Morten Strauch
· 01.03.2023
Die Seekrankheit kann jeden treffen. Thomas Bickhardt will ein wirksames Mittel gegen die Seekrankheit gefunden haben. Der Psychologe verspricht Hilfe dank einer speziellen Therapie
In diesem Artikel:
Viele Segler leiden unter Übelkeit, sobald der Seegang ruppig wird und das Schiff stark schwankt. Um dem zu begegnen, werden seit jeher unterschiedlichste Mittel und Methoden empfohlen. Einen neuen und noch dazu verblüffend einfachen Therapieansatz hat nun Thomas Bickhardt entwickelt. Der soll die Wurzel des Problems angehen, anstatt die Symptome zu bekämpfen. Erfolgreich erprobt in Norwegen, bietet er seine Hilfe jetzt in Hamburg an. Wir wollten wissen, was dahintersteckt.
Thomas Bickhardt: Die Frage bekomme ich regelmäßig gestellt, und ich verstehe die Skepsis dahinter. Aber ich kann sie ganz klar mit einem „Ja“ beantworten. Wobei ich eher von einem Training als von einer Therapie spreche. Die ganze Sache ist gar nicht so schwierig, und die meisten wissen eigentlich schon, dass es funktioniert, nur nicht wie und warum. Es gibt ja viele Segler, die zum Saisonstart am ersten Tag seekrank werden, dann aber verschwindet das Problem von ganz allein. Genauso die Seeleute, die drei Monate an Land sind, aufs Schiff kommen, die ersten Tage seekrank werden und dann „geheilt“ sind. So bin ich auf meinen Forschungsansatz gekommen: Was passiert in dem Moment, in dem die Seekrankheit verschwindet und man sich wieder wie ein Mensch fühlt?
In unserem System stellt sich etwas um, und zwar im Kopf und auch im Körper. Nach einer Zeit an Bord eines Schiffes bewegen sich die Leute anders. Das habe ich während meiner sechsmonatigen Zeit auf dem Frachtsegler „Undine“ bei den regelmäßig wechselnden Crews beobachten können. Die Frage ist also, wie sich das System umstellt und wie dieser Vorgang aktiv eingeleitet werden kann, bevor man Gefahr läuft, seekrank zu werden.
Im Kapitänssalon der „Undine“ gibt es neben viel Mahagoni eine riesige Messinglampe. Bei viel Wind ist die stark hin und her gependelt. Doch Pustekuchen! Die Lampe pendelt nicht, sie hängt völlig im Lot, wie angenagelt. Stattdessen pendelt das Schiff – und zwar um die Lampe herum. Unser Gehirn sagt uns: Wenn etwas in Bewegung ist, dann ist immer das Größere fest und das Kleinere bewegt sich. Folglich glauben wir, dass sich die Lampe im Raum bewegt und nicht andersherum. Das löst die „optische Kollision“ aus, die uns malade werden lässt. Genauso verhält es sich im Übrigen bei einem kardanisch aufgehängten Herd. Diesen Wahrnehmungsprozess lösen wir in der Therapie auf – und somit das Seekrankheitsproblem.
In erster Linie geht es darum, das Problem zu verstehen, und zwar von beiden Seiten aus. Dazu gehört zunächst einmal viel Theorie, in der die Einzelfälle aufgedeckt und die Erfahrungen der Leute mit Seekrankheit besprochen werden – da geht es individuell in die Tiefe. Die Teilnehmer sehen dann auch, dass es anderen Leuten genauso oder ähnlich geht. Es folgen Übungen auf dem Balance-Brett, bei denen sie von mir gestresst werden, indem ich ihre Wahrnehmungen blockiere. Daraufhin setzt der Lerneffekt ein: dass optische Eindrücke nicht zur Wahrung des Gleichgewichts benötigt werden!
