Martin Hager
· 20.08.2023
Um 21.36 Uhr, irgendwo mitten auf der Ostsee zwischen der dänischen Hafenmetropole Aarhus und dem schwedischen Helsingborg, ereignet sich in der Lounge auf dem Lidodeck eine Szene, auf die wir nicht vorbereitet sind. Während „Sea Cloud Spirit“ gutmütig, beständig und unter Motor gegen 7 Beaufort aus Ostsüdost anstampft, reiht sich hier oben auf dem gediegenen dritten Deck der aus 20 Crewmitgliedern bestehende Shanty-Chor neben einem Steinway-Flügel auf und beginnt leidenschaftlich und durchaus unterhaltsam ein Best-of der berühmtesten Seemannslieder zu schmettern. „I am sailing, home again, ’cross the sea ...“ Ein Großteil der 42 eingecheckten Gäste hat sich zu diesem Happening in der holzgetäfelten Lounge mit gemütlichem Art-déco-Touch versammelt, genießt Cocktails des aufmerksamen Barkeepers Anton Campos und singt – dank ausgehändigten Liedzetteln – sogar mit.
Drinks und Unterhaltung sind – entgegen unserem ersten Eindruck – nicht der Fokus der „Sea Cloud Spirit“. Und doch runden hin und wieder attraktive Kunst- und Kulinarikprogramme den vielfältigen Reiseplan ab. So spielt beispielsweise der Starpianist Igor Levit in der Lounge, oder der kreative Küchenchef zaubert auf einer Zehn-Tage-Reise Menüs inspiriert von Museen und Kunstwerken an Land. „Viele unserer Gäste sind langjährige Segler, die den Komfort an Bord unserer Schiffe lieben, aber auch viel Wert darauf legen, dass wir, wann immer möglich, die Segel setzen“, erzählt Sea-Cloud-Cruises-Pressereferent Wolfgang Heumer. Natürlich lässt es sich nicht verhindern, dass der stramme Reiseplan und Wetterbedingungen mitunter kollidieren und es nötig wird, einen Tag zu motoren, um rechtzeitig am nächsten Hafen zu sein. Das Landprogramm will schließlich auch abgehakt werden.
Der 85-köpfigen Crew ist es anzumerken, dass sie Spaß bei ihrer Arbeit hat und sie menschlich untereinander harmoniert. „Das Bild täuscht nicht“, so Heumer, der schon auf zahlreichen Reisen mit an Bord war. „Die Mannschaft freut sich, wenn sie Gäste verwöhnen kann.“ Bis es so weit kommen konnte, verging allerdings viel Zeit. Zwölf Jahre dauerte die Fertigstellung der 138 Meter langen „Sea Cloud Spirit“, deren Kiel 2008 auf der Werft Factoria Naval Marin im spanischen Vigo gelegt wurde. Zwei Jahre später ging die Werft in den Konkurs und der Weiterbau wurde eingestellt.
Erst 2018 nahm die Konstruktion wieder Fahrt auf, nachdem Sea Cloud Cruises den Auftrag zur Fertigstellung an die ebenfalls in Vigo ansässigen Schiffbauer von Metalships & Docks vergeben konnte. Reibungslos weiterlaufen sollte der Bau aber erneut nicht: Die Corona-Pandemie sorgte für erhebliche Verzögerungen, auch aufgrund der strikten Ausgangssperren in Spanien. Die ursprünglich für August 2020 vorgesehene Taufe und Jungfernfahrt wurden abgesagt, ebenso wie ein neuer Termin für die erste Reise im April 2021. „Sea Cloud Spirit“ wurde schließlich am 29. April 2021 fertiggestellt, mehr als ein Jahrzehnt später, als zu Beginn geplant.
