ReiseAfrikanisches Abenteuer - von Italien nach Tunesien segeln

Marc Bielefeld

 · 08.04.2023

Autor Marc Bielefeld am Ruder seiner „Solemar“ beim Einlaufen nach Bizerte in Tunesien
Foto: M. Bielefeld/S. Lipsmeier

Von Italien nach Tunesien ist es nicht weit – und doch sind es Welten, die beide Ufer voneinander trennen. Über eine ganz besondere Reise

Sardinien im Sommer – Italien zieht alle Register. Die Buchten im Süden der Insel leuchten in einem transparenten Blau, der Sand unter dem Kiel strahlt wie weißes Papier. Ein warmer Wind streicht über Deck, als wir in diesen Tagen von einer Spiaggia zur nächsten ziehen, schon mittags den Anker fallen lassen und ein Leben führen wie in einem Film. Titel: „Paradise Now – der türkise Planet“.

Als ob das nicht genug wäre, zaubert einem Bella Italia mit einem Griff in die Proviantkiste auch noch die passenden Zutaten auf den Cockpit-Tisch. In nassen Surfshorts sitzen wir unter dem Sonnensegel, starren wie auf einen Infinitypool und laben uns an frischen Oliven und würzigem Pecorino-Käse. Als Beilage: drei kleine Campari-Fläschchen, die es hier unten in jedem Supermarkt gibt. Drüben von der Strandbar dudelt italienischer Sommerpop herüber, und nach ungezählten Sprüngen ins warme Meer steht höchstens noch die Überlegung an, nachher noch mal mit dem Dingi dort rüberzufahren, um nicht restlos im Zustand dieses zuckersüßen Ankerlebens zu verdampfen.

Blick auf mediterranen Zauber

Falls wir des Dolce-Vita-Daseins auf den sardischen Meeresgründen jemals überdrüssig werden sollten, stehen Alternativen zur Verfügung. Wir könnten einen Schlag nach Cagliari machen, uns die hübsche Altstadt besehen. Könnten rüber nach Villasimius segeln, im alten Dorf eine Pizza essen und uns danach mit einem Gelato in der Hand in eine Bodega setzen. Blick auf die Yachten. Blick auf den Hafen. Blick auf diesen ganzen mediterranen Zauber.

Und dieser existiert ja nicht nur in Sardinien. Europas südliche Küsten zwischen Balearen, Italien und der griechischen Inselwelt bieten so ziemlich jeden Genuss, der sich auf einem unter Segeln zu befahrenden Planeten denken lässt. Warmes Meer, milde Winde, malerische Häfen. An Land ist das nächste Meeresfrüchte-Restaurant nie weit und macht das sperrige Wort „Infrastruktur“ seiner weitreichenden Bedeutung in der Regel alle Ehre. Charterbasen gibt es fast allerorten, dazu Supermärkte, Bootsläden, Boutiquen, Ärzte, Apotheken. Vor lauter Bars, bunten Märkten und hübschen Cafés kann man sich hier kaum retten. Das Leben an den Rivieras zwischen Palma und Korfu fühlt sich so sorglos an wie in einem Schlaraffenland – Komfortzone Europa.

Dabei sind es, je nach Revier, nicht einmal 100 Seemeilen, bis der Segler an eine Demarkationslinie gelangt. An eine unsichtbare Barriere, die nicht nur Seegebiete voneinander trennt, sondern Welten. Jenseits dieser Seegrenze, die sich von West nach Ost durchs gesamte Mittelmeer zieht, herrschen andere Sitten, andere Sprachen, andere Kulturen. An den Ufern jenseits dieser Grenze liegen andere Gerüche in der Luft und dem Leben andere Gepflogenheiten zugrunde.

Hier beginnt Afrika

Dort gibt es keinen Campari. Die Quote der Stand-up-Paddler in den Buchten liegt bei null. Boutiquen mit knappen Bikinis und hippen Flip-Flops sucht man meist vergebens. Statt vollgefederter Mountainbikes und frisch gewaschener SUVs fahren alte Drahtesel und zerbeulte Peugeots über die Straßen. Hier und da Eselskarren. Unter von Mondsicheln gezierten Minaretten beten die Menschen zu einem anderen Gott. Und die Sonne brennt noch heißer, denn hier beginnt: Afrika.

