Stefan Schorr
· 05.02.2023
Das Spiekerooger Inselinternat Hermann Lietz-Schule veranstaltet nicht nur den jährlich stattfindenden Atlantiktörn High Seas High School für Schüler. Als Herzstück der schuleigenen Segelbootflotte dient auch das Plattbodenschiff „Tuitje“ im ostfriesischen Wattenmeer als schwimmender Unterrichtsraum
Wie hat sich die Handelsschifffahrt im Lauf ihrer Geschichte entwickelt? Was bedeuteten die großen Entdeckungsreisen von Christoph Columbus und Fernando Magellan für Europa und die Welt? Wie funktionierte Handel früher, und wie läuft er heute ab? – Fragen mit nautischem Bezug aus dem Unterricht des Inselinternates Spiekeroog.
„Wo lassen sich besser Antworten auf diese und viele weitere Fragen finden als an Bord eines Schiffs“, denkt sich Tobias Marpert. Deshalb trifft sich der Lehrer der Hermann Lietz-Schule von Anfang April bis Mitte Juni jeden Samstag mit zehn Schülern der neunten Klasse auf dem schuleigenen Plattbodenschiff „Tuitje“ im Hafen der ostfriesischen Insel Spiekeroog. Lassen Wind und Wetter es zu, werden die Leinen losgeworfen, und das segelnde Klassenzimmer fährt hinaus ins niedersächsische Wattenmeer. Die Hälfte der Mannschaft ist an Deck unter den wachsamen Augen von Skipper-AG-Leiter Jonathan Binder fürs Segeln zuständig.
Die andere Hälfte bearbeitet unter Deck das jeweilige Tagesthema zu Geschichte, Gegenwart und möglicher Zukunft des internationalen Handels auf dem Seeweg. Die Aufgaben an und unter Deck werden nach der Hälfte der vier bis fünf Stunden getauscht.
Diese Art des Lernens und Erlebens kommt bei den Schülern sehr gut an, macht sie doch Spaß, schweißt die Gruppe als echte Crew zusammen und fordert alle Sinne. Vielleicht kommt mancher dank des Unterrichts auf der „Tuitje“ gar auf den Geschmack, den Aufbruch ins ganz große Segelabenteuer auf der High Seas High School (HSHS) zu wagen. Lehrer Marpert hat jedenfalls schon beim vom Internat organisierten Atlantiktörn angeheuert.
Seit der Gründung des Inselinternats 1928 spielt die Segelei eine zentrale Rolle im Schulalltag. Das wissen auch Fritz und Hilke Wolff aus Leer. Die begeisterten Plattbodenschiff-Segler haben ihre „Tuitje“ (plattdeutsch für „kleines Mädchen“) 1990 auf der Bültjer Werft in Ditzum an der Ems bauen lassen. Dort, wo sie sich mit stäbigen Gefährten aus schweren Planken gut auskennen. Die Wolffs steigen 2009 aus Altersgründen auf eine Motoryacht um und überlassen dem Internat ihren Eichenbotter als Schenkung.
„Ich war begeistert! Mir war sofort klar, dass die ‚Tuitje‘ sich prima in die Lietz-Segelei integrieren lässt und ihr einen noch höheren Stellenwert und weitere Nutzungsmöglichkeiten bieten wird“, erinnert sich Swaantje Fock an die unerwartete Flottenerweiterung. Die diplomierte Biologin war ihrem Ehemann im November 2004 nach Spiekeroog gefolgt. Florian Fock arbeitete seit 2001 als Biologie- und Erdkundelehrer auf der Insel. Das Paar baute gemeinsam das schuleigene Nationalpark-Haus Wittbülten auf, das Swaantje Fock seit der Eröffnung im März 2006 leitet.
