Da staunen selbst die Rindviecher: Mitten auf ihrer Weide im Allgäu steht auf einmal ein Anhänger, darauf ein hübsches und noch dazu voll aufgetakeltes, zweimastiges Holzsegelboot. Und Crew gibt es auch. Thomas und Jan Vochezer haben fröhlich lachend in dem geklinkerten Segler Platz genommen, nachdem sie ihn fürs Fotoshooting mit dem Traktor aus einer kleinen Remise gezogen haben, in der er in den Wochen zuvor entstanden war. Es ist ein Boot aus der Region, echt im Stil, nichts für den Club-Blazer vielleicht. Die neugierig schauenden Kühe, sie passen ins Bild. Und das ist nicht das einzig Ungewöhnliche an diesem Bootsbaubetrieb, der im knapp 30.000 Einwohner zählenden Wangen beheimatet ist.
Vor 20 Jahren hat Thomas Vochezer hier, unweit der Alpen und des Bodensees, begonnen, Holzkajaks zu bauen. Zum Tourenpaddeln nicht nur auf Flüssen und Seen, sondern auch auf dem Meer. Irgendwann versieht er das erste mit Mast und Segel. Nicht lange, und es folgen Segelboote. Auch dabei hegt Vochezer von Beginn an ein Faible für das Besondere. Zu seinen Konstruktionen zählen Retroklassiker, die teils in Anlehnung an Risse aus dem skandinavischen oder auch aus dem nordamerikanischen Raum entstehen.
Wie seine Färing, die da nun auf dem Hänger im hügeligen Grün steht. Es handele sich um einen Bootstyp, der einst an der norwegischen Küste in verschiedenen Größen hauptsächlich für den Fischfang und den Warentransport gebaut worden sei und dessen Ursprünge zurück bis in die Wikingerzeit reichten, erzählt der Bootsbauer.
Gemeinsam mit seinem Sohn Jan, der die Passion des Vaters teilt, hat Thomas Vochezer die Färing aus Kiefer-Sperrholzplanken gefertigt. Und zwar in der „Glued Lapstrake“-Bauweise. Dadurch sei der Rumpf des sechs Meter langen Schwertbootes extrem verwindungssteif und wasserdicht.
»Genauso gerne, wie ich aus Holz gearbeitete Boote baue, entwerfe ich sie. Bisher war fast jedes ein Unikat.«
Wie aber hat eigentlich alles angefangen? „Im Grunde mit einer Kenterung, einem Misserfolg“, erzählt Thomas Vochezer. 2002 baut er seinen ersten Kanadier. Aus Zeder verleimt, Leiste für Leiste nebeneinander geklebt. Es bleibt eines der ganz wenigen Boote, die er nur als Hobby baut, im Keller seines Einfamilienhauses. Der Erstling entpuppt sich jedoch als Paddelfrachter. Boot Nummer zwei soll tourentauglicher werden. Ein Seekajak.
Dafür orientiert er sich an einem Design des renommierten Kajak-Konstrukteurs Nick Schade. Die Spanten zeichnet er anhand von Daten, die er einer Aufrisstabelle aus Schades Handbuch entnimmt. Das fertige Boot testet er auf dem Bodensee. „Da zeigte sich, dass es ihm leider an Stabilität fehlte. Ich kippte um und musste unter Wasser aussteigen. Und das gleich mehrfach.“
Genau mit diesen Kenterungen war Thomas Vochezer zwar nass, aber direkt in seinem Element. Die Herausforderung liegt da im Wasser vor ihm. Er versucht sich an einem neuen Boot. Und noch einem. Und noch einem. Mit Erfolg. Insgesamt 50 Stück hat er in den vergangenen 20 Jahren erdacht, zu Papier gebracht und gebaut. Weil ihm das Konstruieren mindestens so viel Spaß mache wie die anschließende Handwerksarbeit, „stellen wir eigentlich ausschließlich Prototypen her“, so Vochezer.
