die Boote brannten.
Die Liste all dieser Schiffe ist lang. Sie füllt ganze Bücher, die sich mit der Historie und den Details der alten Fahrzeuge befassen. Schon 1974 ging es damit los, dass der gebürtige Hamburger an der Restaurierung historischer Schiffe mitwirkte. Vier Jahre lang wurde die „Johanna von Neumühlen“ wieder aufgemöbelt, ein 64 Tonnen schwerer Fracht-Ewer mit Holzboden, gebaut 1903 von Jos. Thormählen in Elmshorn. Joachim Kaiser übernahm die Bauaufsicht, kümmerte sich eigenhändig um die Schmiedearbeiten und den Bau der Seitenschwerter.
Ohne Atempause begab er sich ans nächste Projekt, die „Herrmann von Wewelsfleth“. Der letzte noch erhaltene hölzerne Fracht-Ewer, erbaut 1905 auf der Werft von Carsten Witt in Wewelsfleth, war nur noch ein trauriges Wrack. Kaiser entdeckte das gebeutelte Schiff in Amsterdam, der Heimatverband für den Kreis Steinburg erwarb es, Kaiser überführte es als Deckslast zurück an die Elbe. Es folgten: Aufmaß, Rekonstruktionszeichnungen und Bauaufsicht.
So ging es weiter, Schiff für Schiff. Hochseefischkutter, Heringslogger, stählerne See-Ewer, Frachtschoner, Zwei-Schrauben-Dampfer und hölzerne Zollkreuzer – historische Arbeitsschiffe aller Kategorien sind es, die Kaiser vor dem Abdriften in die Versenkung bewahrte.
In den frühen Jahren arbeitete er zudem als Redakteur bei der YACHT, 1974 kam sein erstes Buch heraus: „Segler im Gezeitenstrom – Die Biographie der hölzernen Ewer“. Das Schreiben und die Schiffe waren für ihn eine fruchtbare Ergänzung. Recherchen, maritime Feldarbeit und minutiöse Beschreibungen, das alles ging Hand in Hand und bedeutete für alle Beteiligten eine Symbiose. Das erste Buch wurde zum seltenen Referenzwerk, ausgestattet mit kolorierten Federzeichnungen und penibel recherchierten Details der Boote.
Eine Traditionsschiffs-Szene begann sich gerade erst zu formieren, als Kaiser seine ersten Arbeiten veröffentlichte. Und dennoch fanden sich viele Leser, die das Faible für alte Schiffe schon damals teilten. Seine wichtigste Arbeit, sagt er heute, sei das Büchlein „Deutsche Segelschiffe – Register über den Restbestand 1980 bis 1986“. Um die akribische Arbeit leisten und das Druckwerk herausgeben zu können, bekam er damals Unterstützung von der Krupp-Stiftung und deren segelbegeistertem Vorstand Berthold Beitz. Kaiser hatte sich erstmals um Mittel von außen bemüht. Er bekam schließlich 20.000 Mark – und erfuhr wie zur Bestätigung am eigenen Leib, welche kulturelle Bedeutung historischen Booten zuteil werden konnte.
Wie viel Arbeit es allerdings machte, die bedrohten Schiffe in aller Welt aufzustöbern, das ahnte damals niemand. E-Mails und Internet gab es nicht. Kaiser schrieb Hunderte von Briefen, er telefonierte sich die Finger wund, ging auf Reisen, schlich durch Werften und Archive, tuckerte über einsame Flussarme. Die Boote waren sein Leben, theoretisch, praktisch. Die oft jahrelangen Restaurierungsprojekte kamen freilich hinzu, obendrein schrieb er über Schiffe, über Seefahrt, über Kapitäne.
Kaiser sitzt etwas versonnen in seinem Arbeitszimmer, als er all die Jahre noch einmal vor seinem geistigen Auge ablaufen lässt. „War schon der Wahnsinn“, sagt er heute. „Der Begriff Burn-out existierte damals noch nicht, aber ich denke, ich war manchmal kurz davor.“
In einer biografischen Rückblende beschreibt er seine maritime Sisyphusarbeit selbst so: „Viele der in den 1970er Jahren noch existenten Schiffsrümpfe waren kaum noch als Segler erkennbar, sie fuhren entweder als umgebaute Küstenmotorschiffe und Binnenschiffe oder fristeten als Auflieger und Hausboote ihr Dasein. Meine selbst gewählte Aufgabe war es, diese geschichtlichen Objekte, egal wo und in welchem Zustand sie sich befanden, zu inventarisieren und darüber anschließend ein Register zu veröffentlichen. Diese Aufgabe wuchs sich aus zu einem Vorhaben von beträchtlichen Ausmaßen, verbunden mit weiten Reisen und internationaler Korrespondenz.“
Niemand spreche also von einem Hobby. Schiffe waren für Joachim Kaiser schon immer beinharte Passion. Beruf und Berufung zugleich. Und er bekam in den folgenden Jahren nicht nur zwei Töchter und inzwischen auch Enkelkinder: Auch die Boote wurden immer größer. Um vor allem die charakteristischen Segelschiffe der Elbe zu retten, scharte Kaiser früher zunächst die „Freunde des Gaffelriggs“ um sich, einen Haufen von „Alternativen und Nonkonformisten“, die sich in den Kopf gesetzt hatten, nicht Kirchen, Windmühlen oder alte Bauernhäuser, sondern eben Schiffe als Kulturgut zu bewahren.