Während der Saison steht die „Tuitje“ allen Schülern und Lehrkräften des Internats für kleinere Ausfahrten zur Verfügung. Die durchschnittlich zwei bis drei Tagestörns pro Woche leitet immer ein erfahrener Skipper. In ebenjene Rolle möchten die Mitglieder der Skipper-AG hineinwachsen. Deshalb stellen sie meist die Crew, zu der auch andere Schüler und Schülerinnen gehören können, und lernen Schritt für Schritt die Praxis des Segelns mit Plattbodenschiffen. Begleitet wird diese durch Theorielehrgänge.
Die Biologin Fock, Jahrgang 1973, stammt aus einer Hamburger Familie, in der Segeln stets eine wesentliche Rolle gespielt hat. „Da gab es zahlreiche Kapitäne, Schiffseigner und Yachtsegler. Zur Linie meiner Vorfahren aus Finkenwerder gehörte auch die Großmutter von Rudolf Kinau, nach der sich der Schriftsteller seinen Künstlernamen Gorch Fock gab.“
Im Winter 2006/2007 segelte das Ehepaar Fock im Internatsprojekt High Seas High School (HSHS) als Projektleiter den sechseinhalbmonatigen Atlantiktörn auf der „Thor Heyerdahl“ mit. 2008 kam Tochter Merle, 2010 Sohn Lasse zur Welt. Papa Florian übernahm 2011 die Leitung der Hermann Lietz-Schule.
Statt behäbig und unsportlich finde ich Plattbodenschiffe heute großartig”
Obwohl Swaantje Fock früh mit dem Segeln begann, hat sie keine Erfahrung im Segeln der schweren und kiellosen Plattbodenschiffe, als „Tuitje“ 2009 als schuleigene Yacht nach Spiekeroog kommt. „Ich muss sogar gestehen, dass ich Plattbodenschiffe etwas behäbig und unsportlich fand.“ Diese Einschätzung hat sich geändert. „Heute finde ich Plattbodenschiffe großartig. Ihre besonderen Einsatzmöglichkeiten hier im Wattenmeer habe ich sehr zu schätzen gelernt!“
An einem sonnigen Julimorgen trifft sich die Skipperin zu einer Tagesfahrt mit ihrer Crew an Bord. Die fünf Schüler wuseln übers Schiff, schlagen die Vorsegel an, bereiten das Großsegel zum Setzen vor und legen die Festmacherleinen so um, wie Lorena sie für ihr Ablegemanöver wünscht. Die blonde Schülerin lässt den 55 PS starken Dieselmotor kurz warmlaufen, dampft vorsichtig mit „Tuitje“ in die Achterspring ein und tuckert wenig später souverän aus dem Hafen. Schnell wird das Großsegel gesetzt, Fock und Klüver folgen umgehend, und der Motor verstummt.
Benjamin und Maximilian schießen die Festmacherleinen auf, während Noomi und Lasse die Fender verstauen. Auffällig ist der höfliche, respektvolle Umgangston an Bord. Vorm Spiekerooger Hafen kreuzt die junge Crew mit „Tuitje“ munter hin und her. Der Marker Botter entstand nach Originalplänen. Das zwölf Tonnen schwere Schiff segelt überraschend agil, geht flott durch die Wenden und macht allen offensichtlich jede Menge Spaß. Die Schüler wechseln sich an der Pinne ab, chillen in der Sonne an Deck, lachen viel und futtern munter Gummibärchen.
Ehemals war der Alltag auf einem Botter deutlich härter. Zu Hunderten waren die Schiffe aus Eichenholz zum Fischen in der Zuiderzee und im Wattenmeer der Nordsee unterwegs. Je nach angewendeter Fangtechnik bestand die Crew aus zwei bis vier Personen. Irgendwann begannen die Fischer, sich darin zu messen, wer sein Boot am schnellsten segelt. Mitglieder des Hofes und wohlhabende Geschäftsleute kamen dann als Erste auf die Idee, Segelboote ausschließlich zum Freizeitvergnügen zu nutzen – die Geburtsstunde des Yachtsegelns, das ab dem Beginn des 18. Jahrhunderts in den Niederlanden und in England in größerem Stil zur Mode wurde. Um einen Pokal ging es erstmals 1749, als der Prince of Wales eine Regatta startete. Regatten mit Plattbodenschiffen finden in den Niederlanden heute noch zahlreich statt. Viele neuere Boote sind fürs Regattasegeln optimiert und werden extrem ambitioniert gesegelt.
