Daniela Maier
· 26.08.2022
Segler müssen viele Rollen erfüllen – alle in Teilzeit. Umfassend kompetent fühlt sich folglich kaum jemand. Selbstzweifel helfen aber auch nicht weiter. Was tun?
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Menschen wollen über ihr eigenes Leben und Schicksal verfügen können. Sie wollen es in der Hand haben und nicht von anderen oder durch Unvorhergesehenes bestimmt werden. Sie wollen ihre Bedürfnisse nach Selbstbestimmung, Autonomie, Kontrolle, Freiheit und Sicherheit erfüllt wissen. Für Segler ist das allerdings nicht nur ein Wollen, sondern auch ein – freiwilliges – Müssen.
Auf See sind sie oft auf sich allein gestellt. Bei Schwierigkeiten können sie nicht einfach an der nächsten Welle nach dem Weg fragen, sich nicht in den Bootszubehörladen beamen, um ein Ersatzteil zu besorgen, nicht in die Notfallambulanz driften, um eine Verletzung behandeln zu lassen, und auch nicht mal eben Meeno Schrader nach der Bedeutung der Wolkenwand befragen, die da gerade aufzieht.
Entsprechend gilt es, ziemlich viele Rollen zu besetzen und interdisziplinäre Fähigkeiten zu besitzen. Gefragt sind Wissen und Können, handwerkliches Geschick ebenso wie körperliche und mentale Fitness. Angefangen beim Navigator über den Hausmeister und Handwerker, den Techniker, Elektroniker, Mechatroniker, Maschinenbauer, Meteorologen, Informatiker, Sanitäter, Werkstoffexperten, Bootsbauer und Segelmacher bis hin zum Schwimmer, Taucher, Astronomen und Ozeanografen.
Nur: Wie viel wovon ist eigentlich ausreichend? Wann bin ich genug in der jeweiligen Rolle? Komme ich überhaupt zu so etwas wie einer Grundkompetenz, wenigstens in den wichtigsten Disziplinen? Oder hat nicht vielmehr jeder Mensch ganz unterschiedliche Fähigkeiten, Stärken und folglich auch Defizite?
Es ist jedenfalls nicht verwunderlich, wenn sich auf See Selbstzweifel und Sorge vor der eigenen Unvollkommenheit einschleichen, mal bewusst, oft auch unbewusst. Vor der inneren Beunruhigung, fehlerhaft, unperfekt oder nicht genügend vorbereitet zu sein, ist niemand gefeit. Diese Zweifel kennt jeder.
Aber wo fange ich an und viel wichtiger noch: Wo höre ich auf? Für alles gibt es Scheine, Kurse, Seminare, Bücher, Zeitschriften, Links, Updates und Apps. Die Optimierung scheint schier unendlich.
Das geht schon los mit der Frage nach den nötigen Segelscheinen, die wiederum abhängt vom Segelrevier. Neben den geforderten Lizenzen wie SBF Binnen und SBF See brauche ich nach Bedarf auch das richtige Funkzeugnis und den Pyroschein. Freiwillig kann ich dann noch den SKS, SSS und SHS machen oder gleich den Yachtmaster. Dadurch könnte ich meine Perfektion in puncto Segeltechnik und Manöverabläufe steigern, mein Wissen sowieso. Oder wäre es am Ende nur eine Scheinsicherheit im doppelten Sinn?
Die Liste der Möglichkeiten ist damit längst nicht erschöpft. Wie gut können Sie eigentlich die Bordelektronik bedienen? Wann haben Sie das letzte Update für Kartenplotter oder Tablet aufgespielt? Ist der ein oder andere User nicht mittlerweile von der Kompliziertheit der Geräte überfordert? Und wie sicher ist die elektronische Navigation überhaupt? Was mache ich, wenn neben dem elektronischen Ausfall zusätzlich Sextant und Kompass über Bord gehen? Sollte ich meine terrestrischen Kenntnisse auffrischen und noch an Kursen in astronomischer oder womöglich polynesischer Navigation teilnehmen? Habe ich Gezeiten-App, Himmelskörper-App und mindestens zwei, drei Wetter-Apps auf dem Handy?
Ein paar Semester Medizin könnten auch nicht schaden. Während es bei einem Notfall an Land lediglich wenige Minuten dauert, bis professionelle Hilfe eintrifft, kann sich dies auf See Stunden bis Tage hinziehen. Insofern ist die Erste Hilfe an Bord für lange Zeit oft auch die einzige und sollte also kompetent durchgeführt werden können. Darüber hinaus müsste die Bordapotheke noch mit ein paar pharmazeutischen Kleinigkeiten mehr bestückt werden als empfohlen, DocMorris liefert schließlich noch nicht aufs Meer hinaus. Und dazu dann auch bitte noch ein Buch über Pharmazie. Ach, ich habe noch den Workshop für Tropenmedizin vergessen.
Und dann wollen wir nicht ausblenden, was so alles durch Feuchtigkeit, Salzluft, Wind und Wellen verschleißen und kaputtgehen kann an Bord. Eigentlich doch alles. Die starke Beanspruchung des Bootes und der Technik bis hin zum Segel führt zu langen Checklisten für Werkzeuge, Ersatz- und Verschleißteile nebst Schmier-, Klebe-, Dicht- und sonstigen Betriebsstoffen. Aber auch diese sind nur eine Annäherung an den Bedarf im echten Ernst- oder Notfall. Einen Anspruch auf Vollständigkeit wird keine noch so umfangreiche Teileliste je erfüllen.
