Eine große Nordsee- sowie jüngst eine Ostseerunde habe ich absolviert. Und auch sonst segle ich seit inzwischen mehreren Jahren leidenschaftlich viel und gern einhand. Doch kann ich auch einen Ozean allein meistern? Oder gar die ganze Welt? Oder anders gefragt: Steckt genug von einem Bernard Moitessier oder einem Wilfried Erdmann in mir, um ein solches Vorhaben durchzuziehen? Schließlich will ich 2027 bei der Global Solo Challenge starten. Das aber heißt, mit langen Distanzen und extremen Situationen zurechtzukommen. Kann ich das? Das lässt sich nur auf eine Art herausfinden.
Es ist 6.30 Uhr am Morgen des 11. Oktober, als ich in Workum die Leinen löse und mich aufmache in mein bislang größtes Abenteuer als Einhandsegler: eine große Nordatlantikrunde. Bis zu diesem Zeitpunkt weiß niemand von meinem Vorhaben. Ich wollte es nicht kundtun, bevor ich nicht wirklich den ersten schwierigen Schritt geschafft habe: loszufahren.
Meine Gefühle könnten zwiespältiger nicht sein. Es überwiegen aber zum Glück die Freude und Neugierde auf die kommenden Monate. Dennoch lässt sich eine gehörige Portion Respekt und auch Angst vor dem Kommenden nicht leugnen. Was passiert, wenn …? Mein Boot ist eher klein und mit 3,5 Tonnen Gewicht auch leicht. Und auf der Nordsee herrscht längst Herbstwetter. Bedeutet, auf meinem Weg durch den Ärmelkanal und über die Biskaya werde ich bei Starkwind segeln müssen, statt in sicheren Häfen zu verharren. Warten ist um diese Jahreszeit keine Option.
Nach einem letzten Stopp in Scheveningen geht es in einem Rutsch bis Le Havre. Etwas zeitversetzt folgt mir von Amsterdam aus mein Seglerfreund und Mini-Transat-Finisher Andreas Lindlahr auf seiner Pogo 36. „Wir konnten ja schlecht im Hafen bleiben, nachdem du mit deinem kleinen Boot bei dem Wetter ausgelaufen bist“, sagt er mir, als ich ihn später in Le Havre treffe. Dort ist gerade die internationale Segelelite versammelt, um auf den Start des Transat Jacques Vabre zu warten. So lange mag ich nicht bleiben, bringe lieber rasch die nächsten 70 Seemeilen bis Cherbourg hinter mich. Bei starken böigen Winden aus Süden begegne ich unterwegs mehreren Imoca- und Class-40-Yachten, die stolz und elegant an mir vorbeifliegen.
Über Roscoff geht es anschließend nach Camaret Sur Mer und Brest. Dort wettere ich den Jahrhundertsturm „Ciaran“ im Hafen ab, eine schlaflose Nacht mit Böen bis 80 Knoten. Ich komme zum Glück mit dem Schrecken davon.
An der Küste am Atlantik zieht bereits der Winter auf. Mich überkommt ein mulmiges Gefühl bei dem Gedanken, bald die Biskaya zu queren. Unter den hier wartenden Seglern, die ebenfalls gen Süden wollen, bildet sich eine Whatsapp-Gruppe, die „Biskay Hopefuls“. Ein Engländer, Paul, wartet schon sehr lange. Er hat infolge von Reparaturen mehrere Wetterfenster verpasst und will nun schnellstmöglich los. Meine Ungeduld ist aber noch größer. So bin ich der Erste, der spontan am 16. November Camaret verlässt. Im Wissen, auf halber Strecke etwa einen Tag lang stärkeren Wind von vorn zu bekommen, danach aber wieder gute Bedingungen, lasse ich die „Biskay Hopefuls“ winkend am Steg zurück.
Am Pointe du Raz, jenem berüchtigten Felsenkap samt vorgelagerten Klippen, habe ich die Strömung mit mir, als das Tageslicht allmählich schwindet und sich eine mondlose Nacht wie ein schwarzes Tuch übers Schiff legt. Später kommt eine neue Dünung hinzu, Wellen und Strömung laufen entgegengesetzt und schütteln die „Queen“ heftig durch. Der Wind nimmt zu, meine Unruhe ebenfalls. Innere Stimmen warnen mich, um diese Jahreszeit dieses berüchtigte Revier zu passieren. Mir wird übel. Seekrank zu werden darf ich mir allerdings hier und jetzt nicht erlauben. Ich verabreiche mir eine Vomex und schaffe es, ohne mich zu übergeben, in die erste Nacht zu segeln.