Klasse statt Masse war, wie auch bei den zwei deutlich kleineren Schwesterschiffen aus der Sea-Cloud-Flotte, das Credo. „Sea Cloud Spirit“ verfügt über vier Decks mit vielfältigen Einrichtungen für die Passagiere: Hauptdeck, Promenadendeck, Lidodeck sowie Kapitäns- und Sonnendeck. Die insgesamt 69 Gästekabinen verteilen sich auf drei Decks. Auf dem Promenadendeck befinden sich neben der Rezeption und dem eleganten Restaurant mit 270-Grad-Aussicht übers Heck 25 Suiten mit privatem Balkon. Ein Deck tiefer, auf dem Hauptdeck, liegen eine Krankenstation, eine Boutique sowie der Wellness- und Spa-Bereich inklusive Dampfbad, Sauna, Friseursalon und Ruhebereich. Hier kann auf der Steuerbordseite zudem eine Badeplattform heruntergeklappt werden, von der aus Wassersportaktivitäten möglich sind.
Auf dem Lidodeck brachte das Hamburger Planungsbüro Partner Ship Design vorn eine Bibliothek unter, aus der man einen fantastischen Blick aufs Vorschiff genießt. Gediegener lässt sich kein Buch lesen. Dahinter schließt sich die Lounge inklusive Flügel und Bar an, im Heckbereich ergänzt eine offene Bar mit Bistro das Angebot. Hier werden im überaus regelmäßigen Abstand Snacks, Kaffee und Getränke serviert. Das Kapitäns- und Sonnendeck darüber ist zum großen Teil offen, in den Aufbauten im vorderen Abschnitt findet sich neben der Brücke und der achterlich angrenzenden Kapitänskabine plus -büro auch ein Gym für die Gäste. „Auf unserer 17 Tage dauernden Atlantiküberquerung wurde der Fitnessbereich rege frequentiert“, verrät Wolfgang Heumer schmunzelnd. „Das liegt wahrscheinlich auch am vorzüglichen wie regelmäßigen Essen an Bord.“ Die Passagierbereiche sind neben einem Treppenhaus mit einem Fahrstuhl miteinander verbunden. Die Crew wohnt, wie auch auf Superyachten üblich, ganz unten im Schiff.
Der nächste Tag beginnt frühmorgens in Kopenhagen; wann immer möglich, fährt „Sea Cloud Spirit“ Etappenziele über Nacht an, sodass die Gäste in den wenigen Stunden an Land möglichst viel erleben können.
„So wie es aussieht, können wir auf unserer nächsten und letzten Etappe nach Kiel die Segel setzen. Aktuell ist es mit 25 bis 30 Knoten noch sehr windig vorhergesagt, aber wenn die Windrichtung stimmt, können wir problemlos bei bis zu 35 Knoten, also acht Windstärken segeln“, erzählt Kapitän Vukota Stojanovic auf der Brücke. Auf die Frage, was für ihn ein Sturm ist, hat er eine klare Antwort: „Wenn nichts von meinem Bürotisch fällt, ist es auch kein Sturm.“ Doch es gibt Limitierungen. „Wir versuchen mit weniger als sechs Grad Krängung zu segeln, sonst bekommt die Küche Probleme.“
Sturmtief „Poly“, das im Juli mit Windgeschwindigkeiten in Orkanstärke auf Schleswig-Holstein traf, bekam auch „Sea Cloud Spirit“ auf ihrer Etappe von Oslo nach Aarhus zu spüren. „Mit Windböen von bis zu 50 Knoten und über vier Meter hohen Wellen im Skagerrak war das schon eine ruppige Überfahrt, bei der sich viele Gäste von unserem Bordarzt Pflaster gegen Seekrankheit geben ließen“, so der Kapitän.