Kaiser aber führten die Schiffe zu weiteren Aufgaben. Und betreute später historische Großprojekte ganz anderen Kalibers. Er restaurierte Hafenkrane und genietete Bogenbrücken, übernahm während seiner Tätigkeit für die Stiftung Hamburg Maritim obendrein die Aufgabe, die 50er Kaischuppen im Freihafen wieder herzurichten. Ein Generationenprojekt: Die historischen Lager und Kontorgebäude für den Stückgutumschlag waren teilweise einsturzgefährdet – beängstigend große Holzbauten aus dem letzten Jahrhundert mit einer Fläche von 35.000 Quadratmetern.
Doch die Gebäude rochen seltsam nach Seefahrt, nach überseeischen Gewürzen. Nach jenem unwiderstehlichen Odeur, das nur maritime Trouvaillen aus vergangenen Tagen ausströmen können. Zu den Schuppen zählt auch das Schaudepot des Hafenmuseums, in dem über 10.000 Objekte ausgestellt sind zu den Themen Hafenarbeit, Güterumschlag, Schiffbau und Revierschifffahrt. Zur Stiftung Hamburg Maritim gehören heute aber vor allem 14 erhaltene Boote, die in verschiedenen Traditionsschiffhäfen zu bestaunen sind.
Fragt man Joachim Kaiser nach einem herausragenden Schiff, nach einem ganz besonderen Erlebnis in all diesen schiffsgefüllten Jahren, kommt er auf ein spezielles Projekt zu sprechen: die „Undine von Hamburg“, ein stählerner Fracht-Motorschoner, der 1931 auf der Werft von Gebr. Niestern im niederländischen Delfzijl gebaut wurde. Kaiser und seine damalige Frau kauften das heruntergekommene Schiff mit eigenen Mitteln. Keine Kleinigkeit: Der Frachter war mit 96 Tonnen BRZ vermessen und konnte 70 Tonnen Ladung aufnehmen. Kaiser übernahm die Rekonstruktionszeichnungen und die gesamte Projektleitung: Schiffbau-, Schmiede-, Tischler- sowie Takelarbeiten wurden in Eigenleistung vollbracht.
Nachdem das Schiff vom Germanischen Lloyd und der See-Berufsgenossenschaft abgenommen und als einziges kommerzielles Segel-Frachtschiff unter deutscher Flagge klassifiziert worden war, hatte Kaiser damit etwas ganz Besonderes vor: Auf der „Undine“ sollten fortan Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen fahren, um den Unglücksraben wieder eine Perspektive zu eröffnen.
Sozialarbeit zur See. Und es gab Bedarf. Inzwischen waren die achtziger Jahre angebrochen. Um solche Jugendarbeit bieten zu können, gründete Kaiser den Hamburger „Gangway e. V.“, unter dessen Ägide der alte Zweimastschoner zwei Jahrzehnte lang Fracht durch halb Europa transportierte.
Jeweils sechs Monate dauerten die Fahrten. An Bord: vier pädagogisch geschulte Segler und Mitarbeiter sowie acht Jugendliche, die als angemusterte Decksleute mitfuhren und unterwegs eine vollständige seemännische Grundausbildung erhielten. Das alte Schiff sollte ihnen den Weg in das Berufsleben ebnen. Sieben Jahre fuhr Kaiser auf der „Undine“ selbst als Kapitän; das dafür erforderliche Patent hatte er schon vorher erworben. „Diese Zeit hat mich geprägt“, sagt er. „Es war weiß Gott nicht immer leicht, aber es war das, wofür mein Herz schlug.“
Kaisers Lebenslauf liest sich wie ein Beweis dafür, was sich mit Schiffen, insbesondere Segelschiffen, alles anstellen lässt, wenn einer nur ausreichend kinetische Energie mitbringt. Die Exemplare, die ihr Fortleben Joachim Kaiser verdanken, dienten schon als Bildungsstätte und soziales Auffangnetz, sie fuhren Fracht, segelten über die Meere und schmücken bis heute diverse Museumshäfen. Windjammer wie die „Peking“ locken jedes Jahr Zigtausende Besucher an und gehören inzwischen zum Hamburger Stadtbild wie der Fisch aufs Fischbrötchen. Anders gesagt: Mehr kann ein Mensch für die Seefahrt kaum tun.