Aus Situationen wie dieser herauszukommen, das ist vielleicht die wahre Kunst des Einhandsegelns. Mir hilft dabei die Erfahrung, Ähnliches früher schon einmal überstanden zu haben. Ich schließe die Luke und lasse Dunkelheit, Wind und Lärm draußen und lege meine Matratze auf die Bodenbretter, um etwas Erholung zu finden. Gedanken an Fischer ohne AIS, an die Wellenhöhe über dem Kontinentalschelf oder treibende Container blende ich aus. „Ich bin ruhig, entspannt und gelöst!“ Diese Worte aus dem autogenen Training wiederhole ich, bis der Schlaf als Beweis des Selbstbetrugs einsetzt.
Auf diese Weise gelange ich mit Schlafphasen von bis zu 30 Minuten durch die erste Nacht und beginne den Morgen mit einem Instantkaffee und gefriergetrocknetem Porridge aus der Tüte. Anschließend greife ich zu dem Buch, das meine Freundin mir mitgegeben hat: „Gentleman über Bord“. Nach ein paar Seiten lege ich es wieder beiseite – gute Lektüre, aber falscher Ort. Wie vorhergesagt dreht der Wind. Die kommenden 24 Stunden bläst er meiner „Queen“ mit über 30 Knoten auf den Bug. Mit gerefftem Vorsegel läuft sie kaum Höhe.
Als ich mitten in der Nacht die AIS-Signale zahlreicher Frachter entdecke, entscheide ich mich für eine Wende. Auf dem Tracker wird meine Kurslinie später aussehen wie das Matterhorn in der Mitte der Biskaya. Die „Queen“ und ich halten tapfer durch. Einmal aber knallt der Rumpf derart wuchtig und laut in ein Wellental, dass ich mich wundere, dass alles heil bleibt. Am dritten Tag meiner Biskayaüberquerung dreht der Wind zurück und schwächt sich ab. In einer leichten Brise erreiche ich die Nordwestküste Spaniens. Beim nächtlichen Einlaufen in die Marina von A Coruña fällt die Anspannung endgültig ab.
Mit wenigen Stopps geht es nun weiter entlang der spanischen und portugiesischen Küste. Meine Sorge vor einem Orca-Angriff ist begrenzt, ich vertraue auf die rote und damit angeblich abschreckende Antifouling-Farbe unterm Rumpf. Zudem höre ich, dass die Attacken sich Richtung Gibraltar verlagert haben. Fischernetze bereiten mir mehr Kopfzerbrechen. Beim Verlassen von Muros bleibe ich tatsächlich in einem hängen. Ich stoppe sofort auf, rolle das Vorsegel ein und habe Glück: Das Netz, das sich am Ruderblatt verfangen hatte, rutscht nach unten ab.
Die Flussmündung bei Porto erreiche ich bei einsetzendem Nebel. Beim Passieren des roten Leuchtfeuers zeichnet sich auf der Kaimauer die Silhouette eines Anglers ab, eine unwirkliche Szene, wie in einem Edgar-Wallace-Film. Vorsichtig motore ich durchs enge Fahrwasser bis zum Hafen. Zeit für eine etwas längere Pause. In den nächsten Tagen erkunde ich mit meinem Klapprad die Stadt. Abends schlendere ich durch die Gassen des Fischerdorfes Afurada nahe der Marina. Vor bunten Häusern hängt Wäsche zum Trocknen, vor einigen Eingängen sitzen ganze Familien auf Plastikstühlen und unterhalten sich lautstark, auf den Grills der Restaurants brutzelt Fisch, es riecht nach Holzkohle. In der Bar „Os Rolas“ schauen einige Männer eine Fußballübertragung und trinken Super Bock. Ich bestelle Portwein. Es gefällt mir hier; ich könnte bleiben. Doch mein Plan ist ein anderer.
Vorbei an Lissabon geht es in einem langen Schlag bis Portimao. Hier an der Südspitze Portugals muss ich mich endgültig entscheiden, ob ich mir und dem Boot eine Weiterfahrt zutraue oder mit einer Ausrede ins Mittelmeer abdrehe. Immerhin sind es über 500 Seemeilen bis zu den Kanaren. So eine lange Strecke bin ich nonstop einhand noch nie gesegelt. Mit Kurs Süd ist meine Entscheidung am 13. Dezember gefallen. Bei 6 Beaufort und größer werdenden Wellen bleibt das europäische Festland achteraus. Ich werde es monatelang nicht wiedersehen..
