Triefend sackt der Spinnaker durch die Vorschiffsluke nach unten. Geschafft! Hab das Tuch zu spät geborgen, mich weichspülen lassen vom Wiegen des Vorwindes! Bis „Raukar“ aus dem Ruder lief. Nun, nur noch unter Groß und Fock, ist sie wieder auf Kurs, läuft unter Windfahnensteuerung ostwärts.
Ich segele parallel zur polnischen Küste, bin mittlerweile etwa auf Höhe der Stadt Ustka. Unten am Kartentisch trage ich die Position in die Seekarte ein. Und suche nach einem Hafen, den ich anlaufen kann. Zu lange schon bin ich unterwegs. Um genau zu sein: Vor eineinhalb Tagen habe ich in meinem Heimathafen, dem Yachtclub Peene in Anklam, die Leinen meiner betagten Sparkman & Stephens 30 losgeworfen. Seither geht es mit ordentlich Fahrt voran, bis zu sechseinhalb Knoten schnell.
Łeba wäre eine Anlaufstelle, um endlich etwas Schlaf nachzuholen. Doch es wird schon dunkel, und der Wind hat auf gute 5 Beaufort aufgefrischt. Im Küstenhandbuch aber lese ich, dass sich ab 5 Beaufort vor Łeba gefährliche Grundseen bilden und kleine Schiffe Gefahr laufen querzuschlagen. Das Wasser vor der Küste ist hier nur vier Meter tief. Einen Versuch will ich dennoch wagen, packe die Pinne, hole den Baum mittschiffs und halse Richtung Molenfeuer. Es ist nun stockfinster.
Was mache ich hier eigentlich so ganz allein? Ich könnte jetzt mit meinem Sohn Schlauchboot fahren oder ein paar Leute zum Grillen besuchen. Stattdessen treibt es mich nach Kaliningrad. Das ist ein lang gehegter Traum, der in diesem Sommer 2023 wahr werden soll. Ich habe Familie dort. Besser: Meine Frau hat Familie dort. Sie wurde in der russischen Exklave geboren, ihre Eltern und Geschwister leben in der Stadt. Herzensgute Menschen, die ich schätze und bewundere.
Etwa meinen Schwager Nikolaj, der Kettensägen repariert und immer gute Laune hat. Oder meine Schwiegermutter Olga, die auch als Rentnerin noch höhere Mathematik unterrichtet. In den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion musste sie Kleidung nähen, auf Märkten Klamotten verkaufen oder mit den Kindern die Etage eines Wohnheims renovieren, um die Familie ernähren zu können. Ich mag auch Onkel Jewgeni, der mit nur einem Auge den schnellsten Ford Fiesta der Stadt fährt.
Ja, ich kann mich sogar für Kaliningrad selbst begeistern. Trotz seiner Kantigkeit und des gewissen Sowjetcharmes. Die Stadt ist dynamisch, einfach großartig, wenn man sich auf sie einlässt. Ob ich jetzt, in Zeiten des Krieges, aber überhaupt eine Chance habe, einreisen zu dürfen? Ich weiß es nicht.
Die See wird zusehends unruhiger. Das Molenfeuer von Łeba tanzt nun wie wild vor meinen Augen. Das kann nicht gut gehen! Ich werde jäh aus meinen Gedanken gerissen, eine plötzliche Klarheit packt mich, und ohne Zögern halse ich zurück in die Dunkelheit der offenen Ostsee. Lieber noch ein Stück weiter, als von der anbrandenden See unsanft auf den Strand geworfen zu werden.
Gegen ein Uhr nachts drehe ich mit sicherem Abstand zur Küste bei, um mir etwas zu essen zu machen. Danach kuschele ich mich ins Leesegel der Salonkoje und schließe die Augen. Alle 20 Minuten schrecke ich auf, kontrolliere meine Position sowie den Seeraum ringsum und lege mich wieder hin. Bis halb sechs am Morgen.