Es gibt tatsächlich eine Studie, die belegt, dass blinde Menschen extrem selten seekrank werden. Was daran liegt, dass es nicht zu optischen Kollisionen kommen kann. Auch viele Segler werden bestätigen können, dass es hilft, die Augen zu schließen, wenn ein mulmiges Gefühl einsetzt. Da man sich aber auf einem Schiff mit geschlossenen Augen nicht bewegen kann, geschweige denn arbeiten, kann dies natürlich nicht die Lösung sein. Und sobald die Augen geöffnet werden, setzt das Unwohlsein gleich wieder ein. Da der Mensch aber auf verschiedene Wahrnehmungssysteme zurückgreifen kann, um das Gleichgewicht zu halten, können wir die visuelle Wahrnehmung beiseiteschieben und uns stattdessen auf andere Systeme fokussieren. Genau das trainieren wir.
Der Gleichgewichtssinn wird neben der Wahrnehmung über die Augen auch über das vestibuläre System gesteuert, welches die Gleichgewichtsorgane in den Innenohren beschreibt, sowie über das propriozeptive System, das sich mit Muskel- und Gelenksensorik beschäftigt. Wir westlich geprägten Menschen sind daran gewöhnt, an erster Stelle die Augen, also die visuelle Referenz, für das Gleichgewicht heranzuziehen, weil wir in unserer Umwelt von geraden Linien umgeben sind. Gerade in der städtischen Umgebung funktioniert dieses System schnell und präzise zur Orientierung im Raum. Da sich von Kindesbeinen an eine Gewohnheit entwickelt hat, schlägt das visuelle System die beiden anderen. Auf einer bewegten Unterlage, wie auf einem Schiff, funktioniert das aber leider nicht mehr aufgrund einer falschen Datenzufuhr. Solange die Linie des Horizonts zu sehen ist, klappt es mit der optischen Orientierung oft noch. Unter Deck jedoch beginnen die festen Linien zu kippen, ohne dass man es sieht, wenn man sich parallel dazu verhält und sich festhält. Daher fangen die Leute schon bei zwei Grad Neigung an, sich festzuhalten, um nicht umzufallen. Schon daran sieht man, wer seekrank wird und wer nicht. Gleicht man die optische Fehlinformation dagegen mit den anderen Systemen aus, bleibt einem das Übel erspart. Bei Menschen, die das nicht können, ergibt sich ein Wettstreit der Systeme. Während die Augen vorgeben, dass alles gerade ist, meldet das Innenohr ein Ungleichgewicht, und auch das eine Bein signalisiert mehr Belastung als das andere. Unsere Gewohnheitsschleife ist rechthaberisch und sorgt dafür, dass sie sich gegen das optische System durchsetzt. Früher oder später kann das dann alles nicht mehr verarbeitet werden.
Das vegetative Nervensystem setzt die sogenannte Stressschleife in Gang. Das heißt, dass die Körperaktivität aufgrund von Überlastung heruntergefahren wird. Als Erstes trifft es das Verdauungssystem: braucht man gerade nicht, wird daher geleert! Das passiert übrigens auch in vielen anderen Stresssituationen wie bei einem Autounfall oder wenn man fürchterlich verknallt ist. Geht man an Bord und ist schon gestresst vom Job, der Familie, dem Finanzamt oder gar der Crew, ist der Stresslevel bereits hoch. Da muss dann nicht mehr viel hinzukommen, um die Stressschleife in Gang zu setzen. Alle diese ausgleichenden, symptombehandelnden Mittel wie Ingwer oder Tabletten kümmern sich nur um den Stressteil, aber nicht um den Ausgangspunkt. Dort setzt mein Training an.
Da schon das Ablegen häufig mit Stress verbunden ist, hilft es, vorab sein System aktiv umzustellen. Das kann eine Stunde vorher auf dem Steg geschehen. Und es ist hilfreich, bei den ersten Schiffsbewegungen gleich noch eine Runde einzulegen. Bei einigen dauert es zehn bis 15 Sekunden, bei anderen fünf Minuten. Im Zweifel schlägt es noch einmal zurück, und man muss nach zehn Minuten eine Wiederholung durchführen. In den meisten Fällen funktioniert es binnen Sekunden. Es muss ja nur die Referenz fürs Gleichgewicht geändert werden.