Die Stiftung Hamburg Maritim bestellte Kaiser als ehrenamtliches Vorstandsmitglied, der Senat der Freien und Hansestadt verlieh ihm die Biermann-Ratjen-Medaille wegen seiner kulturellen Verdienste. Und dennoch bleibt eine Frage offen: Woher seine enorme Verve für die Schiffe? Woher dieser Tick, der zum Lebensinhalt wurde?
Kaiser steht auf, geht die Treppe hoch, kommt wieder runter. Er hält ein kleines rotes Buch in Händen. Schlägt man es auf, ist das Wappen Hamburgs zu sehen, daneben ein stolzer Fünfmaster, der unter vollen Segeln übers Meer fährt und von Hand gezeichnet ist. Darüber steht in krakeliger Schrift: „Segelschiffahrt – Joachim Kaiser“.
Das Buch ist eine Art Kompendium seiner frühen Träume, es stammt aus dem Jahr 1958, da war er gerade elf Jahre alt. Fotos von berühmten Segelschiffen hatte er damals behutsam in das Buch geklebt, die „Pamir“, die „Passat“ – dazu Aufnahmen von seinem ersten eigenen Boot: dem „Woterküken“. Ein winziger Knickspanter mit Steckmast und Lateinersegel, den er einem Freund abgeschwatzt hatte.
„Ein total rudimentäres Jugendboot“, erinnert sich Kaiser, der damals auch noch ganz andere Sachen in seinem frühen Marschgepäck hatte: Bücher. Gorch Focks „Seefahrt ist not!“ hatte er verschlungen, den „Seeteufel“ von Graf Luckner und das „Große Buch der Seefahrt“.
Damit war seine Sehnsucht entfacht. Der Junge wollte zur See fahren, wollte segeln, wollte Abenteuer – auch wenn die Familie ihn dafür verständnislos anschaute. Mutter und Vater hatten andere Pläne für den Filius. Eigentlich sollte er Lehrer werden.
Mit 13 segelte er auf der Alster, fuhr mit seinem „Woterküken“ die Alsterläufe hinauf bis in den Isebek- und Eilbekkanal. Manchmal nahm er das Segel ab, stakte das Boot durch die schmalen Wasserläufe „wie ein Flößerknecht“. Anstatt Schularbeiten zu machen, nähte er Segel, baute ein Cockpit ins Boot und ein Setzbord.
Eines Tages bekam er einen Motor geschenkt, einen 2,5-PS-König-Benziner als Seitenborder. Das Boot war nun beweglicher, agiler auch bei widrigen Windverhältnissen und Strömungen. Und entgegen allen Versprechen seinem Vater gegenüber, sich nicht auf größere Gewässer zu begeben, tat er genau das: Der kleine Kaiser schnappte sich Tidenkalender und Elbatlas und segelte bald hinaus auf den Strom. Oberelbe, Unterelbe, mit der Tide durch den Zollkanal. Er hatte ein Zelt dabei, Spirituskocher, Ravioli, von einer Baustelle hatte er sich eine Petroleumlampe gemopst.
In diesen Jahren holte er sich sein eigenes Abenteuer. Es waren die frühen sechziger Jahre, die Gewässer im Norden Deutschlands noch halbwegs wild und frei. Kaiser war ein Huckleberry Finn der Elbe. Er zog sein flaches Schiff an die Schilfufer, schlief auf den menschenleeren Elbinseln, segelte in verschlickte Häfen, sammelte Bernstein auf der Brammerbank und döste im Sand neben seinem Bötchen. „Das Ding war gerade mal drei Meter lang, aber ich habe damals jede Menge damit angestellt“, erinnert sich Kaiser.
Über sechzig Jahre später sitzt er in seinem Arbeitszimmer, als wäre das alles erst gestern gewesen. Seine ersten Bootstouren, seine frühen Abstecher auf eigene Faust. Sein Kurs in die eigene Freiheit. „Das Boot hat mich erzogen, das war wie ein früher Reifeprozess. Ich war für das ,Woterküken’ verantwortlich – und für mich selbst.“
Als der Vater eines Tages herausbekam, dass sein Sohn doch auf die Unterelbe hinausgefahren war, gab es ordentlich Ärger. Und striktes Segelverbot. Nun, wie man weiß, hat es nichts genützt. Der Vater hätte es wissen müssen. Du kannst den Jungen aus dem Boot verbannen, aber nicht das Boot aus dem Jungen.
Und Joachim Kaiser ist so einer. Er hat Schiffe im Blut.