Lasse Johannsen
· 16.04.2023
Mancher Segler pflegt Rituale, die auf den ersten Blick seltsam anmuten. Häufig jedoch verbirgt sich selbst hinter den schrulligsten Marotten eine tiefere Bedeutung. Ein Essay über gewöhnlich Ungewöhnliches
“Heute segeln auf See viele langweilige Leute“, beginnt Wolfgang J. Krauss seine Kurzgeschichte „Ausverkauf in Originalen“. Er darf das sagen. Als Vater des Seglers Gustav ist Krauss gewissermaßen Experte in Sachen Original zur See. Über viele Jahre zauberte der Autor den YACHT-Lesern mit Gustavs drögen Kommentaren ein Lächeln auf die Lippen. Und er verlieh jener einseitig maritimen Weltanschauung eine Stimme, die der Verstand ablehnt, aber das Herz liebt.
In seiner eingangs zitierten Erzählung geht es um ebenjenes Genre: „Wo sind all die schrulligen Käuze geblieben, die zu Großvaters Zeiten mit ihren seltsamen Schiffen und oft noch seltsameren Abenteuern ständigen Gesprächsstoff lieferten?“, fragt Krauss. Und dann erzählt er vom alten Westhoff, einem Strafverteidiger aus dem Berlin der zwanziger Jahre.
Westhoff ignoriert die Wirtschaftskrise, indem er seinen Vorkriegslebensstil beibehält und Wochenende für Wochenende mit einem Maybach samt Chauffeur im Stettiner Yachtclub vorfährt. Dort besteigt er seine 20 Meter lange Gaffelketsch „Obotrit“, deren Messingbeschläge vom angestellten Bootsmann Juler während der Woche auf Hochglanz poliert wurden.
Doch ein weltfremder Versuch, sich über die Wirklichkeit hinwegzusetzen, macht noch kein segelndes Original. An Bord gehört mehr dazu. Auf See sind es für Außenstehende kaum nachvollziehbare Rituale, die das individuelle System Schiff-Skipper-Crew prägen. Gewohnheiten, die über die zeremonielle Flaggenparade, das Kratzen am Mast bei Flaute oder den rituellen Schluck für Neptun vor der Sherrytime um 11 Uhr hinausgehen. Kultische Handlungen, die nur auf diesem einen Schiff oder nur von diesem einen Segler bekannt sind.
So auch beim alten Westhoff. „Wer einmal auf der ‚Obotrit‘ eine Reise mitgemacht hatte, konnte seine souveräne Handhabung der Navigation nicht mehr vergessen“, schreibt Krauss. Westhoff habe im Laufe seines Lebens alle Kurse, die sein Schiff jemals gesegelt sei, in eine Kladde eingetragen und dazu Notizen gemacht, welche Missweisung und Deviation anzubringen waren.
„Das war ein dickes Buch geworden – ein Vademekum, das auf jede Frage eine Antwort wusste. Westhoff verabscheute deshalb auch das, wie er sagte, ‚affektierte‘ Hantieren mit Deviationstabellen, Kursdreiecken und Parallellineal. Fragte man ihn nach dem neuen Kurs, sah er nur kurz in sein Taschenbuch und sagte: ‚Zweihundertfünfundneunzig bis zum Feuerschiff, von da ab zweihundertsiebzig.‘ Das war alles.“ Höchstens habe er noch beiläufig den Anhang des Buches aufgeklappt und hinzugefügt: „Bei Ostwind setzt hier der Strom zwei Knoten nach Norden“ oder „Vor fünf Jahren schwamm hier eine losgerissene Untiefentonne Süd“.
Bei näherer Betrachtung ist den Ritualen an Bord bei aller Verschrobenheit gemein, dass sie eine Funktion haben, mögen sie auch noch so ungewöhnlich erscheinen. Im Fall des Westhoff’schen Vademekums – der nautische Wert sei einmal dahingestellt – diente der Ritus schlicht der Orientierung.