„Tuitje“ startet immerhin jedes Jahr zur Spiekerooger Seestern-Gedächtnis-Regatta. Auch auf dem klassischen Holzschiff kommen zumindest partiell modernste Materialien zum Einsatz. Als die Greifswalder Tuchwerkstatt von Sebastian Henschel 2020 den neuen Klüver schneiderte, verpasste sie ihm Schotvorläufer aus dem hochfesten und leichten Dyneema. Aus dem modernen Tauwerk sind auch die Schwertfallen gefertigt. „Da haben wir lange überlegt, ob die nicht authentisch aus Draht bleiben müssen“, sagt Fock fast entschuldigend. Schätzt sie doch besonders, dass das Segeln der „Tuitje“ so stark in althergebrachten Traditionen verwurzelt ist.
Seit 2015 ist die 48-jährige Biologin für die Koordination des Schiffs verantwortlich. „Ich bin gewiss nicht die perfekte Seglerin. Aber netzwerken kann ich.“ Eine extrem wichtige Fähigkeit. Als „Tuitje“ 2009 zur Hermann Lietz-Schule kam, war klar, dass ihr Unterhalt nicht ausschließlich durch die Schule zu leisten sein würde. Doch bis ein ausreichend großer Stamm aus erfahrenen Ehrenamtlichen zusammengefunden hatte, dauerte es einige Jahre. Fock sorgte mit dafür, dass die Ehrenamtler wie auch die an der Schiffspflege beteiligten Schüler mit Freude die Arbeiten während der Werftzeiten bestreiten.
Neben der Segelausbildung kommt der Botter inzwischen auch vermehrt in der Freizeitpädagogik zum Einsatz; die jüngeren Schüler nehmen nun ebenfalls regelmäßig an Ausfahrten teil. Außerdem erwarben mehrere Segler die nötige Expertise im Umgang mit „Tuitje“, um diese auch selbstständig zu skippern.
So steht der Unterhalt des internatseigenen Plattbodenschiffs inzwischen auf sicheren Beinen, was Tagestörns wie den heutigen noch unbeschwerter genießen lässt. Nach zwei Stunden werden die Segel wieder geborgen. Noomi steuert „Tuitje“ zurück in den Hafen von Spiekeroog – locker mit einem Fuß an der Pinne. Auf der sitzt, gleich über dem Ruderblattkopf, ein goldener Wolf, so wie auf niederländischen Plattbodenschiffen verbreitet Schnitzereien an dieser Stelle zu sehen sind. Der Wolf auf „Tuitje“ ist in Anlehnung an den Nachnamen des Spender-Ehepaars Wolff gewählt.
Noomi segelt generell sehr gern und auf verschiedenen Untersätzen, nennt „Tuitje“ aber ihr Lieblingsboot. Die Winterlagerarbeiten nutzte auch sie, um Verantwortung für das geliebte Schiff zu übernehmen. Ihr seglerisches Engagement während der Schulzeit im Allgemeinen und für das Schulboot „Tuitje“ im Besonderen wird Anfang Juli 2022 bei der Abifeier geehrt. Swaantje Fock und Jonathan Binder überreichen ihr – natürlich barfuß und mit Takelhemden über den schicken Klamotten zum feierlichen Anlass – ein eigenes „Tuitje“-Takelhemd. Wer weiß, vielleicht landet die 19- jährige Noomi wie viele Hermann-Lietz-Schüler vor ihr gar beruflich in den Bereichen Nautik, Bootsbau oder in einem anderen maritim geprägten Berufsumfeld.