Die Wochen auf dem süditalienischen Meer fühlen sich federleicht an. Dennoch fragen wir uns seit Längerem, ob wir nicht einen Abstecher ins Reich gegenüber wagen sollten. Segelboote sind nun mal zum Segeln da, und eine Passage über offene See ist verlockend. Wir könnten zwar von Sardinien 140 Seemeilen nach Sizilien segeln oder 240 Seemeilen nach Mallorca. Wir könnten aber auch steil gen Süden segeln – und nach gerade mal 100 Seemeilen Tunesien erreichen. Ein transkontinentaler Kurztrip auf eigenem Kiel. Destination Afrika, anlegen in 1001 Nacht.

Fragen über Fragen

Doch so verführerisch das klingt, Afrika ist nicht Europa. Allein die Überlegung, dorthin zu segeln, triggert und ruft völlig neue Gedanken auf den Plan. Man muss das große Verkehrstrennungsgebiet zwischen Suez und Gibraltar passieren, eine der Hauptschifffahrtsrouten der Welt. Man braucht einen Reisepass, muss einklarieren. Welche Häfen gibt es eigentlich? Bieten sie Wasser und Strom? Und gibt es überhaupt Sportbootkarten für die afrikanische Küste? Hafenhandbücher?

Dann sind da die Flüchtlingsboote. Sie starten von den Küsten Tunesiens, Algeriens, Libyens und steuern die Küsten Süditaliens an. Was, wenn man einem solchen Boot auf offenem Meer begegnet?

Und schließlich schwebt noch die Frage im Raum: Wie sicher sind die Häfen? Lässt sich bedenkenlos ankern? Könnten Piraten vor den Küsten ihr Unwesen treiben?

Der Gedanke ist nicht von der Hand zu weisen. Noch vor einigen Jahren warnten deutsche Behörden davor, nordafrikanische Häfen anzulaufen. Terrorzellen und islamistische Gruppen würden nicht einmal die einheimische Marine verschonen, geschweige denn ausländische Sportboote. Das Piraterie-Präventionszentrum der Bundespolizei See vermeldete mehrere Vorfälle vor gerade mal zehn Jahren. Noch heute sprechen die Behörden von einer erhöhten Gefährdungslage in den Hoheitsgewässern Libyens und empfehlen, die Gewässer vor Ägypten – das Mittelmeer, den Suezkanal und das nördliche Rote Meer – mit erhöhter Wachsamkeit zu befahren. Insbesondere sollte auf herannahende Klein- und Schnellboote geachtet werden.

Vorurteile des Europäers

Nun sind Ägypten und Libyen nicht Tunesien. Doch selbst wenn es um die Küsten des nahen Maghreb gegenüber geht: Afrika beginnt schon im Kopf. Sobald man ernsthaft in Erwägung zieht, dorthin zu segeln, stellen sich Fragen zum großen Kontinent mit all den Konnotationen, Nachrichten und auch Vorurteilen, die uns Europäern in den Sinn kommen. Auch wir überlegten darum, ob wir es tun sollten oder nicht. Afrika oder nicht Afrika? Das war hier die Frage.

Einige Segler, die wir an den Stegen Süditaliens trafen, erzählten von ihren Erfahrungen an der tunesischen Küste. Die Berichte fielen denkbar unterschiedlich aus. Ein Holländer erzählte, der tunesische Hafenmeister habe ihn im Sommer 2021 aufgefordert, das Land besser zu verlassen: „Zu unsicher, ich kann für nichts garantieren.“ Ein Schwede berichtete, vor der tunesischen Küste habe sich ein Fischernetz in seiner Schraube verfangen, woraufhin drei Fischerboote herankamen. Sechs Mann seien bei ihm an Bord geklettert und hätten absurde Geldsummen verlangt.

Doch gab es auch andere Erzählungen. Ein amerikanisches Ehepaar war ebenfalls im nahen Tunesien. „Traumhaft!“, sagten die beiden. „Zauberhafte Dörfer am Meer, ordentliche Häfen, dazu die freundlichsten Menschen, die wir am Mittelmeer kennengelernt haben.“ Ein australisches Seglerpaar mit Kindern an Bord und eine weitere amerikanische Yacht bestätigten letzteren Eindruck: „Tunesien ist wundervoll – fahrt dorthin. Es ist sicher, es ist schön.“

Abenteuer in Tunesien?