Kalter Wind empfängt mich an Deck. Ich freue mich schon auf die Halbinsel Hel. Den nördlichsten Punkt Polens habe ich bald gerundet, dann kann ich südöstlich abfallen und in Landabdeckung weitersegeln. Doch noch bockt „Raukar“ auf Backbordbug Richtung Władisławowo. Kurz darauf aber zeichnet sich das Hochufer bei Kap Rozewie ab. „Mensch, das ist ja wunderschön hier!“, entfährt es mir. Magisch zieht es mich in den Windschatten des Kaps. Etwas östlich des Leuchtfeuers lasse ich den Anker fallen.
Gerade mal die Zähne geputzt, und schon liegen hier noch zwei Schiffe, sogar deutsche! Mein aufgestautes Gesprächsbedürfnis drängt mich auf die Badeleiter, und schwimmend nehme ich Kurs auf die nächstgelegene Yacht. Kurze Zeit später sitze ich schon an Bord beim Ankernachbarn. Ebenfalls ein Einhandsegler, allerdings von weiter her als ich. Er kommt aus Eckernförde, war schon am Frischen Haff und ist bereits auf dem Rückweg. So ganz abwegig scheint mein Vorhaben also gar nicht zu sein, wenn andere auf eine ähnliche Idee kommen.
Weiter geht es. Leider weht es aus der Putziger Wiek, als gäbe es kein Morgen. Es erwischt mich eiskalt, als ich aus dem Windschatten der Halbinsel Hel heraussegele. Schwalben spielen im Rigg herum und versuchen sich festzukrallen. Kräftig schiebt der Wind in Richtung der Hafeneinfahrt von Hel. Kurz darauf liege ich am Steg.
60 Stunden habe ich von Anklam bis hierher gebraucht. Auf wackeligen Beinen stehe ich an Land, als auch schon der Hafenmeister vorbeikommt. „Du sprichst gut Polnisch!“, bescheinigt mir der freundliche Mann. Ich bin ganz von den Socken, verständige ich mich doch eher mit Händen und Füßen, vermische ungeniert Polnisch mit Deutsch oder Englisch.
In Hel, diesem hübschen, wenngleich touristischen Fischerdorf, bin ich mit überhitzter Maschine gelandet. Der Seewasserschlauch vom nassen Auspuff war abgeflogen. Nachdem ich den Ort auf der Suche nach einer Autowerkstatt halbwegs kennenlernen durfte, bekomme ich das benötigte Kühlmittel, um die Maschine endlich wieder flottzumachen.
Hel hat einen charmanten Ortskern mit einer schönen Kirche, in deren Garten lte Fischerboote liegen. Die gleichnamige Halbinsel ragt mit feinstem Sandstrand in südöstliche Richtung 20 Seemeilen weit in die Danziger Bucht hinein.
Von meinem nächsten Etappenziel, der neuen Schleuse Nowy Swiat, über die ich durch die 70 Kilometer lange, aber nur wenige Hundert Meter breite Frische Nehrung aufs dahinter liegende Haff gelangen will, trennen mich nur noch 25 Seemeilen beziehungsweise ein Tagestörn auf der wunderschönen Danziger Bucht. Einziger Haken: Die Schleuse ist noch nicht in meinen Unterlagen verzeichnet.
So lerne ich Pawel kennen, Skipper einer Charteryacht. Während seine Crew das Boot aufklart, frage ich ihn nach der Ansteuerung des erst 2022 eröffneten Durchstichs. Mit Begeisterung erklärt er mir, was ich wissen muss. Diese Hilfsbereitschaft ist überwältigend. Pawel und ich bleiben noch lange in Kontakt. Immer wieder erkundigt er sich selbst Tage später per WhatsApp nach dem Fortschritt meiner Reise.
Anderntags geht es los. Mit leichter Brise quere ich die gesamte Bucht. Unterwegs reckt sogar eine Robbe ihren Kopf aus dem Wasser. Dann stehe ich am Tor zur „Neuen Welt“, so die Übersetzung des Schleusennamens. Die Anlage im Südosten der Danziger Bucht empfängt mich in der Dämmerung. Das Meer spiegelt das Licht des klaren Abendhimmels. Molenköpfe so groß wie Seeschiffe ragen wuchtig in die Stille der Ostsee. Das Bauwerk ist gewaltig. Rundherum Natur.