Weitaus häufiger sollen Rituale die Moral der Besatzung stützen. So beispielsweise die an der Küste berühmt gewordene Trottellummen-Mütze der „Rubin“. Wohl kaum eine Crew wurde jemals einem größeren Spannungsfeld von Tradition und Moderne ausgesetzt als die Mitsegler des Grandseigneurs der Offshore-Szene Hans-Otto Schümann auf seinen diversen Yachten dieses Namens. Hier das Hightech-Material, stets den aktuellsten und exklusivsten Stand des derzeit im Bootsbau Möglichen widerspiegelnd. Da der Skipper alter Schule, die Schiffermütze auf dem Haupt, im Zwiegespräch mit Rasmus um den Sieg bittend und selbst im härtesten Gefecht dem Gegner in sportlichster Höflichkeit begegnend.
Vielleicht war das ein perfekter Nährboden, denn mit der Zeit entwickelten sich ganz individuelle Bräuche. So beispielsweise die Verleihung besagter „Trottellummen-Mütze“, einer Kopfbedeckung aus Ölzeugstoff mit karnevalistischen Wurzeln. Sie sollte, so der Ursprungsgedanke, stets jenem Crewmitglied aufgesetzt werden, das den größten Patzer des Tages zu verantworten hatte. Wer an der Leetonne das falsche Fall losgeworfen oder nach dem Einlaufen zum falschen Glas gegriffen und dem Eigner seinen Sherry weggetrunken hatte, dem war die Mütze sicher.
Eine ähnliche Trophäe taucht in der Segelliteratur bei Barrawitzka auf, dem illustren Chef einer Wiener Chartercrew, der Torheiten seiner Mitstreiter durch die rituelle Verleihung einer Blindenbinde strafte. Während die zum Erstaunen mancher Beobachter sogar während der Hafenmanöver getragen werden musste, veränderte sich die Lebenswirklichkeit der Maßnahme auf „Rubin“ rasch. Wer die Crew mit einer Runde Gin Tonic beköstigte, konnte sich aus der Schmach, mit einer Trottellummen-Mütze an Deck herumlaufen zu müssen, rauspauken. Der Effekt aber, die Crew zu disziplinieren, blieb erhalten.
Die Freude am Ritual hat auf der Fellowship 27 „Jytte“ dazu geführt, dass die Crew um ein Badekrokodil erweitert wurde. Es heißt Ollo, wacht unter Deck und darf im Hafen über Bord ins Wasser – dafür hat Ollo eine eigene Klampe, auf der seine Sorgleine belegt wird, damit er nicht verlorengeht.
Das Besondere an Ollo: Ohne eine steile Karriere hingelegt zu haben, hat er sich doch schon an die Spitze der Bordhierarchie emporgedient: Denn Ollo wird regelmäßig in einer feierlichen Zeremonie befördert. Das Gummi-Reptil ist mittlerweile elf Jahre alt und hat es immerhin schon bis zum Hauptbootsmann gebracht.
Ob Ollo den Sprung ins Offizierskorps schafft, wird von der Besatzung der „Jytte“ allerdings noch diskutiert, denn die ist ohnehin kopflastig, und es fehlt an Mannschaft. Aber es spricht viel dafür, dass die Entscheidung zu seinen Gunsten ausfallen könnte. Denn in der Vergangenheit wurden seine neuen Dienstgrade immer zünftig gefeiert. Mit Marschmusik und Sherry – Ende offen.
Dass auch die Beförderung dieses Bord-Maskottchens eine Funktion erfüllt, wird an den Leistungskriterien deutlich, die das Gummikrokodil für den Aufstieg zu erfüllen hat: Der neue Dienstgrad ist die Belohnung für vorbildliche Haltung bei ausgemachtem Schietwetter. Der schlimmste Sturm eines Sommers findet in diesem Ritual seine Auflösung. Diese größtmögliche Entspannung ist damit das stärkste Ass im Ärmel des Skippers, um nach einem harten Tag die Stimmung wieder herzustellen.
Es gibt aber auch Bräuche, die sich ganz regulär aus der Suche nach einer Problemlösung heraus entwickelt haben. Die Reise nach Jerusalem ist so ein Fall. Kehrt eine Ausbildungsyacht des Akademischen Seglervereins in Kiel zurück an die heimatliche Pier vor dem Bootshaus, gilt es nach dem Aufklaren, den Proviant von Bord zu schaffen.