Vier Tage benötige ich bis Lanzarote. Nach anfänglich guten Etmalen bleibe ich kurz vor der Insel in einer Flaute hängen. Eine erste Übung in Geduld. Dann weiter nach Gran Canaria. In der „Sailors Bay“ lauert eine unerwartete Verlockung: Die Hafenbar ist Treffpunkt von Abenteurern und Weltenbummlern. Viele hoffen auf eine Mitsegelgelegenheit in die Karibik. Ich wehre alle Crewanfragen ab. Zwei weitere Wochen vergehen mit letzten Bootsvorbereitungen und – wieder einmal – dem Warten auf das passende Wetter. Mit jedem Tag steigt die Vorfreude auf die Weite des Atlantiks. Aber auch die Anspannung.
Sie löst sich am 22. Januar, dem Tag meines Aufbruchs. Bei starkem Wind aus Nordost segle ich raumschots an der Küste Gran Canarias entlang gen Süden. Die Windfahne steuert, ich verliere mich in Gedanken. Ohne Halt auf den Kapverden habe ich vor, bis Martinique zu segeln. Doch ist das wirklich das, was ich will? Oder geht es mir in Wahrheit um Anerkennung und Aufmerksamkeit, zählbar an Klickzahlen und Kommentaren auf meinem YouTube-Kanal? Ich versuche, ehrlich mit mir selbst zu sein, finde aber so recht keine Antwort. Schließlich sage ich mir: „Philipp, du musst es einfach herausfinden. Wenn du das hier nicht aus Liebe zum Segeln machst, dann kannst du auch abbrechen, dein Boot verkaufen, und das war es dann!“ Spätestens als Tage später die Kapverden achteraus sind, brauche ich mir ums Abbrechen keine Gedanken mehr zu machen. Die nächste Möglichkeit böte sich erst wieder auf der anderen Seite des Atlantiks.
Mit jedem Tag auf dem Meer verwandle ich mich, werde vom Land- zum Bootsmenschen. Essen, segeln, schlafen und wieder von vorn, in diesen Rhythmus finde ich mich mehr und mehr hinein. Ich weiß von früheren langen Seepassagen, dass es Zeit braucht, bis die anfängliche Unruhe schwindet und ich ankomme auf See. An diesem einzigartigen Ort. In diesem fremden Lebensraum. Ich bin hier nur Gast, kann nur auf meinem kleinen, gerade einmal neun Meter langen Gefährt überleben, das mich über Wasser hält.
Ich versuche, die Stunden, in denen ich wach bin, zu strukturieren. Feste Abläufe helfen: der Kaffee am Morgen, die warme Mahlzeit mittags, eine Tasse Tee am Nachmittag. Abends Sport. Die Zeit dazwischen fülle ich mit Lesen, Logbuch schreiben, Sudokus lösen. So erreiche ich die Zone der Passatwinde, kann endlich Kurs West steuern. Nun geht es nicht nur gefühlt schneller voran. Nach zweieinhalb Wochen bricht eine neue Phase an. Grund ist das Unterschreiten der 1.000- Seemeilen-Marke bis zum Ziel. Spontan verkleide ich mich als Pirat und feiere die Dreistelligkeit euphorisch vor der Gopro-Kamera. Nur noch 999 Meilen voraus! Auch wenn viele Segler so eine Distanz nicht im Jahr segeln, ist es für mich der Auftakt zum Endspurt.
In den verbleibenden Tagen male ich mir oft die Ankunft auf Martinique aus. Ich stelle mir grüne Berghänge, Palmenstrände und türkisfarbenes Wasser unter einem wolkenlosen Himmel vor. Die Realität sieht anders aus. An Tag 27 auf See nimmt erst die Sicht mehr und mehr ab, dann fällt ein Squall, eine heftige Schauerböe, über mich und mein Boot her. Erst kurz vor Mitternacht erreiche ich im Stockdunkeln das Ankerfeld von Sainte Anne. Hunderte weiße Rundumlaternen geben mir eine erste Ahnung, dass es mit der Ruhe und dem Alleinsein nun vorbei ist. Ich bringe den Anker aus, öffne noch ein Bier und falle dann in tiefen Schlaf.
Meine Ankunft ist nicht unbemerkt geblieben. Mathias und Luisa von der „Wanderling“ laden mich zum Frühstück ein. Mathias hatte ich als Skipper auf einem Charterboot in Frankreich kennengelernt. Nun ist er gemeinsam mit seiner Freundin auf einem kleinen Boot und mit bescheidenen Mitteln auf Langfahrt. Die beiden sind nicht die einzigen Bekannten, die ich in den folgenden zwei Monaten treffe. Zwei Monate, in denen ich mal allein, zwischendurch aber auch in Begleitung mehrere Inseln anlaufe. Erst Mitte April beginnt die Zeit für eine sichere Rückreise nach Europa über den Nordatlantik.