Nowy Swiat durchtrennt die Frische Nehrung auf einer Länge von einem Kilometer. Segelyachten können seit dem vorvergangenen Frühjahr mit stehendem Mast östlich von Danzig in das geschützte binnenartige Revier fahren.
Noch aber liege ich im Vorhafen der Schleuse, so groß wie drei Busbahnhöfe. Niemand ist zu sehen. Ich bin dennoch aufgeregt. Die letzten Schleusen habe ich als Kind im Faltboot auf den Mecklenburgischen Seen passiert. Hier läuft die Kommunikation über Funk. Auf Kanal 68 bekomme ich freundlichen Kontakt zum Schleusenkapitän. Woher und wohin, die Schiffsmaße, wie viele Personen sind an Bord? Der Mann spricht sehr gut Englisch.
Vielleicht sollte ich gleich hier all meine Fragen bezüglich der Häfen im Frischen Haff loswerden. Also strapaziere ich kurzerhand die Freundlichkeit des Mannes und erfrage Telefonnummern der Hafenmeister von Frombork und Tolkmicko.
Dann öffnen sich auch schon die Tore, und vor mir liegt das lang gestreckte Gewässer, das sich von Polen bis hinüber nach Kaliningrad erstreckt. Fasziniert greife ich noch mal zum Funkgerät, bedanke mich und gratuliere dem Schleusenkapitän zu diesem grandiosen Bauwerk.
Magisches Licht taucht das Revier in beinahe mystische Stimmung, am Festlandufer gegenüber kann ich durchs Fernglas das sanft gewellte Elbinger Hochland bewundern. Kurz darauf entdecke ich eine ganze Reihe anderer Boote. „Das gibt’s doch gar nicht, die segeln hier ja mit richtigen Kielbooten herum“, denke ich noch, als sich die ersten bereits auf Rufweite nähern. „Two meters draft!“, ruft einer mit einer Zehnmeteryacht auf meine Frage nach seinem Tiefgang herüber.
Das Küstenhandbuch empfiehlt, das Frische Haff nicht mit Booten über 1,5 Meter Tiefgang zu befahren. Das ist wohl konservativ kalkuliert. Meine Bedenken jedenfalls fliegen augenblicklich über Bord. Bald rauscht „Raukar“ Richtung Frombork.
Die Entfernungen auf dem polnischen Teil des Gewässers sind überschaubar. Nach zwei Stunden liegt bereits Tolkmicko malerisch an Steuerbord. Einen Liegeplatz konnte ich problemlos telefonisch reservieren. Bald darauf treffe ich Miroslav. Er ist so etwas wie die gute Seele hier, fertigt Fahrgastschiffe ab, kümmert sich um Sportbootskipper und auch um Wohnmobilisten. Er ist immer da, und wenn er gerade nichts zu tun hat, sitzt er draußen und schwatzt fröhlich mit seinen Leuten bei einem Kaffee.
Früher einmal habe er in Düsseldorf gearbeitet, dann zog es Miroslav zurück in sein geliebtes Städtchen mit der Fischfabrik am Hafen. Ich folge später dem Duft von Räucherfisch auf der östlichen Hafenseite. Dort finde ich einen kleinen Fischladen – alles sehr lecker!
Luftlinie übers Haff sind es nur noch 20 Seemeilen bis Kaliningrad. Doch der einzige Weg dorthin führt außen herum, über die Ostsee. Also zurück durch die Schleuse, danach geht es mit schwachem Nordost hinaus aus der Zwölf-Seemeilen-Zone. Polen bleibt achteraus. Weit und breit ist kein Schiff zu sehen oder zu hören.
„Da ist doch ein Haufen Militär unterwegs. Die Russen werden dich vielleicht gar nicht reinlassen, du wirst bestenfalls umdrehen können. Oder sie kassieren dein Schiff ein!“ Die Bedenken von Freunden und Bekannten, die von meinem Plan wussten, waren mannigfaltig. Und ja, natürlich könnte Derartiges passieren. Doch anders gefragt: Warum sollte so etwas passieren? Wegen des Ukraine-Kriegs?