Naturgemäß ist dabei das Interesse an der offenen Rumflasche größer als das an der angebrochenen Margarine. Damit dennoch alles ohne Hauen und Stechen unter den Crewmitgliedern verteilt wird, wurde das Gesellschaftsspiel leicht abgewandelt. Reihum muss jeder Teilnehmer – wer nicht mitmacht, bekommt gar nichts – innerhalb von 30 Sekunden einen Gegenstand wählen, dann kommt der Nächste dran, bis nichts mehr da ist. Vorzeitiges Aussteigen ist nicht erlaubt.
Auch dafür, dass die Mannschaft gründlich Reinschiff macht, sorgt auf dem „Peter von Danzig“, dem Flaggschiff des Vereins, ein lange etablierter Brauch. Genauer gesagt, Bilgo sorgt dafür. Bei Bilgo handelt es sich um einen Elefanten, der in der Bilge sein Dasein fristet. Wo genau, weiß niemand. Bis es eben ans Putzen geht. Ist Bilgo noch nicht gefunden worden, war die Reinigungsarie nicht gründlich genug. Wenn alles wieder blitzt, sollte auch der Elefant wieder aufgetaucht sein, und es gehört zum Ritual, ihn nun für die nächste Crew zu verstecken.
Wissend, wie gut sich ganze Mannschaften durch solche Zeremonien beeinflussen lassen, sind sogar schon Skipper auf die Idee gekommen, vorbeugend tätig zu werden. Das wohl prominenteste Beispiel, wie eine Crew durch zeremonielle Handlungen zu Höchstleistungen angetrieben werden kann, stammt von Sir Peter Blake.
Blake verstand es, die magischen Kräfte seiner roten Socken einzusetzen. Die hatte der fünfmalige Teilnehmer am Whitbread-Rennen um die Welt, dreifache Gewinner des Sidney-Hobart-Rennens und zweifache America’s-Cup-Triumphator während aller erfolgreichen Kampagnen dabei. Seine Frau sorgte dafür, dass sie im Seesack landeten, die Crew dafür, dass der Skipper die Kraft der Socken im entscheidenden Moment nutzte.
„Beim Sieg im Whitbread Round the World Race haben wir dank meiner Glückssocken scheinbar aussichtslose Rückstände aufgeholt. Vor Fremantle lagen wir eines Abends 35 Meilen zurück. Bei Flaute. ‚Los, Peter, zieh die Socken an‘, hat die Crew gefordert – und am nächsten Morgen lagen wir 35 Meilen in Front. Ohne Wind!“
In einer Segelnation wie Neuseeland hat die Bevölkerung Verständnis für solch einen Spleen. Mehr noch: Die America’s-Cup-Kampagne 1995 wird durch den Verkauf von roten Socken mitfinanziert. Innerhalb einer Woche kommen eine Million Dollar zusammen – und Neuseeland segelt zum Sieg.
Nur ein Rennen verlieren die Kiwis, da ist Sir Peter mit seinen roten Socken nicht an Bord. Der Cup wird frenetisch gefeiert – in roten Socken. „Der Premierminister, die Elefanten im Zoo, Schafe, Hunde, Marinesoldaten, Schauspieler im Theater, Rennpferde – alle sind darin herumgelaufen“, erinnerte sich Blake noch Jahre später.
Sein Ritual hat den Ausnahmesegler überlebt und erfüllt mittlerweile ein ganzes Land mit seiner magischen Wirkung. 2015 veranstaltet der Sir Peter Blake Trust bereits zum 20. Mal den jährlich stattfindenden „Red Socks Day“. Am 3. Juli wird das „Nationalsymbol für den Kiwi-Geist“ gefeiert. Mehrere Hundert Schulen, Unternehmen und Organisationen nutzen den Tag, um die Besten unter ihren Mitgliedern auszuzeichnen. Sogar einen Film haben die Verantwortlichen gedreht.