170 Seemeilen nach Kiel stehen am letzten Tag der Reise auf dem Programm, und die Windrichtung meint es gut. Vukota Stojanovic steuert den 5,70 Meter tiefgehenden und mit zwei Schlingerkielen bestückten Dreimaster über den Øresund und weit nach West in die Køgebucht, um einen optimalen Winkel zum Wind zu ermöglichen. „Besonders gut segeln wir mit den Rahsegeln bei Halbwindkurs, also einem TWA von 90 Grad. Wir können zwar bis 70 Grad kneifen, doch dann nehmen der Druck in den 4.165 Quadratmeter Segeln und die Krängung unnötig zu.“
Dann ist es endlich so weit. „Sehr geehrte Gäste, ich störe Sie nur ungern, kann jedoch froh verkünden, dass wir um 15 Uhr noch einmal Segel setzen werden“, hört man Kreuzfahrtdirektorin Sabrina Sylvester über die Bordlautsprecher ausrufen.
Das Spektakel lassen sich selbst die Gäste nicht entgehen, die dem Prozedere während der Reise nun schon mehrfach beiwohnen konnten. Die besten Plätze bietet hierfür das Sonnendeck, wobei so viel an Bord passiert, dass man gar nicht weiß, wo man zuerst hinschauen soll. Entgegen ähnlich großen Superyachten wie zum Beispiel Jeff Bezos’ 127 Meter langem Dreimast-Gaffelschoner „Koru“ oder dem 143-Meter-Riesen „Sailing Yacht A“, die ihre vergleichbar großen Segelflächen hydraulisch und auf Knopfdruck setzen, werden an Bord der „Sea Cloud Spirit“ jede Schot, jedes Fall und Vollschiff-Besonderheiten wie Geitaue (Rahsegel-Fall) und Gordings (Rahsegel-Reffleine) manuell bedient. Das dauert. „Bis alle 28 Segel im Wind stehen, brauchen wir zwischen 30 und 45 Minuten“, erklärt Kapitän Stojanovic.
Damit an Bord bei den komplexen Manövern alles reibungslos funktioniert, gibt es klare Abläufe und eine hierarchische Struktur. Der Kapitän entscheidet, dass gesegelt wird, und gibt den Befehl zum Segelsetzen an seinen Bootsmann Vilmor Gemogalen weiter, dem Herrscher über drei Masten und eine Rigg-Mannschaft von 18 Matrosen. Er entscheidet, welche Segel bei welcher Windstärke gesetzt werden. Jeder Mast hat wiederum seinen eigenen Mastkapitän, der für die Umsetzung der Anweisungen verantwortlich ist.
Am Ende der Køgebucht geht „Sea Cloud Spirit“ schließlich auf Kurs Südost, der Wind bläst mit 15 Knoten, „perfekte Bedingungen“, freut sich der Kapitän. An allen drei Masten steigen zeitgleich drei Matrosinnen und Matrosen in das von Großsegler-Koryphäe Zygmunt Choren entworfene und in Polen gebaute Stahl-Rigg und beginnen mit gekonnten Handgriffen und auf den Fußpferden (Lauftaue unterhalb der Rahen) balancierend, die Zeisinge zu lösen, woraufhin die Segel bereits anfangen zu fallen. Segel für Segel, bis hinauf zu den Royals, die eine Kletterpartie in 58 Meter Höhe erforderlich machen.
Die Vorsegel-Batterie bestehend aus Jager, Klüvern und Stagsegeln wird zeitgleich ausgerollt, bis schließlich 4.165 Quadratmeter Dacron-Tuch im Wind stehen und die 4.835 Tonnen verdrängende „Sea Cloud Spirit“ mit bis zu elf Knoten Geschwindigkeit anschieben. „Wenn wir segeln, segeln wir – natürlich ohne Motor!“, lässt Vukota Stojanovic wissen, während sich das Vollschiff bei einigen 25-Knoten-Böen sanft zur Seite neigt. Bei einer Breite von 17,20 Metern machen sich fünf Grad Krängung deutlich bemerkbar. Die Gäste an Bord strahlen, genießen ihre Drinks unter vollen Segeln und freuen sich auf den letzten gesellschaftlichen Höhepunkt ihrer Reise: den Captains Cocktail in der Lounge, natürlich mit Piano-Musik.