Ich verdränge die Gedanken und gehe um Mitternacht auf Ostkurs. Am Morgen ist die Ansteuerungstonne Baltyisk 1 erreicht. Von hier aus führt auf russischer Seite ein Fahrwasser vorbei an der alten Festung Pillau und weiter aufs Haff.
Der Wind schläft ein, die See liegt platt vor mir, die Stille wird nur vom Hämmern meines Motors durchbrochen. Der Dunst über dem Wasser verflüchtigt sich, als die Sonne aufgeht. Nach und nach schälen sich einige Kriegsschiffe aus dem Schleier. Das AIS hüllt sich in Schweigen. Kein Anruf via Funk erfolgt. Die Schiffe sind in Fahrt. Hin und wieder zeigt sich eine kleine Dieselwolke, die einsam über der bleiernen See stehen bleibt. Eines der Schiffe liegt nahe der ersten Tonne. „Der Wachhund“, höre ich mich flüstern.
Die Menschen hier sind offen und zugewandt. Sie betonen nicht das, was uns trennt. Für sie ist wichtiger, was uns verbindet – nicht zuletzt als Segler”
Es sieht fast aus, als wäre hier eine Übung im Gange. Ich bekomme feuchte Hände, prüfe die Handfunke und klemme sie an die Weste. „So, jetzt sag doch mal einer was – kann euch doch nicht vollkommen schnuppe sein, wenn ich hier einfach so herumfahre!“
Schließlich halte ich die Spannung nicht mehr aus und drücke fest auf die Taste meines Funkgeräts: „Baltyisk Traffic, this is Sailing Vessel ‚Raukar‘ on the way from Tolkmicko, Poland, to Kaliningrad. Can you read me? Over.“ Kaum habe ich die Taste losgelassen, kommt die Antwort : „Sailing Vessel, please come closer, we have bad connection.“
„Geht doch“, entfährt es mir halblaut, als könnte mich jemand hören. Als ich mich umsehe, steht dort, wo sich eben noch der Wachhund befand, nur noch ein respektables Dieselwölkchen. Das Schiff selbst fährt plötzlich zwei Kabellängen hinter mir. Eine Eskorte? Nein! Im Funk höre ich auf Russisch ein Gespräch mit, in dem sich ein Kapitän über ein mittig im Fahrwasser fahrendes Segelboot ärgert. Der meint mich! Wie peinlich. Ich schwenke rüber zum Fahrwasserrand, der andere passiert.
Dann werde ich zur Pier 81 geleitet. „Darf ich euch fotografieren?“, rufe ich zu dem offenen Lotsenboot mit zwei jungen Männern der Küstenwache hinüber. „Njet, njelsja!“ Nein, das ist verboten, ruft der Russe. Der Mann am Außenborder sieht asiatisch aus und macht prompt Handyfotos von mir. „Da haben wir uns wohl irgendwie missverstanden“, gestehe ich mir schmunzelnd ein.
Pier 81 ist eine Anlegestelle für eine Fähre, eine Rampe. Ringsherum liegen Containerschiffe, parken Schlepper, fahren Kräne. Trossen stoßen so steil wie Sonnenstrahlen auf riesige Poller herab. Ein wenig unbeholfen gehe ich an gigantischen Industriefendern längsseits.