Wir überlegten weiter, es war Hochsommer. Bilderbuch-Italien gegen ein kleines Abenteuer tauschen?

Weniger abenteuerlich als vielmehr tragisch fiel die Frage nach den Flüchtlingsschiffen aus. Im Mittelmeer sind schon viele Yachten Migranten begegnet, was im Ernstfall in einem seerechtlichen wie menschlichen Dilemma enden kann: Man muss helfen, aber darf nicht. Wohin mit den Menschen? Wer nimmt sie auf? Und was, wenn mehr Seelen in Not sind, als man selbst auf seiner Yacht aufnehmen kann?

Charterfirmen haben wegen vermehrter Fälle Broschüren herausgebracht, in denen steht, was Segler in solchen Situationen tun müssen, tun dürfen und zu unterlassen haben. Viele Yachten begegnen den Flüchtlingen an der lykischen Küste und im Ägäischen Meer, doch auch zwischen Süditalien und Tunesien kreuzen sich immer wieder die Kurse.

Die Entscheidung ist gefallen: Es wird Tunesien

An einem brütend heißen Tag, unsere Yacht schwebt in einer grünen Bucht vor einer menschenleeren Grotte Süditaliens, entscheiden wir uns für Afrika. Sagen uns: Tunesien ist ein modernes Land, eine pluralistische Demokratie mit freien Wahlen. Zudem: Wir werden frische Datteln essen können, echtes Couscous bekommen. Wir können alte Minarette bestaunen und vielleicht noch eine Spur des alten Orients erhaschen. Das alles auf eigenem Kiel.

Der Wind weht mit drei bis vier aus Nordwest. Noch liegen wir vor den rosafarbenen Dünen Italiens. Der Handyempfang ist gut, die nächste Beachbar in Reichweite, der Wein kalt. Gegen Mittag gehen wir ankerauf und segeln los. Kurs offene See, Kurs Nordafrika.

Wir fahren in einer Zweierflottille. Neben uns ein Australier mit seinem kleinen Katamaran, einem James Wharram Tiki 30. Leichte Winde blasen uns aufs Meer hinaus, bald wird Italien hinterm Heck immer schmaler: Europa löst sich auf. Das ungewohnte Gefühl echten Reisens stellt sich ein. Wir werden in einer anderen Welt ankommen, einer anderen Kultur.

Kurs- und Perspektivwechsel

Aber geht es darum beim Segeln nicht auch? War es darum früher nicht sogar in erster Linie gegangen? Reisen statt cruisen? Erkunden statt erholen?

Das Boot läuft mit vier, fünf Knoten durch ein weites, blaues Meer. Kein Schiff weit und breit, nur Himmel und Wasser und eine dünne Wolke, die über die Kimm reist. Die Nacht kommt, die Sonne sinkt rot im Westen. Über unseren Köpfen breitet sich die Milchstraße aus, legt sich wie ein knisterndes Band übers Firmament. Sind das schon die Sterne des Orients?

Wir haben Tempo und Kurs so gewählt, dass wir erst am Morgen zur großen Schifffahrtslinie kommen. Auf dem AIS sind zum Sonnenaufgang prompt die ersten Pötte zu erkennen. Wir haben uns vorab große Admiralty Charts für die Küste Tunesiens besorgt. Die Karten der Berufsschifffahrt waren die einzigen, die für die südlichen Seegebiete des Mittelmeers zu finden waren.

Zwei Containerfrachter fahren weit außerhalb der eingezeichneten Begrenzungen, wir fieren die Segel, fallen ab, um nicht mit ihnen zu kollidieren. Weites, großes Meer: Und doch kommt man dem Fließband des modernen Welthandels hier bedenklich nah. 2022 passierten fast 24.000 Schiffe den Suezkanal, das sind 65 pro Tag. Die meisten kommen und gehen über die Route vor Nordafrika.

Ich kann die Brückennock eines Frachters erkennen. Ein Mann steht dort oben, vermutlich ist es einer der Offiziere. In T-Shirt und mit Kappe auf dem Kopf lehnt er auf seinem Ozeanriesen und schaut versonnen zu den beiden Segelyachten, die vor seinen Augen übers Meer ziehen.

