Lars Bolle
, Felix Keßler
· 17.05.2018
Nichts nimmt so sehr den Spaß am Segeln wie Übelkeit und Schwindel. Was taugen Medikamente und Helferlein? Bei Seekrankheit lässt sich vorbeugen. 10 Tipps für entspannte Törns ohne Brechreiz
Wenn sich bei Wind und Welle langsam Blässe in das Gesicht eines Mitseglers schleicht, dauert es bis zum ersten "Fische füttern" meist nicht mehr lange. Selbst Segler, die sonst kein Problem mit Seekrankheit haben, erinnern sich häufig an einen Törn, bei dem ihnen zumindest ein wenig flau im Magen wurde. Schämen muss sich dafür niemand. Denn Seekrankheit ist eine Reaktion des menschlichen Körpers auf nicht zueinander passende Sinneseindrücke. Das können etwa die starre Kajütdecke und Schaukelbewegungen durch schweren Seegang sein. Übelkeit auf See zählt damit zu den Bewegungskrankheiten (Kinetosen). Als Reaktion auf die ungewohnten Eindrücke werden vom Gleichgewichtsorgan am Innenohr diverse Stresshormone ausgeschüttet.
Die Ursachen für Seekrankheit oder auch Reisekrankheit allgemein sind noch nicht vollends geklärt. Vorherrschende Meinung ist, dass widersprüchliche Informationen der Sinnesorgane der Auslöser sind. Wenn etwa das Innenohr als Gleichgewichtsorgan sowie die Mechanorezeptoren in den Muskeln und Gelenken Bewegung an das Gehirn melden, das Auge jedoch diese nicht wahrnimmt, etwa unter Deck. Oder auch an Deck, wenn die Augen Dinge fixieren, die sich anscheinend nicht bewegen, etwa den Cockpitboden.
Die Ausprägung der Seekrankheit ist dabei sehr unterschiedlich, sie reicht von leichter Übelkeit bis zu völliger Selbstaufgabe und Suizidwunsch. Doch Letzteres ist selten. So waren von den betroffenen Personen bei der ARC nur etwa 16 Prozent nicht mehr in der Lage, Wache zu gehen und mussten sich ständig erbrechen, der Rest blieb einsatzfähig, trotz zeitweisen Übergebens (s. Grafik). Meistens jedoch ist die Seekrankheit zeitlich befristet, der Körper gewöhnt sich an die Umstände. Nur 3 Prozent der Betroffenen bei der ARC erholten sich nicht, 14 Prozent benötigten drei und mehr Tage, beim Rest war die Übelkeit nach zwei Tagen bis zu wenigen Stunden überwunden.
Der Botenstoff Histamin gilt als einer der Auslöser von Seekrankheit, deshalb vor und während der Reise histaminhaltige Nahrung meiden, wie Konserven oder Fertiggerichte, Alkohol, Rotwein, Kakao, Schokolade, schwarzer und grüner Tee, Meeresfrüchte, Nüsse, Tomaten, Erdbeeren, Hülsenfrüchte, Zitrusfrüchte, Käse, Soja, Hefe- und Weizenprodukte.
Zwar gehören etwa frisches Fleisch oder weißer Fisch zur histaminarmen Ernährung, sie reizen aber den Magen und führen zu verstärkter Produktion von Magensäure. Sie sollten also nicht unmittelbar vor dem Törn und auch nicht in großen Mengen gegessen werden. Zu empfehlen sind, vor allem während des Törns, Bananen, frisches Obst und Gemüse (keine Zitrusfrüchte), rohe Karotten, Suppen, Zwieback, Kamillen-, Pfefferminz- und Ingwertee. Falls der Magen doch übersäuert, kann mit Magaldrat, Rennie, Alka Seltzer und ähnlichen Antisäuerungsmitteln gegengesteuert werden.