„Wenn die Leute meinen, das sei Aberglaube, dann bin ich abergläubisch!“, hatte der neuseeländische Segelheld stets gesagt, wenn er auf seine roten Socken angesprochen wurde. Und im Hinblick auf seinen Erfolg ist nicht sicher, ob er damit sagen wollte, dass von ihnen tatsächlich eine Kraft ausgegangen ist oder ob die Vorstellung allein ihre Wirkung ausgemacht hat. Es darf aber auch dahinstehen. Sicher ist, dass sich Rituale mit spirituellem Einschlag auf vielen Yachten finden, seien sie nun ernst gemeint oder nicht.
Der Kieler Segelmacher Uli Münker beispielsweise klopft auf Holz, wenn sich eine Wettervorhersage nicht erfüllt, „um Fortuna und die maritimen Gottheiten wieder zu besänftigen“. Aber auch über Rituale mit christlichem Hintergrund wird berichtet. So hat sich an Bord der Kreuzeryacht „Andromeda“ zu Zeiten ihres ersten Eigners, des Großindustriellen Johannes H. Plettenberg, die Crew im Salon versammelt, wenn Flaute war. Plettenberg selber wachte über diesen Brauch. Er war es auch, der die Stimme dann regelmäßig an die Mannschaft richtete und eine Bibelstunde abhielt. „Schon wer auf seinen Glaubensbruder bloß zornig ist, gehört vor Gericht!“, antwortete Plettenberg unter Berufung auf den Evangelisten Matthäus, wenn sich aus der Crew Widerspruch regte gegen die traditionelle Lesung.
Geradezu sprichwörtlich im Zusammenhang mit unsichtbaren Energien ist die Kraft der Musik. Deren Wirkung machte sich das Team Shosholoza regelmäßig zu eigen, als es im Jahr 2007 zu den Regatten des 32. America’s Cup in die Schlacht zog. „Es war alles sehr stimmig“, erinnert sich Profisegler Tim Kröger, damals als Boat-Captain einer der erfahrensten Männer an Bord. „Das Schiff hieß so, das Team hieß so, und der Song hieß eben auch so.“
Kröger erinnert sich noch gut an die Wirkung des Rituals: „Wir haben automatisch für einen kurzen Moment innegehalten und sind uns bewusst geworden, was uns das Projekt bedeutet.“ Denn die Shosholoza-Kampagne steht bis heute nicht allein für großartige Leistung, sondern auch für sportliche Symbolkraft.
Die Sieger der Herzen von 2007 starteten nämlich als erste Mannschaft der Cup-Geschichte mit Crewmitgliedern schwarzer Hautfarbe zu diesem elitärsten Segelwettbewerb der Welt – eine Veranstaltung, die bis dahin als Relikt einer Zeit galt, in der die Tür zum Spitzensegelsport nicht jedem offenstand, der dazu fähig gewesen wäre. Nicht nur die Südafrikaner in der Mannschaft, die mehr Idealismus als Cup-Erfahrung mitbrachten, bekamen daher eine Gänsehaut, wenn ihr traditionelles Volkslied Shosholoza beim Auslaufen erklang.
Ein geringes Zuviel oder Zuwenig schon kann den männlichen, edlen Sport zur unwürdigen, kindischen Spielerei herabdrücken.“
Und so dürfte es auch für Außenstehende klar gewesen sein, dass hier ein ernsthafter Sinn hinter dem Bordritual zu finden war. Übrigens eine unabdingbare Voraussetzung dafür, dass ein Kult und kein Klamauk daraus wird. Denn das wusste man in Seglerkreisen schon vor über hundert Jahren: „Wenn es überhaupt im Leben vom Erhabenen zum Lächerlichen nur ein Schritt ist, so ist im Yachtsport dieser Schritt ziemlich klein.“ So formulierte es Kapitänleutnant Muchall-Viebrock bereits 1889 in „Seglers Handbuch“: „Ein geringes Zuviel oder Zuwenig schon kann den männlichen, edlen Sport zur unwürdigen, kindischen Spielerei herabdrücken.“
Am Ende irrt der Original-Experte Krauss mit seiner steilen These vom langweiligen Segler unserer Zeit also vielleicht, und es ist nur die Angst vor dem Gesichtsverlust, die den spleenigen Teil des Bordlebens in Nebel hüllt.