Meer mit Beklommenheit absuchen

Wir sehen kein Flüchtlingsboot weit und breit. Doch über Funk kommt später ein Emergency Call rein. „Small boat adrift, extreme caution.“ Die gemeldete Position ist weit von uns entfernt, östlich von Lampedusa. Unsere Augen aber suchen das Meer von nun an ständig mit einer gewissen Beklommenheit ab.

Wir kommen zur südlichen Grenze der Schifffahrtsroute. Sieben Frachter fahren mit über 20 Knoten nach Osten. Weit gestaffelt ziehen sie über die See, wir können Kurs halten. Dann taucht das erste Mal Land am Horizont auf. Ein heller Saum, der mit jeder weiteren Seemeile Kontur annimmt. Voraus liegen nicht mehr Martini Beach und Bella Italia. Voraus kommt uns Afrika entgegen.

Eine Schildkröte schwimmt neben dem Boot, zwei Delphine springen. Wir passieren drei kleine Fischerboote. Diesel speiende Kähne, auf deren Hecks Männer hocken und auf offenen Feuern Essen zubereiten. Der Geruch von gebratenem Lamm weht übers Wasser.

Hafeneinfahrt von Bizerte in Tunesien

Dann kommt die Einfahrt von Bizerte in Sicht: die nördlichste Hafenstadt Afrikas und für Yachten der erste und beste Anlaufpunkt, will man von Italien nach Tunesien.

Wir biegen um eine frei im Meer liegende Mole und tuckern an einem schwülen Nachmittag in die Marina. Am Ufer stehen Palmen, vor weißen Kolonialbauten hängen tunesische Flaggen, die so groß sind wie fliegende Teppiche.

Wir machen an der geschützten Außenpier fest, dürfen aber noch nicht zum Liegeplatz. Zwei Männer vom Zoll und von der Polizei kommen an Bord. Sie sind freundlich, tragen Jeans, wischen sich den Schweiß von der Stirn. Sie haben Kladden dabei, Formulare. Wollen wissen, ob wir Drogen an Bord haben, Menschen.

Sie gehen ins Vorschiff, öffnen die Schränke, die Schapps. Sie fragen, ob wir Medikamente dabeihaben. Was für Kameras, Computer, Devisen, Funkgeräte, Radaranlagen? Wie viele Zigaretten, wie viel Alkohol?

Sie notieren alles. Es dauert eine Stunde, sie nehmen unsere Pässe mit. Wir können die Papiere in der Capitainerie bald wieder abholen. Dann spaziert Monsieur Raouf, der Adjutant des Hafenmeisters, auf uns zu. Er ist offen und warmherzig und sagt drei magische Worte: „Bienvenue en Afrique.

Marina fällt mondän aus

Die Marina von Bizerte ist groß und modern. Das halbe Hafenbecken steht leer, viele kleine Motorboote liegen an den Muringleinen, hier und da ragen Masten von ausländischen Yachten in den Himmel. Es gibt Strom und Wasser, der Müll wird jeden Morgen von den Stegen abgeholt, Wachen stehen vor dem Eingang zur Marina.

Die Duschen fallen gegen dänische und deutsche WC-Buden geradezu mondän aus. Bizerte hat nicht umsonst in eine moderne Marina investiert: In Zukunft will man große Boatshows hierher locken.

Am Hafen betreten wir ein französisches Restaurant. Meeresfrüchte, Steaks, frische Säfte – für eine Handvoll Dinar. Das Ankommen in Afrika gestaltet sich denkbar angenehm. Doch wir sind zu ausgezehrt, um noch in den Ort zu gehen.

Die Hitze erschlägt einen. Bis nach Douz sind es von hier aus nur noch 300 Kilometer. Dort beginnt die Wüste, und das „Tor zur Sahara“ hält einen afrikanischen Rekord: 55 Grad im Schatten.

Abends liege ich im Cockpit. Hinterm Fluss zum alten Hafen leuchten die Mauern der Medina in der Nacht. Um elf singt der Muezzin aus den Lautsprechern. Das Abendgebet segelt von den Minaretten über die heiße Stadt aufs Meer hinaus. Ich höre dem Adhan noch eine Weile zu, dann sinke ich unter offenem Himmel in den Schlaf.