Ist der Körper ohnehin schon ausgelaugt, lässt das Unwohlsein nicht lange auf sich warten. Deshalb: Den Törn gut erholt starten, am Abend davor nicht zu tief ins Glas schauen. Außerdem: Kaum etwas senkt den Histaminspiegel so schnell und effektiv wie das Schlafen. Ein Nickerchen kann auch während des Törns Wunder wirken. Dabei immer mit den Füßen in Fahrtrichtung liegen. Frieren vermeiden, Einkuscheln und Verkeilen kann helfen. Möglichst nah am Schwerpunkt der Yacht betten, dort sind die Bootsbewegungen am geringsten. Allerdings kann der Aufenthalt unter Deck auch gegenteilig wirken, wegen mangelnder Frischluft und Engegefühl.
Vor dem Griff in die Bordapotheke sollten Betroffene es mit Hausmitteln versuchen. Hier halten sich auch die Nebenwirkungen in Grenzen.
Ingwer Wirkt magenberuhigend, gegen Übelkeit, Schwindel und kalten Schweiß. Wurde schon in der antiken Seefahrt, in Stücke geschnitten und zerkaut, gegen Seekrankheit genommen. Soll ähnlich gut wirken wie Antihistaminika, schmeckt aber nicht jedem. Kann auch als Ingwertee oder kandierter Ingwer konsumiert werden. Gibt es auch als Ingwerpulver (z. B. Zintona-Kapseln).
Vitamin C Baut den Botenstoff Histamin ab. Professor Dr. Reinhart Jarisch hat die Wirksamkeit in mehreren Studien untersucht und zumindest teilweise belegen können. Mit der Einnahme sollte in der Woche vor dem Törn begonnen werden, ein bis zwei Gramm pro Tag. Geeignet sind Zitrusfrüchte (die jedoch auch den Magen reizen können), Paprika oder Johannisbeeren. Es kann auch als Kapsel oder Lutschtablette (sehr viele Präparate erhältlich) geschluckt werden. Diese schonen während des Törns den Magen.
Placebo Wie in vielen anderen medizinischen Bereichen wirkt auch hier der psychologische Effekt, auch das wurde nachgewiesen. Dabei kommt es nicht darauf an, was genommen wird: Ein normaler Kaugummi oder homöopathische Globuli, Eukalyptusbonbons oder das Halten einer rohen Kartoffel, Petersilie im Ohr oder Ohrringe aus Knoblauch – fast egal, was es ist, es muss der betroffenen Person nur glaubhaft die Wirksamkeit vermittelt werden.
Aufgaben zuteilen Wer ständig an seine Übelkeit denkt, wird diese wohl eher nicht los. Deshalb den Crewmitgliedern Aufgaben zuteilen. Am einfachsten ist, sie abwechselnd steuern zu lassen. Da dazu viel Konzentration nötig ist, lenkt es von der Übelkeit ab. Zugleich bekommt die Person am Ruder das Gefühl, im Wortsinn alles im Griff zu haben, alles unter Kontrolle. Das stärkt die Zuversicht, ebenfalls ein wichtiger Faktor bei Seekrankheit, das Gegenteil wäre Angst. Andere Aufgaben könnten das Abhaken von Fahrwassertonnen in der Seekarte sein, Spiele spielen, Lieder dichten, Abzählreime und so weiter. Hauptsache, die betroffene Person ist nicht mit ihren – meist destruktiven – Gedanken allein.
Horizont beobachten Der Blick auf die Kimm hat einen beruhigenden Effekt und wirkt der Seekrankheit entgegen, am besten dabei nach vorn schauen. Die gerade Horizontlinie ist eine gute Referenz für das Auge, die Bewegung der Yacht zu erfassen, womit optische und gefühlte Bewegung in Übereinstimmung gebracht werden können.
So deckt sich der empfundene Eindruck der Schiffsbewegung mit der visuellen Realität. Dabei helfen können auch Brillen, die einen künstlichen Horizont durch Flüssigkeit im Brillenglas simulieren. Einiger Beliebtheit erfreuen sich Akupressur-Armbänder, die durch Druck auf bestimmte Regionen des Handgelenkes die Seekrankheit zurückdrängen sollen. Die tatsächliche Wirkung der Armbänder wird kontrovers diskutiert, ein zuverlässiger Schutz vor Übelkeit auf See sind sie jedenfalls nicht.