Und: Nur vom Mitnehmen ist der Laderegler für die Lichtmaschine ja noch nicht ausgetauscht, die Sperrklinken der Winsch nicht eingesetzt, die Dichtung des Pumphebels für die Bordtoilette nicht verbaut, der Riss im Groß noch nicht mit Segeltape zuverlässig geflickt.
Auf die Handhabung und Wartung von Sicherheitswesten, Notfunkbaken und Rettungsinseln gehe ich an dieser Stelle lieber nicht ein. Kennen Sie sicher alles! Dito die Einklarierungsvorschriften, die Höchstmengen zollfreier Alkoholika-Einfuhr, den Umfang der erforderlichen Schiffspapiere, die zwingend nötigen sowie die sehr empfehlenswerten Spezialversicherungen. Hat man ja alles – oder!?
Auch Randbereiche der Skipper-Kompetenz lasse ich unerwähnt. Sie können die historische Bedeutung und die kulturellen Highlights Ihrer Törnziele vielleicht einfach mal googeln oder bei Wikipedia nachlesen. So was muss man sich nicht erarbeiten wie ein Proseminar in Sachen Urlaubsplanung. Sonst segeln einige angesichts dieser Flut von Vorbereitungen, Bedingungen und Erfordernissen am Ende gar nicht erst los – aus dem Gefühl heraus, der Sache und sich selbst ohnehin niemals genügen zu können.
Der Gedanke „Ich bin nicht genug“ ist in der Tat kein hilfreicher Trimmer, sondern ein schwer zu lokalisierendes Leck, leider. Er lässt Träume unerreichbar erscheinen. Es ist definitiv nicht möglich, alle Eventualitäten meistern zu können. Perfektionismus geht allzu oft einher mit Versagensängsten, Befürchtungen zu scheitern oder der Sorge vor dem Verlust von Wertschätzung und Ansehen.
Allerdings gilt es zu differenzieren: Dysfunktionale Perfektionisten sind gekennzeichnet durch eine übertriebene Besorgnis. Sie neigen dazu, sich ausschließlich mit den Problemen ihrer Leistung zu beschäftigen. Ihr Selbstwert ist zu stark mit Erfolg verknüpft, sie empfinden keine bedingungslose Güte oder Zufriedenheit sich selbst gegenüber und gehen häufig davon aus, dass auch andere so für sie empfinden. Darum versuchen sie mittels Höchstleistungen Anerkennung zu erfahren; sie machen ihren Selbstwert häufig vom Urteil Dritter abhängig.
Funktionaler Perfektionismus ist hingegen bei Personen zu finden, die ihr Bestes geben, sich intensiv bemühen und an Erfolg orientiert sind. Sollte die angestrebte Leistung jedoch nicht vollständig erreicht werden, kentert ihr Ego nicht gleich. Sie verlieren sich nicht in negativen Emotionen oder einer übertriebenen gedanklichen Beschäftigung mit dem vermeintlichen Misserfolg. Schaffen sie etwas, und sei es nur so lala, freuen sie sich und empfinden Stolz.
Also: Treten Sie ruhig in den Dialog mit Ihrem inneren Kritiker, aber in dem Bewusstsein, dass der nur bis zu einem gewissen Punkt wertvoll sein kann. Es ist ja nicht so, dass wir nicht generell an uns arbeiten sollten. Vergessen Sie jedoch nicht Ihre Stärken und Kompetenzen. Gewinnen Sie einen realistischen Blick auf sich selbst. Fragen Sie andere, worin sie Ihre Begabungen, Ihr Können und Ihre Fähigkeiten sehen.
Vor allem aber: Lassen Sie sich beim Segeln nicht von den Erwartungen vermeintlicher Könner überfrachten. Denn das kann unsicher machen, lässt Leidenschaften vergessen, steigert den Druck, Fehler vermeiden zu müssen, und führt zu Versagensängsten. Lassen Sie sich lieber auch von Fehlern berichten – vor allem von denjenigen Menschen, die mit Offenheit und Bereitschaft darangehen, dass Fehler passieren und dass man ihnen auch etwas Positives abgewinnen kann. Fehler als Chance zu begreifen führt zu mehr Zufriedenheit.
Es wird fast immer jemanden geben, der in einer der oben genannten Rollen besser und kompetenter ist als man selbst. Aber jeder hat irgendwo Defizite, blinde Flecken. Deshalb: Machen Sie mal, aber machen Sie sich keinen Kopf. Zu viel Nachdenken hält vom eigentlichen Vorhaben ab. Üben Sie sich im Loslassen! Geben Sie der Freiheit, dem Abenteuer und dem Lernen eine Chance. Nicht alles muss geplant, erledigt und mit Eins plus gemeistert werden. Denn ein gewisses Restrisiko bleibt stets.
Boris Herrmann beschreibt es in dem Prolog zu seinem Buch „Allein zwischen Himmel und Meer“ wie folgt: „Es lohnt sich, alles zu versuchen, um einen Lebenstraum zu verwirklichen. Die Hürden sind hoch, die Risiken zahlreich. Aber das größte Risiko wäre, es nicht zu versuchen.“
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