Altes Bizerte schmückt sich mit Souks und mittelalterlichen Gassen

Am nächsten Morgen gehen wir in die Stadt. Das alte Bizerte mit seinen Souks und mittelalterlichen Gassen ist bequem zu Fuß zu erreichen. Gleich hinter dem Boulevard Habib Bougatfa kommen wir zum alten Hafen. Menschen sitzen in den Cafés, bunte Fischerboote dümpeln an der Pier. Fliegende Händler schieben ihre Karren durchs Gewühl, am Wegesrand türmen sich Wassermelonen, Seifen, Erdnüsse, Plastikhubschrauber, Orangen, Räucherstäbchen. Vor den Ständen des Souks baumeln gehäutete Schweinsköpfe, überall liegen Säcke voller Gewürze herum, aus dem Eiscafé an der Rue Bourguiba dröhnt Bill Haley.

Thunfische und aufgeschnittene Rochen liegen auf dem Fischmarkt aus neben Straßenständen mit Millionen Handyhüllen und Bergen von Fußballtrikots.

Bizerte brodelt vor Leben. Hier und da streunt eine Kuh, mitten durchs Getümmel fährt eine Kutsche mit einem fein gekleideten Hochzeitspärchen. Wir gehen in die Kasbah, stehen vor der blauen Tür zu einem Hammam. Hier ins Dampfbad? Allein die afrikanische Luft bedeutet Sauna von morgens bis nachts.

Eigentlich würde es reichen, die vielfältigen Eindrücke zwei, drei Tage lang in sich aufzusaugen. Danach die Dieseltanks für weniger als die Hälfte der europäischen Preise füllen und mit dem richtigen Wind zurück nach Italien segeln.

Aus einem Abstecher werden knapp zwei Wochen

Doch das Land gefällt uns. Die freundlichen Menschen, der Zauber des Maghreb. Aus unserem Abstecher werden fast zwei Wochen.

Im Hafen liegen Yachten aus Neuseeland, Australien, Frankreich. Allesamt Schiffe, die um die Welt segeln. Keine Vorzeigeyachten. Sie sehen herb aus, alles voller Tampen und Schoten, gegerbt von Sonne und Salzwasser. Ein junger Kerl kommt über die Stege auf uns zu, er ist höchstens Ende 20. Ein Gerüstbauer aus Kanada, der sich in Tunesien eine alte Yacht gekauft hat. Ich frage nach seinen Plänen. „Ich will erst nach Marseille, einen Freund besuchen“, sagt er. „Danach ab nach Hause, über den Atlantik nach Kanada.“ Hier unten in Tunesien liegen keine Schönwettersegler. Hier unten liegen solche, die es ernst meinen.

Wir fragen Monsieur Raouf nach Zielen im Norden Tunesiens, diesseits von Hammamet und Djerba im Süden des Landes. Der Adjutant des Hafenmeisters war 30 Jahre lang Taucher bei der Marine, sagt, er würde jedes Riff im Mittelmeer kennen. „Fahrt nach Sidi Bou Saïd“, empfiehlt er. „Aber nehmt den Bus, die Hafeneinfahrt ist derzeit versandet.“

Historisches Tunesien

Viele Häfen gibt es im Norden Tunesiens in der Tat nicht. Dafür steigen wir nach zwei Stunden Fahrt an einem historischen Platz aus dem Bus. Nördlich von Tunis liegt das alte Fischerdorf Sidi Bou Saïd und das antike Zentrum des Mittelmeers: das sagenumwobene Karthago. Wir spazieren durch die Ausgrabungen, sehen die alten Zisternen der Römer, die noch erhaltenen Mosaike und Rundmauern der Punier.

Das kleine Sidi Bou Saïd, gelegen auf einem Hügel am Golf von Tunis, erlangte aus einem anderen Grund Berühmtheit. Die Künstler Paul Klee, August Macke und Louis Moilliet waren 1914 für zwei Wochen hierher gereist. Sie sahen die Formen und Farben des nördlichen Afrikas, die Landschaften und einfachen Häuser des Maghreb. Dann begannen sie zu malen. Ihre „Tunisreise“ schrieb Kunstgeschichte und öffnete die Tür zur abstrakten Malerei.

Wir gehen eine Gasse hoch, gelangen in eine kleine Welt aus weißen und blauen Häusern oben auf den Felsen. Berberteppiche hängen an den Wänden, Ziegenlederlampen stehen vor schattigen Cafés. Wir stehen vor gelben Portalen, die mit gusseisernen Ornamenten beschlagen sind. Bougainvilleen ranken sich die Mauern hoch, das Licht messerscharf. Sidi Bou Saïd ist eine kleine Oase für sich. Eine Traumwelt: Belle Afrique wie aus einem Märchen.

