2.4mRKleines Boot mit großem Anspruch

Matthias Beilken

 · 03.08.2024

Lage läuft: Mit einer Breite von nur 81 Zentimetern braucht es viel Krängung, damit der Kiel wirken kann
Foto: Sören Hese
Gestartet als Nischenboot, hat sich der 2.4mR zu einem vielseitigen Sportgerät gemausert. Der Winzling aus der Familie der Meterklasse bietet die beste Chancengleichheit auf dem Wasser. Ein Szene-Besuch

Krass, wie sehr sich der Blick auf die Welt durch einen simplen Perspektivwechsel um wenige Grad verändert. Wenn sich beim An- und Ablegen der Steg gefühlt auf Kinnhöhe befindet und niemand schnell aufspringen und irgendwo hinhechten kann, um das Boot abzuhalten oder Fender und Leinen zu klarieren. Auch offenbart sich hier an Bord schnell die Sinnlosigkeit, immer gleich alles volles Rohr mit den Füßen zu treten; ein gefühlvolles Antippen mit den Ballen auf den Steuerpedalen reicht meistens. Willkommen auf einer 2.4mR-„Yacht“, dem Boom-Boot der deutschen Klassenlandschaft, dem einzigartigen „Inklusionsboot“, das von allen mit Chance auf Erfolg und Spaßgarantie gesegelt werden kann: alten Haudegen, Jollenfreaks, „Behinderten“.

Ein 2.4er ist eine – meist fußgesteuerte – waschechte Meterklasse-Yacht, ein kleiner Zwölfer sozusagen. Und er segelt dementsprechend rank, das Leben beginnt bei 30 Grad. Aber er segelt auch schlank. Denn ein 2.4mR-Schiff sieht gut aus. Typisch: die flache Silhouette unter Foliensegeln und die langen Überhänge des 418 Zentimeter langen Rumpfs. Typisch auch: die Trimmsensibilität bei Lage und viel Arbeit nah am Wasser. Damit die nicht zur Gefahr wird, ver­fügen die Boote über Wellenbrecher und schwimm­sensorgesteuerte Lenzpumpen.

Meistgelesene Artikel

1

2

3

Auch interessant:

Das kleine Kielschiff hält echt auf Trab, vor allem mental – weil alles viel schneller geht als auf großen Booten und nichts, auch nicht die kleinste Bö, für eine Überraschung sorgen darf. Das ist Konzentration aufs Segeln pur. Eine komplette Wende dauert vielleicht drei Sekunden (ein Krängungswechsel um 60 Grad eingeschlossen), das Fieren des Großsegels von „zu dicht“ bis „ganz offen, flattert“ maximal eine halbe. Dass die Füße hauptsächlich für Manöver verantwortlich sind, ist ungewöhnlich – auch dass die Hände dabei frei bleiben für Klemmen-Klicken und Strippen-Ziehen. Auf anderen Booten macht jemand das eine oder das andere oder einer steuert und bedient alles mit den Händen.

Assoziationen vom Powertrip schwerer Yachten durch die See

Der 2.4er ist ein herrlich taktisches und sensibles Fahrzeug, das in Regatten uralte seglerische Renn-Reflexe provoziert. Einfach nur mit dem kleinen Boot herumchillen fasziniert jedoch bereits ausreichend. Und hinterlässt Segler angenehm verwirrt. Weil die Prioritäten neu geordnet werden müssen. Beispielsweise ist „bei Manöver Kopf einziehen“ ein Automatismus. Der ist hier aber nicht erforderlich, weil nichts passieren kann und Schreckmomente nur die Fußsteuerung durcheinander bringen. Verloren gehen kann höchstens die Orientierung wegen der sich schnell verändernden Krängung und der niedrigen Sichthöhe. In diesem Sinne fordert ein 2.4er eher die Psyche als die Physis.

Wenn irgendetwas unrund läuft, liegt es für gewöhnlich daran, dass sich ein angespannter Körper in den Hacken versteift und dann eigentlich niemand mehr steuert. Und die Boote drehen gut, quasi auf dem Tellerchen. Immerhin sind es kleine Kielboote, die einiges an Schwung mitbringen.

