Kabelstränge hier, abgesperrte Kabinen dort und hie und da blitzt ein fertiges Furnier auf. Abgesehen von Stolperfallen und Kopfstoßstellen herrscht auf schwimmenden Großprojekten in der Ausrüstungs- und Ausbauphase ein herrliches Gewusel aus Gewerken. Wie Yachtbau am offenen Herzen fühlt es sich bei Vitters’ 69 Meter messendem Alu-Bau „Project Zero“ an.
In Zwartsluis unweit des IJsselmeeres beschäftigt die Werft 85 Mitarbeitende und schweißt Rümpfe in eigenen Hallen, sofern es die Kapazitäten zulassen. Der von „Project Zero“ wurde ob der vollen Auftragsbücher untervergeben und steht seit August 2023 in der eigenen Halle. Jetzt im Winter 2024 müsste das Ziel in Sichtweite sein, doch existiert für dieses Projekt nicht einmal ein Stichtag für den Stapellauf. Es ist kompliziert – und das nicht in dem für One-offs üblichen Sinne. Den Schwierigkeitsgrad erhöht der Wunsch der Eigner nach ranken, eher klassischen Linien, denen man die Innovationsfülle oberhalb der Wasserlinie nicht ansieht.
Unter Deck schon. „Das ist der Systemraum“, sagt Sales- und Marketing-Mann Bas Peute und legt eine rhetorische Pause ein. „Hier kommt kein Verbrennungsmotor rein, daher der Name.“ Ungläubiges Kopfschütteln. Wirklich nicht? Auch kein Notstromaggregat oder Range Extender? „Nein, nein, nein, es kommt kein Generator und kein Kraftstoff an Bord.“ Peute lächelt zufrieden. Statt Dieselbunker wird es im Unterwasserschiff vier geschlossene Räume voller Batterien geben, die insgesamt beinahe fünf Megawattstunden Strom bereitstellen. Das Äquivalent auf der Straße wären 77 Tesla-Autos (bei 65 kWh im Mittel).
Auf dem Wasser geht es um Auftrieb. Und da galt es, „Zeros“ Rumpf schmal zu halten, damit Raum nach unten für den Ballast aus 35 Tonnen Batterien entsteht und diese neben dem Liftkiel zum aufrichtenden Moment beitragen. Im Superyachting ist es der unangefochtene Akku-Rekord. Zum Vergleich: Die mit 4,5 Megawattstunden größten Akkus an Bord einer Motoryacht fahren mit der 84-Meter-Feadship „Obsidian“; 150 Meter lange Fähren setzen auf zehn Megawattstunden Kapazität.
Was passiert, wenn zu irgendeinem Zeitpunkt die Batterien auf hoher See leer sein werden? Der gesamte Segelplan sei dahin gehend optimiert, dass sich die Mega-Ketsch schon bei leichten Winden in Bewegung setzt – und dann soll ab acht Knoten Fahrt Energie über das Mitdrehen des vorderen Propellers erzeugt werden. Das würde den angepeilten Mindestbedarf an Energie von knapp 30 Kilowatt abdecken, den das Team aus Verbrauchsstudien mit Werten anderer Yachten ermittelte. Schnell soll es unter Segeln vorangehen. „Das Team von Dykstra hat für die gängigen Routen Winddaten aus 30 Jahren analysiert und daraufhin den Segelplan entwickelt“, so Peute. Es gibt aber auch ein oberes Limit für die Regeneration. Mit bis zu 16,5 Knoten darf die 69-Meter-Ketsch aufgrund der Drehzahlbegrenzung des Getriebes im Hydrogenerator-Modus segeln. Dann sollen bis zu 250 Kilowatt gewonnen werden. „Das ist 50-mal so viel wie mit Solarzellen“, sagt Mark
Leslie-Miller von Dykstra Naval Architects.
Für die hydrodynamische Optimierung des Antriebs- und Regenerationssystems zog Leslie-Miller die niederländische Versuchsanstalt Marin zurate. „Zero“ setzt auf zwei Pod-Antriebe: eine kleinere nach vorn gerichtete Einheit vor dem Kiel, die auf Energierückgewinnung optimiert ist und bei Hafenmanövern unterstützt. Die größere Propellergondel – Durchmesser: 1,50 Meter – hinter dem Liftkiel generiert vornehmlich Vortrieb und wird zur zusätzlichen Stromerzeugung um 180 Grad gedreht. CFD-Simulationen ergaben, dass ein Propeller, der vorrangig für die Stromerzeugung eingesetzt wird, effizienter arbeitet und weniger kavitiert. Die Konsequenz für den vorderen Faltpropeller sind drei schmale Blätter, die an Turbinenschaufeln erinnern. Bei der Hydrogeneration war geringer Widerstand höher gewichtet als Ertragsteigerung. So soll „Zero“ beim zügigen Segeln und dem mitdrehenden Front-Propeller nur etwa ein Knoten Fahrt einbüßen.