Beiliegen Ein ideales Manöver, auch Beidrehen genannt, um die Yacht kurzzeitig zu beruhigen. Dabei wird in der Regel nach einer Wende die Genua back stehen gelassen, das Großsegel killt oder ist, meist etwas eingerefft, gerade so dicht geholt, dass es nicht killt. Die Yacht liegt dabei sehr ruhig und einigermaßen aufrecht schräg zu den Wellen (ausführlicher Bericht in YACHT 17/2013). Die relative Ruhe kann genutzt werden, um einer seekranken Person das Erbrechen zu erleichtern oder sich um sie kümmern zu können – Zuspruch zu geben, zu trösten, einen Tee zu kochen, sie in die Koje zu bringen, beim Einschlafen zu helfen.
Motorsegeln Die Maschine zu Hilfe zu nehmen kann die Bewegungen einer Yacht sehr deutlich verringern, vor allem auf Amwindkursen. Es kann langsamer, dabei aber spitzer zum Wind gesegelt werden. Der Rumpf arbeitet wegen der geringeren Fahrt weniger stark in der See, die geringere Krängung kann Angstgefühle mildern. Trotzdem bleibt die Geschwindigkeit nach Luv gleich.
Medikamente versprechen ein schnelles Ende der Übelkeit, können jedoch heftige Nebenwirkungen verursachen. Welches Medikament geeignet ist, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab, wie der Stärke der Seekrankheit, dem Alter der Person oder der jeweiligen Empfindlichkeit gegenüber den Wirkstoffen. Die Nebenwirkungen können erheblich sein, deshalb ist von einer Eigenmedikation abzuraten.
Medikamente* mit den Wirkstoffen Scopolamin, Meclozin, Dimenhydrinat oder Cinnarizin sollen auch dann noch Seekrankheit lindern, wenn diese bereits eingesetzt hat. Es gibt sie als Kaugummi, in Tablettenform oder als Pflaster. Nicht alle sind frei erhältlich; manche sind apotheken- oder gar verschreibungspflichtig. Auf die Nebenwirkungen achten. Häufig verursachen die Mittel wegen ihrer dämpfenden Wirkung ein Taubheitsgefühl und machen müde. Insbesondere die Fahrtüchtigkeit ist dann oft nicht mehr gegeben. Am besten vor der Anwendung den Hausarzt konsultieren.
Ein Kurzüberblick über die verschiedenen Mittel und deren Wirkstoffe.
Antihistaminika Blockieren den Histamin-Rezeptor. Sehr bekannt: Dimenhydrinat, als Kaugummi oder Tabletten erhältlich (Vomex*, Reisegold*, Superpep*). Sollte ein bis zwei Stunden vor Ablegen genommen werden. Nebenwirkungen: Müdigkeit, Taubheitsgefühl im Mund. Parasympatholytika Beruhigen den Magen und unterdrücken den Brechreiz im Gehirn. Häufig empfohlen: Scopolamin, als Pflaster hinter das Ohr zu kleben, wirkt bis zu drei Tage und gilt als sehr effektiv. Nebenwirkungen können Sehstörungen, Trockenheit des Mundes und Antriebsschwäche sein. Calciumkanalblocker Wirken ähnlich wie Antihistaminika, sollen aber weniger müde machen. Cinnarizin ist ein bekannter Wirkstoff.
Weil die Ursache für Seekrankheit noch immer nicht gänzlich erforscht ist, gibt es diverse "Helferlein", die auf ganz verschiedene Arten Hilfe versprechen. Eine Auswahl.
Akupressurbänder Werden um ein Handgelenk getragen, eine kleine eingearbeitete Kugel drückt auf den Akupunkturpunkt P6/Nei-Kuan, der sich etwa zwei Fingerbreit hinter dem Handgelenk zwischen den Sehnen befindet. Dessen Stimulation soll gegen Übelkeit wirken. Das Armband soll mittels Druck einen bestimmten Energiepunkt unter der Haut aktivieren, der das allgemeine Wohlbefinden positiv beeinflusst. Die Heilmethode entstammt ursprünglich der traditionellen chinesischen Medizin. Der Methode wird jedoch auch ein Placebo-Effekt nachgesagt.
