The Ocean RaceEin Tag an Bord von „11th Hour Racing“

Jochen Rieker

 · 11.01.2023

Segelsetzen auf "11th Hour Racing" – für den Menschen am Grinder ein Knochenjob
Foto: YACHT/Jochen Rieker
Mitsegeln an Bord von ”11th Hour Racing”, einem der Topfavoriten für The Ocean Race

Segeln wie auf einem fliegenden Teppich: Wie sich 18 bis 20 Knoten Fahrt am Wind anfühlen, warum die jüngste Generation der Imocas ein Eigenleben hat und welche ganz vorsichtigen Schlüsse sich aus den bisherigen Wettfahrten vor dem Start zu The Ocean Race am Sonntag ziehen lassen

Nach dem windarmen In-Port Race stand gestern eine Übungsregatta auf dem Programm für die Teams im Ocean Race. Auch für dieses versprachen die Wettermodelle wenig Aufregendes. Doch statt einem erwarteten 160-Grad-Dreher von Nordwest auf Südost, der am frühen Nachmittag die Brise killen würde, stand der Wind mit 14 bis 16, in Böen sogar 18 Knoten durch. Es sollte einer der Tage werden, die sich unauslöschlich in gleich beide Gehirnhälften einbrennen.

Die Wettfahrtleitung schickte die VO65 am Mittag eine Viertelstunde vor den Imoca 60 auf einen langen Up-and-Down-Kurs. Von der Startlinie vor dem Hafen von Alicante ging es westsüdwestwärts zur Illa de Tabarca und retour, etwa 20 Seemeilen. Weil der Wind leicht nach links drehte, war es eine Art Autobahnfahrt: erst auf etwa 60 bis 65 Grad zum Wind zur Insel, nach der Tonnenrundung raumschots mit 120 bis 130 Grad TWA zurück ins Ziel.

Strahlender Sonnenschein und milde Temperaturen um die 18 Grad setzten den perfekten Rahmen für die Regatta, die nicht so sehr einem echten Kräftemessen diente, sondern dazu, Journalisten und Kameraleuten einen Eindruck von der Arbeit an Bord zu vermitteln. Die Wettfahrtleitung nutzte den Probeschlag außerdem dazu, sämtliche Kommunikationsmittel der Kontrahenten zu testen, darunter Satellitentelefon und E-Mail.

Wir waren an Bord von Charlie Enrights „11th Hour Racing“, dem Team mit der längsten Vorbereitungsphase. Es ist das einzige, das seinen Imoca gezielt für The Ocean Race entwickelt hat, also für das Segeln mit Crew und – auch das nicht unerheblich – für einen ursprünglich anders geplanten Kurs über China.

Deshalb ist das Verdier-Design breitbandiger ausgelegt, weniger auf schnelle Raumschots-Ritte im Southern Ocean hin optimiert. Es ist deutlich länger in der Wasserlinie; der Bug ragt nicht annähernd so weit über die See wie bei den jüngeren Entwürfen „Biotherm“, „Holcim – PRB“ und Boris Herrmanns „Malizia – Seaexplorer“. Auch hat der Rumpf weniger Kielsprung, also ein flacheres Unterwasserschiff.

Wie stark sich das im Rennen auswirkt, das wegen des Wegfalls des Stopps in Asien jetzt weitaus stärker der Vendée-Globe-Route ähnelt, bleibt abzuwarten. „Es ist, wie es ist“, sagt Amory Ross, der On-Board-Reporter des Teams. „Wir werden das Beste daraus machen.“ Charlie Enright ergänzt: „Auf allen Kursen zwischen 60 und 120 Grad TWA (dem wahrem Windeinfallswinkel, d. Red.) fühlen wir uns sehr wettbewerbsfähig.“ Nur bei tieferen Kursen fehlten „ein paar Prozentpunkte Leistung“.

Seine Stärke demonstrierte das Team gleich nach dem Start eindrucksvoll. Obwohl Enright nicht als Erster über die Linie ging und ganz in Lee des Feldes startete, brauchte „11th Hour Racing“ nicht lange, um seine Dominanz auszuspielen ­– und die der neuesten Foiler-Generation insgesamt.

Anfangs mit 10 bis 12 Knoten Geschwindigkeit und zwischen 15 und 18 Grad Lage unterwegs, preschte das Boot wenige Momente später fast waagrecht getrimmt schon mit 14 bis 16, später 18 bis 20 Knoten übers Wasser – und an allen vorbei, auch an der anfangs leicht in Luv voraussegelnden „Biotherm“, die ihrerseits eine Wolke feinst verwirbelter Gischt in die Sonnenstrahlen schickte.

Das Boot schien dabei zu schweben – nur ab und an ging ein leises Stuckern durch den Rumpf, ausgelöst von den Wellen, deren Kraft von der Elastizität des Leefoils leicht gedämpft wird. Man fühlte sich wie auf einem fliegenden Teppich, mit dem Unterschied, dass das Boot dabei lediglich partiell aus dem Wasser gedrückt wird. Und dass auf „11th Hour“ das hochfrequente Singen von Foil, Kielfinne und Rudern, das man von anderen Konstruktionen kennt, ganz ausblieb. Ein in jedem Sinne des Wortes erhabener Moment!