Saint Lucia, Bequia, Mustique und die Tobago Cays finden nach und nach ihre Einträge ins Logbuch. Dort finde ich auch das ersehnte türkisfarbene Wasser, sogar Schildkröten schwimmen neben meiner „Queen“. Beim Schnorcheln am Außenriff kommen Haie und Barrakudas in Sichtweite heran. Abends dann in Gesellschaft einer befreundeten Crew das hier schon fast obligatorische Lobster-Essen am Strand. Zurück auf Martinique, treffe ich einen alten Bekannten. Stefan will mit seiner Oceanis 38 ebenfalls bald zurück nach Europa, auch er ist allein an Bord. Parallel segeln wir Richtung Norden nach Sint Maarten, dem Startort unserer zweiten Atlantikquerung. Dort treffen sich viele Segler mit demselben Etappenziel: den Azoren.
Die Zeit bis zur Abfahrt nutze ich für Wartungsarbeiten und Einkäufe, ich arbeite an meinen Filmen, an den Abenden trifft man sich im „Lagoonies“. Schließlich wird es ernst. Stefan, die größere „Saarena“ und ich verlassen die Simpson Bay mit Kurs Nord. Schon nach wenigen Seemeilen schlägt das Wetter um, fallen Squalls ein, laufen Wellen übers Deck. Aus dunklen Wolken zucken Blitze. Erst am Horizont, dann über uns. Man spürt förmlich die Energie, die in der Luft ist.
Die „Saarena“ ist rasch enteilt, Stefan und ich bleiben einige Tage zusammen. Als wir in eine Flaute geraten, wirft er den Motor an und zieht ebenfalls davon. In der Windstille mitten auf dem Atlantik blase ich mein SUP-Board auf und paddle hinaus. Aus einiger Entfernung gelingen mir einmalige Aufnahmen der „Queen“ im weiten bleiernen Nichts.
Auf die Ruhe folgt der Sturm. Er bildet sich westlich der Azoren. Mein Freund und Wetterberater Heinz-Dieter navigiert mich um das Schlimmste herum, aber zwei Fronten mit Windgeschwindigkeiten bis 44 Knoten und Wellen über drei Meter Höhe muss ich überstehen. Für einige Stunden laufe ich unter Treibanker ab. Dann gehe ich zurück auf Kurs. Erst in „Peter’s Café Sport“ auf den Azoren kann ich das Erlebte Revue passieren lassen, gemeinsam mit Stefan. Wir sind ein paar Tage vor Horta wieder zusammengekommen und Seite an Seite eingelaufen – ein tolles Erlebnis.
Auf den Azoren feiern alle die Ankunft in Europa. Dabei liegt voraus noch eine lange, schwierige Etappe, erst mit Flaute, dann mit einer Starkwindfront. Erneut muss ich den Treibanker ausbringen. Mein altes Boot läuft tapfer vor den Wellen ab. So nähern wir uns dem Englischen Kanal. Ich will schon aufatmen, da passiert es. Ich liege im Salon und schreibe meiner Tochter eine Nachricht. Urplötzlich holt das Boot immer weiter über. Gegenstände fliegen durch die Kajüten. Erschrocken warte ich auf den Moment, dass sich die „Queen“ wieder aufrichtet. Das tut sie, wenn auch gefühlt erst nach einer Ewigkeit. Es ist so etwas wie der dramatische Schlusspunkt meiner Reise. Er beschäftigt mich noch eine ganze Weile, vor allem, weil der Knockdown ohne jede Vorankündigung kam.
Bleibt der Epilog: Entlang der englischen, dann der französischen, belgischen und niederländischen Küste erreiche ich IJmuiden. Westlich von Zeeland zieht erneut Starkwind auf. Ich bin erschöpft, mein Geist ist müde. Die letzten Meilen werden lang und länger. Irgendwann ist es vollbracht. Kurz vor den schützenden Molen werde ich von einer letzten Welle verabschiedet, die übers Boot läuft. Dann plötzlich Ruhe. Ich finde einen Platz in der Marina, die ich acht Monate zuvor verlassen hatte. Äußerlich bin ich derselbe wie damals. Im Innern aber keimt leise eine Ahnung auf, dass mich die Reise verändert, dass sie Unsicherheiten genommen und Antworten geliefert hat. Auch wenn ich im Moment der Ankunft das alles noch gar nicht richtig fassen kann.