Die ersten Worte werden an mich in englischer Sprache gerichtet. Ich antworte automatisch auf Russisch. Mein Russisch allerdings ist nicht so toll, obwohl meine Frau Russin ist. Fast jedes Jahr machen wir Familienurlaub im früheren Königsberg und besuchen dort die Verwandten und Freunde. „Warum sind Sie mit dem Boot gekommen, Sie waren doch kürzlich erst mit dem Auto da!“ Der Beamte deutet auf die Stempel in meinem Reisepass. Mit offenem Mund stehe ich da und suche eine Erklärung. „Weil ich das Segeln liebe. Und weil ich ausprobieren möchte, wie die Einreise über See vor sich geht.“
„Aber wohnen werden Sie doch bei Ihrer Schwiegermutter?“, fragt der Beamte. „Ja, und ihr das Kilo Kaffee bringen, das unten im Boot liegt“, versuche ich mit einem Scherz die Atmosphäre aufzulockern. Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Auf Segeltouristen ist man hier nicht vorbereitet. Eine zeitraubende Prozedur. Zwischendurch muss meine Frau telefonisch einspringen, als ich mit meinem Russisch am Ende bin. Dann wird das Boot durchsucht, gründlich. Gefühlt vergehen Stunden, bis ich den erlösenden Stempel in den Pass bekomme. „Ich hab’s geschafft – ich bin drin! Verdammt, ich glaub’s einfach nicht!“, jubele ich innerlich.
Seit drei Jahren war kein deutsches Boot mehr im Kaliningrader Yachtclub, erzählt man mir. Ich komme mir vor wie ein Botschafter aus vergangener Zeit”
Ein langer Seekanal führt direkt bis Kaliningrad und ist ziemlich stark befahren. Motorboote flitzen vorbei, die Crews grüßen freundlich zu mir rüber. Dicke Pötte liegen an den modernen Industrieanlagen an der Ostseite des Kanals. Immer mal kommt aber auch eine kleine Bucht zum Vorschein, an den Ufern viele hübsche Häuschen, die wie große Bootshäuser zum Wohnen aussehen.
Endlich kann ich den Kanal verlassen. Spiegelglatt liegt das Haff voraus. Ich suche mir eine Stelle nahe dem Ufer und bringe den Anker aus. Dann gehe ich schwimmen. In der Nähe ankert eine russische Yacht. Die Crew bemerkt „Raukars“ ausgeblichene schwarz-rot-goldene Flagge. Neugierig kommen sie heran.
„Verstehst du Englisch?“, fragt der Skipper, als er bemerkt, dass es mit meinem Russisch nicht so weit her ist. Sein Heimathafen liege nur eine Meile entfernt im Yachtclub Heidekrug, wohin er mich am liebsten mitnehmen würde. Die Ansteuerung sei auch ganz einfach, und außerdem könnte ich dann noch mit ihnen den Geburtstag der Mutter feiern. Ich lehne freundlich ab. Mein Ziel ist der Kaliningrader Yachtclub und meine eigene Schwiegermutter. Den Yachtclub kennt der Skipper selbstverständlich ebenfalls, und er weiß auch, dass sich dessen Ansteuerung verändert hat. „You have to leave farwater on buoy 32, then heading 117 Degrees to harbour entrance. And than very carefully on the entrance buoy to the harbour, it’s very small!“, erklärt er mir.
Trotzdem bleibe ich später sage und schreibe viermal stecken, ehe ich mir bei einem anderem Kielboot abschaue, wie man die Zufahrt zu den Clubstegen meistert : haarscharf am Badestrand vorbei.
Im Club herrscht reges Treiben. Voll besetzte Yachten legen zum Abendtörn ab, andere kommen vom Badespaß mit den Kindern wieder rein. Viele Optis und Cadets sind auf dem Wasser, Kinder und Jugendliche wieseln mit den kleinen Sportbooten umher. Während ich festmache, entdeckt mich ein Mann auf dem Steg. Er schaut herüber und lächelt mich an. Als ich von Bord gehe, begrüßt er mich sehr herzlich. „Unsere Töchter leben in Deutschland. Du bist seit drei Jahren der erste deutsche Segler hier.“ Ab diesem Moment fühle ich mich wie ein Botschafter aus vergangener Zeit.
Er und seine Frau haben ihre Segelmacherwerkstatt auf dem Gelände des Yachtclubs, erzählt er. Die beiden nehmen mich mit in die Stadt. Während der große Geländewagen durch die Schlaglöcher oder auch mal über Bordsteinkanten hüpft, reden sie gut gelaunt durcheinander, gehen aber auch auf meine vielen Fragen ein.