2.4er haben keine Spinnaker. Die benötigt aber dort auch kein Mensch. Die aus­gebaumte Genua ersetzt ihn wie auf dem Starboot, auch das komplexe Mast-Klapp-Manöver ist ähnlich: Ein Ausbaumer (mit „Inhaul“-Leine zum Schothorn) schießt vom Großbaum nach Luv, das Achtertag schnellt los, gleichzeitig zieht eine Leine das Rigg im Deck nach vorn, das Vorstag hängt jetzt durch wie eine Wäscheleine.

Das bauchige Powervorsegel zieht das kleine Fahrzeug in Wellentäler, die Rudersensibilität kommt voll zur Wirkung. Bei Wind rauscht eine richtige Langkieler-Verdrängerwelle neben dem Heck und macht Steuern zur großen Aufgabe. Wann dreht oder schnürt das Boot wie? Einen 2.4er berg­ab zu treten weckt Assoziationen vom Powertrip schwerer Yachten durch die See, etwa zwanzigmal so großen Schiffen. Ein Gedankengang, der durchaus auf der Hand liegt, wie jüngst der Franzose Damien Seguin bei der Vendée Globe bewies. Dass der Fran­zose mit seinem 13 Jahre alten Finot-Design ohne Foils hemmungslos um die Welt geröhrt ist, muss wohl nicht extra erwähnt werden. Dass er aber bereits zwei paralympische Medaillen im 2.4er holte und mehr­facher Weltmeister der Klasse ist, vielleicht schon. Und zwar ohne linke Hand.

Für den Erfolg zählen Wissen und Geschick, nicht die Physis

Dafür, dass die Mini-Meteryacht sensibel genug ist, um auch auf kleinste Wellen zu reagieren, hat ein Meister seines Fachs gesorgt. Aber wer ist das eigentlich? Peter Norlin. Ein guter Freund von ihm wurde einst bei einem Autounfall schwer verletzt. Norlin, damals eine Art König der Sechs-Meter-Renn­yachten, zeichnete 1983 ein ziemlich geniales Boot, das in die Meterklassen-Vermessung passte und gleichzeitig absolut up to date war, was Regattatechnik anging – und es konnte mit den Füßen gesteuert werden. Die Rumpf­linien des Designs für die Klasse hat Norlin später über­arbeitet und damit in Stein gemeißelt, sie gelten bis heute.

So konnte Norlins Freund wieder segeln, und eine Klasse, die bald internationalen sowie paralympischen Status haben sollte und auch auf der Kieler Woche geschlossen antrat, war geboren – und eine Segelmethode namens Inklusion. Inklusion ist eine der genialsten sozialen Entwicklungen unserer Zeit. Sie bedeutet schlicht „Eingrenzung“ und somit das Gegenteil von „Ausgrenzung“. Inklusion betrifft weitaus mehr Menschen, als Definitionen suggerieren, denn es geht hier um seglerische Qualitäten jenseits einer genormten Physis. Körperliche Eigenschaften sind ja stets Knackpunkt für Erfolge in einer Klasse, Abwesenheit einer bestimmten Physis führen zu technischem Knock-out. Dass dieser Zwang im 2.4er nicht besteht, sondern lediglich Wissen und Geschick zählen, ist ein herrlich be­freiendes Gefühl. „Eingrenzung“ ist also ein Grund für die ungewöhnliche Beliebtheit der Boote, die sogar als Klasse gesponsert werden. Und die einen starken Protagonisten hat: Heiko Kröger.

Er ist nicht nur zehnfacher Weltmeister im 2.4er, Gold- und Silbermedaillengewinner bei den Paralympics, sondern auch so etwas wie Urvater des Booms in Deutschland und quasi Synonym für die Klasse hierzulande. Niemals wird es wohl einen spezielleren Spezialisten für diese Art Boot geben. Seine 2.4er-Liebe beginnt jedoch eher zufällig in Gelting und führt über Berlin. Kröger segelte Anfang der Neunziger eine Laser-DM an der Ostsee. Und irgendjemand schleppte damals so einen Witz von deutschem „Mini-Zwölfer“ an.