Ich hatte mal einen U-Boot-Leutnant der norwegischen Marine in Behandlung. Ein U-Boot ist so ziemlich das übelste Fortbewegungsmittel auf beziehungsweise im Wasser, das man sich bezüglich drohender Seekrankheit vorstellen kann. Keine Chance auf Horizont, keine Orientierungshilfe, schlechte Luft und dazu die Rollbewegungen des Bootskörpers. Das gilt nicht nur für Überwasserfahrten. Bei schwerem Wetter sind diese von Wellen ausgelösten Bewegungen auch noch in einer Tiefe von 30 bis 50 Metern deutlich spürbar. Dem Leutnant hat das Training schließlich nicht nur zu einer leidensfreien Dienstzeit verholfen. Er ist später sogar auf ein Forschungsschiff umgestiegen, das 2011 in den Monster-Orkan „Dagmar“ geriet und schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde. Mein ehemaliger Patient war einer der wenigen an Bord, die dabei nicht seekrank geworden sind. Solche Rückmeldungen berühren mich auch noch Jahre nach dem Seminar.
Eines der schlimmsten Szenarien ist, längere Zeit mit mehreren Personen in einer Rettungsinsel ausharren zu müssen: kein Horizont, ein schwankender Gummiboden, der sich in alle Richtungen bewegt, und dazu ein penetranter Gummigeruch. Selbst gestandenen Seeleuten zieht es da die Beine weg. Fängt die erste Person an, sich zu übergeben, endet das gewöhnlich in einem fiesen Exzess. Hier stößt dann auch mein Ansatz an seine Grenzen, da die Anpassungsmaßnahmen, die man bei mir lernt, von einem relativ festen Untergrund ausgehen. Ich müsste erst noch weiter forschen, ob man sich selbst vor Eintritt in solch eine Gummiinsel so einstellen kann, dass man nicht seekrank wird und darüber hinaus das Erbrechen der anderen ertragen kann.
Die liegt bei zirka 98 Prozent, unabhängig vom Schweregrad der Fälle. Rein wissenschaftlich gesehen, ist es fast schon problematisch, dass ich über viele Jahre hinweg nur positive Rückmeldungen hatte. Für die Forschung ist es wichtig, dass auch mal etwas nicht funktioniert, damit man ein Problem noch genauer eingrenzen kann. Ich hatte lediglich mal zwei Fälle, die nachträglich nicht trainiert beziehungsweise ihr System nicht aktiv umgestellt haben. Dann funktioniert das Ganze leider nicht – daher nur 98 Prozent Erfolgsquote.
Auch wenn es paradox klingt, aber selbst Menschen, die ein super Gleichgewicht haben – Surfer zum Beispiel – können schnell seekrank werden. Während sie anfangs problemlos auf dem Balance-Brett stehen, kann ich sie ganz schnell aus dem Konzept bringen, indem ich sie optisch verwirre. Ihre eingespielte Kopplung zwischen Optik und Balance wird unterbrochen – und zack, ist das Gleichgewicht dahin. Generell sind Stadtmenschen anfälliger, da sie sich ihr Leben lang an vertikalen Linien orientieren. Ein anschauliches Beispiel dafür ist der Hochhausbau der dreißiger Jahre in den USA. Dafür wurden oft Ureinwohner eingesetzt, da sie völlig schwindelfrei waren. Sie hatten nicht die Gewohnheit der Gleichgewichtswahrnehmung über die Augen entwickelt, sondern griffen auf die anderen Systeme zurück. Schwindel und Höhenangst hängen direkt miteinander zusammen. Es soll nicht chauvinistisch klingen, aber auch Frauen neigen etwas häufiger zu Seekrankheit, was mit Kontrollinstanz und Schutzinstinkt für die Kinder zu tun hat. Im Alter, wenn besser losgelassen werden kann, wird das dann oft besser. Am schlimmsten betroffen sind laut Statistik Frauen, nachdem sie ihr erstes Kind bekommen haben.