Zwangsläufig und getreu dem Motto „Es ergibt keinen Sinn, etwas zu erzeugen, das man nicht braucht“ konzentrierte sich das Team auf Einsparungen und setzte an den mit knapp 50 Prozent größten Energieverbrauchern an: Klimaanlage und Heizung. Peute lenkt den Blick auf den Rumpf, den Melaminschaum bedeckt, ursprünglich entwickelt für Schalldämmung und mit exzellenten Isoliereigenschaften bei niedrigen und hohen Temperaturen. Der Verzicht auf Dämmstoffe aus Steinwolle bedeutet auch, dass es keine Rumpf-Verbinder und damit keine Wärmebrücken gibt. Zudem trennen alle Innenraumpaneele dicke Tufnol-Scheiben vom rohen Außenmaterial, damit keine Wärme in die Gästebereiche dringt. Das harzgetränkte Hartgewebe hängt auch zwischen den Edelstahlstützen zum Boden des Deckshauses der achtern gelegenen Eignerkabine.
Die Aufbauten bestehen nicht etwa aus Gewichtsgründen aus Carbon, sondern überzeugen gegenüber Aluminium durch bessere Dämmwerte. Auf den Dächern sollen trotz der starken Propellerturbine 100 Quadratmeter Solarpaneele glänzen. Der Grund: Sie dienen gleichzeitig der Thermie und erwärmen das Solarfluid. Denn innen wird geheizt oder abgekühlt über Wandpaneele, durch die heiße oder kalte Flüssigkeit läuft. Beim Deck geht es auch um niedrige Wärmedurchgangskoeffizienten: Hier liegt eine auf den metallenen Untergrund zugefräste, drei Zentimeter dicke Korkschicht unter den Stäben, die zudem Spachtel einspart. Verlegt wird Tesumo – die Alternative zu Teak aus natürlichem, schnell wachsendem Holz.
„Project Zero“ soll Ende des Jahres aus der Halle kommen, die Ablieferung strebt Vitters irgendwann 2026 an. Bas Peute: „Normalerweise starten wir mit abgeschlossener Spezifikation. Hier haben wir das nach wie vor nicht. Das ist der größte Unterschied zu konventionellen Projekten, die uns planbare 70 Wochen abverlangen.“ So sei nicht entschieden, welche Art Batterien an Bord kommen. Während des Baus führen die Innovationen zu Verzögerungen, in der Folge sicher aber zu Nachahmern: Das „Zero“-Projektteam hat sich dem Open-Source-Gedanken verschrieben und teilt sämtliche Erkenntnisse mit interessierten Parteien auf der Website foundationzero.org. Bereits Aufmerksamkeit erzeugte der dediziert zur Stromerzeugung genutzte vordere Pod-Propeller. Er wird für Supersegler als Ergänzung zu bestehenden Antrieben angeboten.
Wenige Wochen vor dem – minutiös geplanten – Tag der Erstwasserung zeigte sich „Magic“. Die 44 Meter lange Alu-Slup vertraut auf einen konventionellen Wellenantrieb und 435 Kilowatt starken Diesel als Kraftquelle. Eine Batteriebank kappt Lastspitzen und hält sämtliche Bordsysteme bei Stillstand für bis zu acht Stunden am Laufen. Alle Deckswinschen, Rollreffanlagen, Spannvorrichtungen und kaptiven Winschen für die Genua, Stagsegel, Großfall und Großschot betreiben Hydraulikaggregate, die Vitters selbst entwickelt und gebaut hat. Zwei Anker fallen aus Klappen im vorderen Unterwasserschiff.
Charakteristisch für den Reichel/Pugh-Riss sind das von großen Glasflächen durchzogene Deckshaus, recht hohes Schanzkleid und ein Festkiel, der 4,50 Meter tief reicht. An Deck weist Bas Peute auf die Stäbe hin, einige der letzten aus Burma. Sie wurden in 19 Millimetern Stärke verbaut und nicht wie sonst üblich in 14 Millimetern Dicke. Der Vorteil: Das Deck hält länger, da bei Refits häufiger heruntergeschliffen werden kann. „Magic“ erreicht ein Innenraumvolumen von 304 Gross Tons und steht damit Motoryachten ähnlicher Länge in nicht viel nach. Unter Deck verantwortete Design Unlimited gemeinsam mit Pieter Laureys die Gestaltung, den Innenausbau übernahmen die Österreicher von List GC. Die größte Gästekabine wünschte der Auftraggeber achtern, wo diese sich über fast die gesamte Breite von 9,66 Metern erstreckt.
Nach 30-monatiger Bauzeit zog Vitters die 43 Meter lange Alu-Slup am 3. Januar aus der Halle. Im Anschluss ging es für „Magic“ per selbstfahrendem Schwerlastmodul auf einen Ponton und im Schleppverband nach Amsterdam. Dort gelangte der 250-Tonner letztlich per Schwimmkran ins Nass und erhielt seinen 62 Meter langen Carbonmast von Southern Spars. Nach der Übergabe im Februar 2025 nimmt „Magic“ Kurs Mittelmeer, vielleicht dann schon mit einem zweiten Eigner: Die nagelneuen 44 Meter bietet der Auftraggeber über Burgess Yachts zum Verkauf an; Preis auf Anfrage.
Die 1990 gegründete Werft feierte noch im alten Jahr den Spatenstich für den Bau einer neuen Halle in Zwartsluis. Der Anbau wird 80 Meter lang, 30 Meter breit und 16 Meter hoch und nimmt bereits diesen April eine 68-Meter-Ketsch mit klassischen Linien von Andre Hoek für die Ausrüstung auf. Zudem sprach Vitters-Verkäufer Bas Peute von einem weiteren Auftrag, den man an Land zu ziehen dabei sei. Dem Segment der Supersegler geht es ganz offensichtlich gut.