Fortan tauchten überall in Deutschland gesponserte, knubbelige „Mini-Zwölfer“ auf

1981 gründete eine Gruppe um Werftchef Michael Schmidt, die Konstrukteure Judel/Vrolijk und YACHT-Redakteur Erik von Krause ein America’s-Cup-Syndikat. Und angeblich entdeckte Schmidt während des Admiral’s Cup mit seiner „Düsselboot“ im Hafen vom Austragungsort Cowes das kleine, fußgesteuerte, von Jo Richards entworfene Einmann-Sitz-Gag-Boot „Illusion“, das einem Zwölfermodell ähnelte und Werbung machen sollte. Und dachte sich: „Das können wir auch.“ Fortan tauchten überall in Deutschland gesponserte, knubbelige „Mini-Zwölfer“ auf, um für die Cup-Idee zu werben. So auch in Gelting, wo sich Kröger in die Jux-Kiste setzte und Runde um Runde drehte – der reine Spaß. Kröger dachte nur „Hoffentlich wird es nicht so schnell dunkel.“

Ein „Mini-Zwölfer“ hat allerdings mit einem 2.4mR-Boot fast nichts gemein. Ersteres ist ein simples Spaßboot mit an einen Balken gebolzten Wanten, letzteres ein (ein Meter längeres und relativ gesehen schmaleres) sehr ernst zu nehmendes Etwas. Und Kröger wollte ernst genommen werden, immerhin existierten die Boote bereits in vielen Ländern, Weltmeisterschaften fanden statt. Aber es gab keinen Austausch oder eine internationale Klasse – nur ein Baukit aus Finnland ohne Bauanleitung.

Helfen konnte Kröger da nur einer: Bernd Zirkelbach aus Berlin, erfolgreichster Segeltrainer Deutschlands und später Teamchef der deutschen Paralympics-Mannschaft, quasi eine Mischung aus Jogi Löw und Miraculix. Wegen eines Paralympics-Tests wurde Zirkelbach 1996 zur WM in England geladen, woher er gleich zwei Boote mitbrachte, „Max“ und „Moritz“. Mit „Moritz“ startet er heute noch und segelt regelmäßig in die Top Five bei Meisterschaften.

Wirkt wie ein Modellboot, fordert aber den ganzen Segler

So kam Kröger damals an seine 418 Zentimeter lange Traumyacht. Stolz führte er sie in Strande Runde um Runde einer Menschentraube vor, die wissen wollte: „Was ist das für ein Teil?“ Etwas, das aussah wie eine Mischung aus Modellboot und moderner Sechs-Meter-Rennyacht, hatte noch niemand gesehen.

Das war der Anfang, und das ist noch nicht lange her. Heute zum YACHT-Termin treffen sich mehr 2.4mR-Boote auf der Alster, als es damals in ganz Deutschland gab. Mittlerweile ist Segeln – und damit die 2.4mR-Klasse – keine paralympische Diszi­plin mehr. Aber die Klasse sitzt weiterhin fest im Sattel, weil sie den Inklusionsgedanken verkörpert und gleichzeitig Hightech bietet. Und mit generösen Aktionen wie dieser immer wieder von sich reden macht.

Das „Training“ auf der Alster geht weiter. Ex-Contender- und 505er-Recke Olli Thies startet als Torstart-Pfadfinder aus Steuerbord, die anderen gehen hinter seinem Heck durch. Segelmacher und Barde Frank Schönfeldt sucht sein Glück am extremen rechten Alsterufer – entgegen seines Gassenhauers „ganz allein links“. Drachen-Ass Peter Eckhard segelt währenddessen eine starke Kreuz. Von den Akteuren sind aber nur die Köpfe über dem Drei-Käse-hoch-Freibord zu sehen.

Weil die 2.4er Semi-Langkieler sind, die auch oft von Jollenfreaks gesegelt werden, heißt Ollies ungewöhnliches Boot „Bleitransporter“. Die geliehene „Whipper­snapper XXS“ („Kleiner Klugscheißer“) entpuppt sich als schnell; kein Wunder, gehörte sie doch einmal der Weltmeisterin aus England. Als Verleiher, Vermesser, Händler und einer der Motoren der Klasse bezeugt Thomas Jatsch, der selbst mitsegelt: Seit dem Paralympics-Aus beläuft sich die Förderung der offiziellen Royal Yachting Association (RYA) auf genau null Euro. Deswegen stehen hervorragende, aber nahezu ungesegelte Boote auf der Insel. Technik-Thomas handelt sie. Eines hat er Frank Schönfeldt verkauft. Das Foto, das die Verschiffung und den Liefertermin bestätigte, kommentierte der mit: „Nur noch dreimal schlafen“, auf­geregt wie ein Kind vor Weihnachten.