Ich hatte einmal einen harten Anflug, der blitzartig über mich hereingebrochen war. Auf der „Undine“ hatten wir bereits eine ganze Zeit lang schweres Wetter, und da die Toilette achtern war, musste die Crew über das gesamte Seitendeck laufen, um sich zu erleichtern. Darauf hatten einige keine große Lust und pinkelten daher tagelang in die Dusche. Beim Versuch, den Saustall zu reinigen, hat es mich dann erwischt. Der Mix aus Bewegung, fehlendem Horizont, Stress und beißendem Geruch hat mich drangekriegt. Ein anderes Mal wurde mir auf einem kleinen Boot schlecht, weil ich gefilmt hatte. Die optische Ausrichtung durch den Sucher der Kamera irritiert den Gleichgewichtssinn maximal. In dieser Situation konnte ich mich aber selbst richtig einstellen – und das Problem war gelöst.
Nein, man ist nicht immun dagegen. Ich vergleiche das gern mit Skifahren. Genauso, wie es gelernt werden muss, sich auf Skiern zu bewegen, muss es gelernt werden, sich auf einem
Schiff zu bewegen, da es sich um andere Bewegungsmuster handelt. Jeder, der Ski fährt, weiß, dass die ersten Abfahrten meist ein wenig wackelig sind. Das System muss sich erst wieder umstellen. So ähnlich funktioniert das auf einem Schiff. Die Umstellung des Gleichgewichtssystems muss jedes Mal aktiv angegangen werden.
Schwer zu sagen, da man eigentlich nie fertig wird mit der Forschung. Es kommen immer wieder neue Aspekte hinzu. Angefangen habe ich 1992 nach meiner Zeit auf der „Undine“, wo sich mir die ersten Fragen gestellt hatten. Den letzten Punkt, über den ich lange nachgedacht habe, habe ich erst vor ein paar Jahren richtig verstanden.
Warum meine Trainings nicht alle proppenvoll sind. Lange dachte ich, ich mache schlechte Werbung. Aber durch eine befreundete Psychotherapeutin bin ich darauf gekommen, dass viele Menschen, die einmal richtig seekrank waren, diesbezüglich traumatisiert sind. Und wer geht schon freiwillig in seiner begrenzten Freizeit ein Trauma an? Wer Angst vor Spinnen hat, lässt sich auch eher ungern eine Vogelspinne auf den Kopf setzen, um sich dieser Problematik zu stellen. Viel einfacher und auch absolut menschlich ist es, das Problem zu verdrängen und darauf zu hoffen, dass es beim nächsten Mal nicht so schlimm wird. Der Schlusspunkt für meine Forschung wäre wohl, dass ich mich selbst in das Stadium der Seekrankheit verhole, um mich dann eigens wieder daraus herauszuholen.
Ja. Wenn jemand bei mir durchgelaufen ist und sich später bei mir melden sollte, dass es nicht funktioniert hat, dann biete ich eine kostenfreie Nachschulung an. Klappt das danach wieder nicht, dann bekommt er sein Geld zurück. Darauf gebe ich mein Wort!
Thomas Bickhardt hat in Hamburg Psychologie studiert und forscht seit 30 Jahren zum Thema Seekrankheit. Nach seiner seemännischen Ausbildung in der Handelsmarine fuhr er sechs Monate auf dem Frachtsegler „Undine“ mit, wonach ihn das Thema Seekrankheit nicht mehr loslassen sollte. 20 Jahre lebte Bickhardt im Leuchtturm Kråkenes am norwegischen Vestkap, wo er schwere Fälle von Seekrankheit bei Berufsseeleuten erfolgreich therapierte. Nun bietet er in Hamburg auf der Elbinsel Kaltehofe seine Trainingseinheiten für Segler an.