“Wir waren oft in Polen und haben dort mit polnischen Werkstätten zusammen genäht“, erzählt der Segelmacher. Jetzt gebe es nur noch die Aufträge aus dem Kaliningrader Gebiet. Das scheint der guten Laune aber nicht zu schaden. Jedes Schlagloch, dem er nicht ausweichen kann, gibt Anlass zu freudigen Flüchen. Die russische Sprache verfügt über eine Vielzahl von Schimpfwörtern. Manche habe ich mir gemerkt.
Es ist bereits mitten in der Nacht, als ich schließlich fröhlich die drei Stufen zu Schwiegermutter Olgas Wohnungstür hinaufsteige. Vier Tage lang habe ich nun Zeit, mir die Stadt anzuschauen, mich von Olga bekochen zu lassen und viele Verwandte und Freunde zu treffen. Die sind allesamt begeistert von meiner Reise. „Du bist verrückt, aber ein Held!“, bekomme ich mehrfach zu hören.
Als Kind fuhr Olga mit ihrem Opa zum Fischen hinaus aufs Haff. Lange ist das her; viel hat sich verändert. Ihre Liebe zur See jedoch ist geblieben”
Der Höhepunkt ist ein Ausflug mit Olga auf „Raukar“ hinaus aufs Frische Haff. Das hatte ich ihr schon vor Jahren versprochen. Jetzt endlich ist es so weit. Olga fuhr bereits als Kind mit ihrem Opa aufs Haff zum Fischen. Jetzt machen wir uns einen schönen Nachmittag vor Anker. Da sitzt sie unterm Sonnenschirm in Sonntagsgarderobe und ist einfach nur glücklich!
Anderntags folgt ein Angelausflug mit mir, Onkel Jewgeni und Tante Tatjana. Am Abend lerne ich dann im Yachtclub Valentin kennen. Sein Vater konstruiert und baut Hochsee-Rennkatamarane. Einen davon kann ich am Steg bewundern und darf mir alles anschauen. Valentins Familie kann auf eine beachtliche Regattakarriere zurückblicken, sogar einen Preis beim Fastnet Race haben sie mal bekommen. Nun soll der Katamaran über St. Petersburg nach Moskau verschifft werden. Ich könnte doch mitkommen und die Wolga entlangschippern!
Immer wieder fällt mir eine angenehme Eigenschaft der Menschen hier vor Ort auf: Sie suchen die Gemeinsamkeiten zwischen sich und anderen, nicht die Unterschiede, das Trennende! Vielleicht eine der wichtigsten Erkenntnisse meiner Reise. Dazu gehört auch, dass diejenigen, die Englisch können, es auch sprechen wollen.
So zum Beispiel Dmitry Zaritsky, der Leiter der Segelschule. Meist mit dem Trainerboot draußen bei den Kids, strahlt er an Land eine geradezu unnachahmliche Ruhe und Besonnenheit aus. Er berichtet von verschiedenen Segelprojekten, die unter der Schirmherrschaft des Kaliningrader Weltozeanmuseums stattfinden.
Faszinierend finde ich etwa die Idee einer Geschwaderfahrt nach St. Petersburg und zurück, von der mir erzählt wird. Vier Yachten haben sich auf den 600 Seemeilen weiten Weg gemacht. Seit Kriegsbeginn müssen die Boote die Strecke nonstop bewältigen, da sie weder in den baltischen Ländern noch in Finnland Zwischenstopps einlegen dürfen. Auch spannend: eine Bootsflottille über den Pregel und die Kanäle ins Kurische Haff. Da wäre ich gern dabei.
Ende August erlebe ich noch die Nacht der offenen Brücken in Kaliningrad. Segelschiffe und Sportboote fahren begleitet von Feuerwerk und Musik auf dem Pregel durch die Stadt. Dann ist es Zeit, die Rückreise anzutreten. Am letzten Abend genieße ich im Cockpit sitzend noch einmal die warme Abendsonne und die wunderbare Stimmung im Yachtclub. Was für ein tolles Erlebnis. Ich hoffe, bald wiederkommen zu können. Gern erneut unter Segeln.
Text: Martin Schubert