Ulli Libor, zweifacher Medaillengewinner im Flying Dutchman, ist Präsident der Klasse

Das Regattaende naht, der Steg auch. Wieder ist beim Anlegen klassische Seemannschaft gefragt. Denn schnell per Motor aufstoppen oder Segel herunterreißen fällt aus; und wir haben es eben immer noch mit einem richtigen Kielboot zu tun, dessen Masse schiebt. Und Heckpfähle werden aus der Ameisenperspektive zu übermanns­hohen Hindernissen, die aus dem Wasser ragen wie Leuchttürme.

Wie gut, dass Thomas Fender an Stegkanten ausgebracht hat: Boot langsam gegen den Wind daran scheren und sichern. Erst dann sich aus dem Mannloch erheben und sich auf den Steg wälzen, meist aufwärts. Dennoch benötigen die Kleinen die gleiche Infrastruktur wie die großen Kielboote, Kran, Cradle, Trailer und mehr.

Seit ein paar Jahren ist kein Geringerer als der zweifache Medaillengewinner im Flying Dutchman Ulli Libor, 84, Präsident der Klasse. Und seitdem geht es rund, und das nicht nur sportlich. Eine wohltuende Entwicklung, denn „leider fristeten die Boote früher ein Nischendasein“, bemerkt Zirkelbach. Doch Libor lotst reihenweise starke Segler heran. Frank Schönfeldt mag der jüngste prominente Neuzugang sein – aber er ist längst nicht der einzige. Fotos von der Deutschen Meisterschaft zeigen ihn im Startduell mit FD-Spezi Heiner Forstmann, Zweiter wurde Kalle Dehler. Er sei „noch nie so geerdet von einer Regatta zurückgekommen“, ließ sich Schönfeldt vernehmen.

Jedoch treibt Libor mehr um als nur die Größe der Felder bei 2.4mR-Regatten – es ist das Image eines „Behindertenboots“, das zu Lasten eines „Inklusionsboots“ geht. Libor wurde deswegen schon Zeuge von unschönen Wortwechseln zwischen Spitzenseglern und renommierten Vereinsbossen. Das eine zu bewahren und gleichzeitig dem Inklusions­gedanken gerecht zu werden sind eben zwei verschiedene Dinge.

Die Klasse will raus aus der Nische – bis hin zu Olympia

Aber Inklusion hin oder her, das Boot nivelliert jede Malesche, kein Refugium ist wie dieses. Thomas Jatsch bringt es auf den Punkt: „Man kann dann endlich sein, wie man halt ist.“ Sein Boot ist übrigens asymmetrisch ausgebaut, weil die Linke manchmal nicht so will wie er. Manchmal finden sich auch Mini-Pinnen. Für jeden, wie er nun mal eben ist.

Und das ist für viele das größte Geschenk. Die medizinische Beschreibung dessen, was Weltmeisterin Megan Pescoe beispielsweise „behindert“, liest sich fies (neurologisches Muskulaturproblem). Aber, hey, Weltmeisterin! Jede Menge Normalos und Männer von der Platte geputzt. Segeln muss man für so was schon können.

Die deutsche Klassenvereinigung ist mittlerweile die größte weltweit. Libor hegt sogar Hoffnungen für Olympia. Dies aber nicht unbedingt im Rahmen der Paralympics; Segeln wurde trotz großer Hoffnungen nicht wieder als Teil der Para-Spiele aufgenommen. Sondern als Einzeldisziplin. Weil das Zen­tralargument absolut wasserdicht und un­widerlegbar ist: Eine Sportart, in der Menschen allen Zustands – Männchen, Weibchen, schwer, leicht, „behindert“, normal – gleichberechtigt gegeneinander antreten, existiert schlichtweg nicht. Die 2.4mR-Yacht besetzt somit sämtliche Sportarten überspannend weltexklusiv diese Nische.

Und darauf ist die Szene zu Recht ziemlich stolz.

Technische Daten (Version von Charger)

 | Zeichnung: YACHT | Zeichnung: YACHT
  • Konstrukteur: Peter Norlin
  • Typ: Meterklasse-Yacht
  • Baumaterial: GFK
  • Rumpflänge: 4,18 m
  • Breite: 0,81 m
  • Tiefgang: 0,99 m
  • Gewicht: 265 kg
  • Ballast/-anteil: 180 kg/86 %
  • Segelfläche: 7,53 m2

Der Artikel erschien erstmals in YACHT 05/2021 und wurde für die Online-Version aktualisiert.

Meistgelesen in der Rubrik Yachten