Oben von den Balkonen der „Villa Bleue“ schauen wir am Abend aufs Mittelmeer. Es liegt einem hier zu Füßen wie ein blauer Gabbeh-Teppich. Im Norden, irgendwo auf der anderen Seite: Europa.

Verschiedene Welten, die nur einen Tagestörn auseinanderliegen

Welten, die sich noch immer so fremd sind – und doch nur einen guten Tagestörn auseinanderliegen. Unser Fazit steht dabei längst fest: „Voreilig und ignorant wären wir gewesen, nicht hierher zu segeln.“

Wir legen an einem Donnerstag ab, die Sonne glüht. Wir segeln noch eine Tagesetappe nach Osten entlang einer hellbraunen, steinigen Küste. Einmal kommen drei Fischerboote auf uns zu. Wir bangen kurz, aber sie halten Kurs auf Zembra Island.

Früher war die tunesische Armee auf der Insel stationiert, heute ist Zembra ein Biosphärenreservat. Wilde Pistazien wachsen dort, Ginster, Wacholder. Neben einigen Rangern leben nur Vögel, Kaninchen und Ratten auf dem Fleckchen Erde.

Um hier zu ankern, bräuchte man eine Sondergenehmigung, hatten wir gehört. Und wir wollen unser Glück nicht testen, zumal wir in Bizerte schon wieder ausklariert haben. Zembra zieht vorbei wie die Umrisse eines Schlachtschiffs.

Letzte Nacht vor der Küste Tunesiens

Am Abend biegen wir um Kap Bon, verbringen die letzte Nacht an der tunesischen Küste vor Anker. Die Mole der Fischer von Kelibia liegt voraus, ein Sammelsurium bunter Boote, die südlich von Ras Mostefa hinter der Einfahrt vertäut sind.

Wir liegen in einem grünen, sandigen Meer, dürfen ohne Papiere nicht mehr an Land. Ich nehme das Fernglas. Über die Corniche spazieren Menschen, am Strand sitzen die Sommergäste auf Plastikstühlen im Saum der Wellen, ihnen zu Füßen der Golf von Hammamet. An der Plage de La Marsa stehen das Hotel „Beau Soleil“, zwei Eiscafés, ein Beachclub unter Palmen, vor dem Jugendliche ins Wasser rennen.

Große Ferien in Tunesien, Hochsommer über Nordafrika. Ich blicke auf die Navigations-App. Der Strand, auf den wir blicken, heißt Spiaggia Bella Rimini. Eine Hommage, ein Traum. Die afrikanische Sehnsucht nach zuckersüßem Europa.

Nur 100 Seemeilen sind es von hier bis dorthin. Aber Seemeilen können verdammt relativ sein.


Törn im goldenen Dreieck

Von Sardiniens Südküsten sind es gute 100 Seemeilen bis Bizerte, dem ersten und besten Anlaufhafen im Norden Tunesiens. Wahlweise ist auch die Anreise von Sizilien aus möglich: Von Mazara del Vallo oder den Ägadischen Inseln – am besten Favignana – bietet sich die Überfahrt zur italienischen Insel Pantelleria an, ein Tagestörn von rund 60 Seemeilen. Von dort aus ist die tunesische Küste bei Kap Bon nur etwa 40 Seemeilen entfernt und somit ebenfalls leicht an einem Tag zu erreichen. Für Streckensegler ist das Dreieck zwischen Sardinien, Sizilien und Tunesien ein reizvolles Erlebnis. Der komplette Rundtörn ist je nach Wind in beide Richtungen planbar und offeriert reichlich Abwechslung: viel Kultur, unterschiedliche Welten – verbunden durch ordentliche, aber machbare Seestrecken

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Über den Autor: Marc Bielefeld

Der 56-jährige Journalist und Autor aus Hamburg lebte und arbeitete 2022 auf seiner 42-Fuß-Ketsch „Solemar“ auf dem Mittelmeer. Hier entstanden zahlreiche Reportagen, unter anderem für die YACHT. Zuletzt erschien sein Buch „Logbuch der Leidenschaft“ im Delius Klasing Verlag

Der Autor Marc Bielefeld | Abbildung: YACHT
Der Autor Marc Bielefeld | Abbildung: YACHT

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