Das gilt auch für seine Segelboote, wenngleich er sich gerne mal an bestehenden Konstruktionstypen orientiert. Seine Eltern hatten eine gut acht Meter lange Miranda Coupé besessen, eine seinerzeit typische Bodenseeyacht. Es brauchte jedoch immer einen Kran zum Ein- und Auswassern, und dann musste auch noch der Unimog aus der Schwiegerfamilie für den Transport zum See ausgeliehen werden. Viel zu viel Aufwand, befand Thomas Vochezer. Er wollte zwar auch wieder aufs Wasser, das aber bitte unkomplizierter.
Obwohl sein „Böckchen“, wie er Boot Nummer zwei tauft, nicht besonders stabil im Wasser liegt, ist es doch äußerst anmutig anzusehen. Das spricht sich herum. Andere kommen und wollen von ihm ebenfalls so ein hübsches Holzkanu. Thomas Vochezer ist damals kein Bootsbauer nach den Regeln der Handwerkskammer: „Ich konnte zwar als Ingenieur einen Betrieb aufmachen, aber da ich eine gewerksfremde Ausbildung habe, musste ich eine Sondergenehmigung beantragen.“ Ein Fachprüfer kommt, „und der hat sich von der Qualität meiner Arbeit ein Bild verschafft. Seitdem bin ich in der Handwerksrolle als zugelassener Bootsbaubetrieb eingetragen.“
Etwa 2007, fünf Jahre nach dem ersten Kanu, ist Thomas Vochezer im Geschäft. Im Arbeitsleben technischer Redakteur, baut er regelmäßig abends und wochenends mit Zederplanken. Daheim in Wangen schreinert er zudem alles, was ihm Spaß macht, auch eine Standuhr. Im Keller entstehen Boote bis 5,35 Meter Länge. Größere passen einfach nicht rein. Dann kommt ein Auftraggeber, der auch segeln will. Er erhält sein segelbares Kanu.
Und das mag seine Segelerinnerungen beflügelt haben, denn Thomas Vochezers nächstes Projekt ist ein Segelboot. Mittlerweile hat er auch in der Schreinerei seines Schwagers eine neue Bleibe gefunden, die Boote können nun etwas größer sein. 2009 stellt er dort für seine erste Miniyacht die Spanten. Es handelt sich um eine Buzzard Bay, sehr ähnlich einer Konstruktion von Lewis Francis Herreshoff, Sohn des berühmten US-Konstrukteurs Nathanael Herreshoff. In der Wasserlinie misst das Boot 14 Fuß, die Gesamtlänge beträgt 17 Fuß. Damit ist es eine der sehr kleinen Buzzard-Bay-Konstruktionen.
»Trotz ihrer gerade einmal 14 Fuß Rumpflänge segelt sich meine Buzzard Bay wie eine richtige Yacht. Im Cockpit sitzend fühlt sich alles richtig an, und man ist wunderbar geborgen darin.«
Dennoch: „Die ist einfach wie eine kleine Yacht, fühlt sich auch so an, du sitzt da geborgen und richtig drin im Boot“, schwärmt Thomas Vochezer. „Ich habe sie zwei Jahre gesegelt. Dann habe ich sie einfach mal auf dem Portal vom Freundeskreis Klassische Yachten angeboten – und relativ zügig verkauft.“
Da hat er mit dem nächsten Boot bereits begonnen. Diesmal ein Design, das sich an der persönlichen Jolle von Capt. Nathanael Herreshoff aus dem Jahr 1889 orientiert. Es ist ein Mix aus Catboot und Ketsch, mit zwei unverstagten Masten, jeder mit einem Gaffelsegel. Das Aufriggen geht leicht und ist auch einhand gut zu schaffen. „Coquina“ nennt er die Klinkerkonstruktion, 16 Fuß und 8 Zoll ist sie lang. Kaum fertiggestellt, findet auch dieses Boot einen Käufer. Es geht nach Berlin.