Horizontbrillen* An Deck kann der Blick auf den Horizont gegen Seekrankheit helfen. Unter Deck fehlt dieser, die Lageinformation des Gleichgewichtsorgans kann nicht optisch abgeglichen werden. Dabei sollen Spezialbrillen helfen, in die ein künstlicher Horizont eingearbeitet ist – entweder in Form von schmalen Balken, die um einen Drehpunkt kippen können, je nach Neigung der Brille, oder mittels eingefärbter Flüssigkeiten, die wie eine Wasserwaage wirken und dem Auge ebenfalls Lageinformationen verschaffen. Die Brille soll dem Gehirn vorgaukeln, dass sich alles in der Waagerechten befindet. Die Schiffsbewegungen werden fürs Auge von der in der Brille schwappenden Flüssigkeit eliminiert. Die Wirksamkeit ist ebenfalls nicht bewiesen.
Ohropax* Einen der Stöpsel zum Gehörschutz nur in ein Ohr stecken. Damit soll das Gleichgewichtsorgan beeinflusst werden. Auch das soll Seglern geholfen haben – oder doch nur ein Placebo-Effekt?
Um die Seekrankheit ranken sich zahlreiche Mythen, nicht zuletzt, weil die Ursachen des Phänomens noch immer nicht ganz geklärt sind. Ein besonders kreativer Vorschlag daher: Musik hören. Pop- oder Rocksongs mit etwa 100 bis 120 BPM (Beats per Minute) entsprechen ungefähr der natürlichen Herzfrequenz, das beruhigt angeblich. Der Situation angemessene Songs dürften etwa "I will survive" oder "Highway to hell" sein.
Gewöhnung Der Körper kann sich auf die Bewegungen der Yacht einstellen. Das dauert aber einige Stunden bis Tage. Deshalb während eines Etappentörns zuerst kurze Strecken segeln, möglichst bei moderaten Bedingungen. Auch oft segeln zu gehen kann helfen, also keine zu langen Etappenstopps einzulegen.
Reaktion Bei auftretender Seekrankheit ist es oft sinnvoller, die geplante Route wenn möglich zu ändern, statt stur auf dem Kurs zu beharren. Das kann ein Umweg um die Leeseite einer Insel herum sein, wo es weniger windig ist und die See ruhiger, wie auch dicht an einer Küste entlang bei ablandigem Wind. Oft beruhigen kleinere Kursänderungen die Yachtbewegungen merklich, sie können aber einen längeren Weg bedeuten. Auch eine Abweichung vom Törnziel kann viel bringen, also einfach einen dichter gelegenen Hafen anzulaufen und damit die Leidenszeit zu verkürzen. Es nutzt nichts, wenn die geplanten Ziele zwar noch so schön sind, nachher aber niemand mehr Lust hat weiterzusegeln.
Meiden Sie Mief: etwa von Erbrochenem, Exkrementen, Treibstoffen. Gerade bei stickiger Luft unter Deck sind sie ein sicherer Übelkeitsbringer. Keinesfalls sollte man sich bei aufkommender Übelkeit unter Deck aufhalten. Dort hat das Gehirn mangels Sicht auf den Horizont keinen visuellen Anhaltspunkt, die Bewegungen des Schiffs zu verarbeiten, und sendet folglich Alarmsignale an den Körper. Pfefferminzöl unter der Nase oder Bonbons mit ätherischen Ölen wie Menthol oder Eukalyptus können Abhilfe schaffen. Zumindest im Anfangsstadium der Seekrankheit hilft es meist, frische Luft zu schnappen und den Blick voraus auf den Horizont zu richten. Atmen Sie gleichmäßig und bewusst, ähnlich wie beim Yoga. Halten Sie den Kopf oben und drehen Sie den Körper mit, wenn Sie den Kopf drehen, das verringert die Diskrepanz zwischen gesehener und gefühlter Bewegung. Sitzen Sie in Fahrtrichtung. Achten Sie auf angemessene Kleidung! Denn Kälte bedeutet für den Körper Stress. Wer friert, belastet den Organismus unnötigerweise und verkehrt die positiven Effekte der frischen Seeluft ins Gegenteil.
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