Auf einem tiefen Amwind-Kurs deutlich schneller als der Wind segeln, auf Booten, die für alle Wetter gebaut sind – das ist Next-Level-Offshore-Sailing

Amory Ross, der schon auf Volvo 70 und zweimal auf VO65 um die Welt gefahren ist, sagt: „Wir sind hoch am Wind vielleicht fünf bis zehn Prozent langsamer als die bisherigen Klassen, aber beim Reachen 50 Prozent schneller.“ Sein Crew-Kollege Simon „SciFi“ Fisher, einer der gefragtesten Navigatoren und Profisegler, ist sich deshalb sicher, dass Rekorde fallen werden, mindestens die 24-Stunden-Bestmarke für die längste gesegelte Distanz. „Im Training haben wir schon mehr als 560 Seemeilen geloggt“, sagt er, und hält auch 600plus-Etmale für machbar. Das wäre nahe dran am absoluten Rekord, den bisher der 100-Fuß-Supermaxi „Comanche“ hält!

Das ungeheure Potenzial der Imoca 60 ließ sich erahnen, als die anfangs weit am Horizont segelnden VO65-Boote kurz vor der Luvtonne in immer greifbarere Nähe rückten. Ein paar mehr Meilen, und Charlie Enright hätte die Letzten im Feld überholt. Das ist der Unterschied, den die Foils machen – und das erklärt auch die Faszination der Segler für diese im Ocean Race erstmals eingesetzte Klasse der Imocas.

Nun waren gestern die Bedingungen ideal: kaum Welle, weil es ablandig wehte, relativ konstanter Wind. Wie es auf „11th Hour Racing“ im Seegang zugehen muss, wenn es mit 25 oder 30 Knoten weht und die Logge zwischen 25 und 35 Knoten Speed pendelt, mag man sich nicht vorstellen. Ein Indiz geben die überall montierten Halteleinen, Griffe und die mit 20 Millimeter Schaumstoff beklebten Decksspanten in der Cockpit-Kanzel. Dann muss das Segeln einem 100-km/h-Ritt auf einem Kartoffelacker ähneln.

„Jenseits von 25 Knoten Geschwindigkeit haben diese Boote ein Eigenleben“, sagt Amory Ross. „Unsere Aufgabe als Crew besteht darin, sie in den Bereich zu bringen – danach machen sie im Prinzip, was sie wollen.“ Ross ist ein mit allen Wassern gewaschener Profi, erfahren, schlau, sicherheitsbewusst, aber auch weitgehend angstfrei. Sein Skipper, Charlie Enright, sagt von sich selbst, er sei „ziemlich risikotolerant“. Und dennoch schwingt, wenn sie von ihrem Boot berichten und seinem Potenzial, eine Mischung aus Faszination und fassungsloser Ehrfurcht mit. Ross drückt es so aus:

Die Grenze zwischen Nummer sicher und Vollgas ist sehr, sehr schmal. Ehrlich gestanden kennen wir sie noch nicht genau.“

Das Team von „11th Hour“ hat in der vorigen Saison viel mit anderen Imocas trainiert, darunter mehrere Schläge gegen „Charal“, aber auch den Booten, die im Pole Finisterre organisiert sind, dem wohl exklusivsten Hochsee-Trainingszentrum der Welt. „Wir sind ganz zuversichtlich“, sagt Charlie Enright.

Simon Fisher glaubt, dass anders als in den vergangenen Editionen des Ocean Race diesmal die Teams entsprechend der Charakteristik ihrer Imocas ihre eigene Kurswahl treffen, dass es keine Flottillenfahrt im Stil einer Prozession wird, mit einem Führungsboot und dahinter aufgereiht die Perlenkette der Wettbewerber.

Gestern zeigte sich, zumindest auf den beiden langen Schlägen, dass „11th Hour Racing“ in bestechender Form ist: nicht nur das Boot, auch die Crew, zu der die beiden sehr erfahrenen Frauen Francesca Clapcich und Justine Mettraux zählen. Erwartbar stark segelte auch Kevin Escoffiers „Holcim – PRB“. Nach der wenig überzeugenden Leistung im In-Port Race hatte das Team etwas gutzumachen. Am Wind dauerte es etwas, bis das Verdier-Design mit dem Löffelbug in Schwung kam, es schloss dann aber kurz vor der Luvtonne spürbar auf „11th Hour Racing“ auf und entschwand raumschots in Lee zum letztlich bedeutungslosen, psychologisch aber fraglos wertvollen Sieg in der Trainings-Regatta. Den Status des Mitfavoriten untermauerte Escoffier damit einmal mehr.

Interessant war die Leistung von „Malizia – Seaexplorer“. Auf dem ersten Bahnschenkel noch nicht ganz bei der Musik, wählte Boris Herrmanns Crew raumschots die richtige Linie, segelte die Böen gut aus und zog auf den Foils zunächst zügig an „11th Hour“ vorbei, ohne sich aber absetzen zu können.

Das Boot mit dem stärksten Kielsprung saß dabei auffällig weit achtern im Trimm, so als nutzte die Crew die Ballasttanks, und hob den Rumpf vorn weit aus und übers Wasser – ein Modus, der offenbar gut funktioniert. Die neuen Foils jedenfalls scheinen kein großes Handicap zu sein; das Team spricht tatsächlich davon, dass sie in bestimmten Bereichen besser funktionieren als die alten, was fürs Rennen vielversprechend klingt.

„Biotherm“ und „Guyot Environnement – Team Europe“ konnten oder wollten die Pace der Führenden nicht mitgehen. Vielleicht geben die Pro-Am-Regatten am Donnerstag und Freitag neue Eindrücke. Dann sind Sponsoren mit an Bord, weshalb die Crews ernsthafter um Platz und Sieg kämpfen werden als gestern. Charlie Enright jedenfalls briefte sein Team schon mal entsprechend: „Bis auf Weiteres kommt es nicht aufs Ergebnis an; da segeln wir vorsichtig. Ab Freitag sind wir voll im Regatta-Modus.“


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