Er baut es nochmals, und wieder ist flott ein Interessent da. Auch einer der Kunden hatte seine kleine Herreshoff mittlerweile verkauft: „Der hat das aber schnell bereut. Ich sollte ihm daher gleich noch mal ein Boot bauen.“ Nicht nur Rumpf und Rigg entstehen in seiner Werkstatt, auch die Segel näht Vochezer selbst. Dazu bestellt er fertige Tuchbahnen bei Sailrite in Columbia City. Der US-Versandhändler ist auf „Maritime homemade fabric projects“ spezialisiert. Die drei Boote kann Vochezer für je 20.000 Euro verkaufen. Mit diesem Budget bekommt man erste gebrauchte Zehnmeteryachten, aber niemals, auf gar keinen Fall, so viel Stil, so einfache Segelwonne. Und so wenige Folgekosten.
Es folgen weitere Kundenaufträge, und auch die Presse wird aufmerksam. In der „Schwäbischen Zeitung“ erscheint ein Beitrag über die kleine Werft und sogar im „Handelsblatt“. Und auch im „Playboy“. „Im Männermagazin wurde ja stets auch über edle Dinge berichtet“, erzählt Klaus Mergel, seinerzeit der Redakteur, der Thomas Vochezer mit seinen Booten ins Blatt holte. Mergel ist selbst Wassersportler und insgeheim Holzhandwerker. „Thomas baut seine Boote mit viel Detailliebe und ästhetischem Sinn“, schwärmt er noch heute von Vochezers Arbeiten.
Dann das Unglück: „Der Hund hat es als Erster bemerkt“, berichtet der Werftchef, „in der Nacht vom ersten auf den zweiten Mai vor drei Jahren schlug er an. Aber zu retten war da nichts mehr.“ Der gesamte Hof seines Schwagers in der Ortsmitte von Leupolz brennt ab, vier Wohnungen, die Schreinerei, auch die Werft mit drei Kajaks und einem Skiff, der „Melon Seed“.
Gefährte wie sein „Melonenkern“ waren ursprünglich zur Entenjagd in New Jersey gebräuchlich, der Ausgangsriss stammt von 1888. Das zauberhafte Gaffelboot hat Thomas Vochezer acht Jahre zuvor an einen Kunden ausgeliefert, nun stand es zum Auffrischen in der Halle. Nach dem Brand bleibt nichts. „Isch halt so“, befindet Vochezer und zeigt auf einen Hammer. „Den habe ich, ohne Stiel natürlich, in der Asche gefunden. An dem hänge ich seither doppelt. Ich habe ihn mal von meiner Frau bekommen und arbeite noch immer täglich damit.“
Zehn Kilometer entfernt vom niedergebrannten Haus findet er bald einen Landwirt, der eine etwas rustikale Remise verpachtet. Vochezer legt erneut los. Und das nicht länger allein. Sohn Jan steigt in den Werftbetrieb ein. Er bringt Fachwissen über vom Rechner gesteuerte Fräsen mit.
Jan baut als Erstes eine 3D-Fräsmaschine und entwickelt einen Laserschneider, um dünnere Holzleisten produzieren zu können. Außerdem arbeitet das Vater-Sohn-Duo fortan mit einer modernen Schiffbauer-Software, die die Bauteile derart berechnet und auf den Platten arrangiert, dass möglichst wenig Verschnitt bleibt.
Die Planken der Klinkerboote hat Vochezer bislang mittels Spiling anpassen müssen. Das ist eine klassische, recht exakte, aber eben aufwendige Methode mit Zirkeln und Hilfslatte und sorgfältigem Übertragen der Linien auf die endgültige Planke. „Einige Planken sind in der Abwicklung s-förmig. Die Konstruktions-Software kann das ganz ohne das Spiling auswerfen“, verdeutlich Jan, wie die Vorarbeit am Rechner im Zusammenspiel mit der Fräse die Produktion vereinfacht.
Einen Wechsel hat es zudem nicht nur bei der Technik, sondern auch beim Material gegeben. Beim Bau der Klinkerkanus und -segelboote kommt heute Vendia-Holz auf den Frästisch. Das ist ein Sperrholz aus nordischer Kiefer, geerntet, gemessert und verleimt in Finnland. Es ist speziell auf die Bedürfnisse von Klinkerbootsbauern zugeschnitten. „Meine Holzboote sind damit weiterhin besonders leicht. Das Kajak, das ich gerade baue, wiegt am Ende um die 18 Kilogramm, ein vergleichbares Kunststoffboot wenigstens 24 Kilogramm“, so Vochezer.
Und eine weitere Neuerung steht an: Für die bald beginnende Interboot in Friedrichshafen haben sie zuletzt Boote ganz ohne Kundenauftrag gebaut, also zum Vorzeigen und auf eigenes Risiko. Neben einem bezaubernd schnittigen Seekajak werden sie zwei Segler an den Bodensee bringen.
Das eine, die „Hoppetosse“, ist eigentlich ein Ruderboot, für das sie ergänzend ein Gaffelrigg angefertigt haben. Am Tag des Werftbesuchs soll es zum ersten Mal ins Wasser. Gleich hinterm Hof, auf dem sich ihr Betrieb befindet, ist ein Mühlteich. Zu zweit heben Vater und Sohn die „Hoppetosse“ vom Hänger. Wenig später steht der Mast. Dann Hose hochkrempeln, ein Satz ins Boot, Ruderblatt rein, schon beginnt das Segelglück. Pinne und die Schot, mehr gibt es nun nicht mehr.
„Die fühlt sich super an“, beschreibt Thomas Vochezer die Jungfernfahrt, „die spricht so schnell an!“ Die notwendige Luv-Gierigkeit kann er im launigen Weiher-Wind allerdings nicht gut beurteilen: „Ich berechne das immer mit einer Zeichnung eins zu zehn, aus der ermittele ich den Lateralplan und den Segeldruckpunkt.“ Der bestimme dann die genaue Position des Schwerts. Das Ruder lasse er mit Bedacht aus, „da gehen die Theorien auseinander, aber bisher hat es so immer geklappt. Und zur Not können wir mit mehr Mastfall korrigieren.“
»Meine Boote sind allesamt leicht. Auch mit Vendia. Dieses vom finnischen Hersteller speziell bearbeitete Holz bringt nur unmerklich mehr auf die Waage als das zuvor verwendete Okoumé-Sperrholz.«
Das zweite Messe-Boot ist nun doch zu groß für den Teich und deswegen auf der Weide platziert. „Nein, das ist kein Zufall“, kommentiert Jan die Abmessungen des Hauptmasts. Der passt gerade so zwischen Spiegel und Steven. Dadurch lässt sich das Boot besonders einfach fürs Trailern zusammenpacken. Und auch hier stehen beide Masten innerhalb von fünf Minuten. Einfach lossegeln, das funktioniert auch mit dieser größeren Färing. Sie ist ebenfalls hinreißend simpel für herrlich unbeschwertes Segeln erdacht und konstruiert.
Um zu zeigen, was technisch geht, haben sie ihr sogar einen elektrischen Pod-Motor angeflanscht und die Installation bis auf die Motorsteuerung elegant in Schapps versteckt: „800 Stunden Arbeit stecken in etwa in dem Boot. Daraus errechnet sich der Preis.“ Sie drücken sich noch um die Zahl. Auf der Messe steht aber vermutlich eine dran.
Angesichts all der nun jahrelangen Erfahrung bleibt nur noch die Frage, warum ihn einst das „Böckchen“ abgeworfen hatte. „Vielleicht bin ich einfach ein bisschen zu groß für das Boot gewesen oder der Sitz war ein wenig zu weit oben angebracht, wer weiß?“ Thomas Vochezer zuckt mit den Schultern. Ganz sicher ist eins: Die unfreiwilligen Kenterungen waren ein Glücksfall. Ohne die Missgeschicke wäre er vielleicht nie auf die Idee gekommen, noch weitere Boote zu bauen.