Bei künftigen Besuchen auf Spiekeroog wird sie sicher immer wieder gern auf den Eichenbotter „Tuitje“ zurückkehren. Auf dem geht es neben der charakteristischen großen Scheibe aus Sicherheitsglas zum Cockpit unter das Teakdeck hinunter in den behaglichen Salon. Die Pantry liegt an Backbord, davor die gemütliche Sitzecke mit großem Tisch. An den Wänden hängen ein Foto der Stifter Hilke und Fritz Wolff, ein Gemälde der Nachbarinsel Juist und eine goldene Mastwurzel – jene verzierte Holzspitze, die auf Plattbodenschiffen traditionell im Masttopp gefahren wird, wenn nicht alternativ – wie aktuell auf „Tuitje“ – ein Mastknauf darauf hinweist, dass das Schiff schuldenfrei ist.
An Steuerbord unter Deck gibt es viel Stauraum. Ein robuster Refleks-Dieselofen sorgt für mollige Wärme und das schnelle Trocknen des nassen Ölzeugs, das daneben aufgehängt werden kann. Gegenüber an Backbord befindet sich die Nasszelle mit Toilette, Waschbecken und Duschmöglichkeit. Im Vorschiff, eng beieinander, drei Kojen mit Platz für maximal fünf Personen. Auffällig im Durchgang ist der durchgesteckte Mast aus Oregon Pine mit seinem massiven Fuß. Dank des imposanten Kontergewichts ist er leicht zu legen und wieder zu stellen. So konnten die Fischer ehemals bis kurz vor starre Brücken segeln, den Mast schnell so weit legen, wie es erforderlich war, und mit der Restfahrt ging es unter der Brücke durch. Dahinter konnte der Mast gleich wieder schnell gestellt werden, um flugs weiterzusegeln.
Solche technisch ausgefeilten Aktionen finden heutzutage wohl nicht mehr statt, wenn „Tuitje“ in den Sommerferien von wechselnden Crews genutzt wird. Da segelt dann schon mal ein Lehrer mit seiner Familie zu den Westfriesischen Inseln der Niederlande. Und die nächste Crew wieder zu den Ostfriesischen Inseln zurück. „Es soll auch mal eine Sommerreise in die Ostsee geben“, erzählt Fock, die mit ihrer Familie die „Tuitje“ ebenfalls rege nutzt und davon träumt, dass der Botter 1.000 Seemeilen in einer Saison loggt.
Wobei, völlig unabhängig von der zurückgelegten Seemeilenzahl ist die „Tuitje“ ein Glücksfall für die Hermann Lietz-Schule. „Segeln ist für mich Zuhause“, sagt Swaantje Fock, „und ‚Tuitje‘ obendrein eine Herzensangelegenheit.“
Holländische Schiffsbauer entwickelten das Plattbodenschiff als speziell auf die Bedingungen der Zuiderzee im heutigen IJsselmeer zugeschnittenen Schiffstyp. Die war lange Zeit das wirtschaftliche Herz der Niederlande: Drehscheibe für den überregionalen Handel und Nahrungslieferant durch ihren Fischreichtum. Mit ihren Untiefen, Gezeitenströmen und Stürmen aber auch ein berüchtigtes Gewässer. Deshalb waren Schiffe erforderlich, die für verschiedene Wassertiefen geeignet sind, gute Segeleigenschaften besitzen und dennoch große Ladungen transportieren können. Platt- oder Rundbodenschiffe, die zunächst aus Holz, später auch aus Eisen und Stahl gebaut wurden, haben ein flaches Unterwasserschiff ohne Balkenkiel. So können sie problemlos im Watt trockenfallen. Die seitliche Abdrift wird beim Segeln durch die charakteristischen Seitenschwerter reduziert.
Alfred Andreesen gründete 1928 die Hermann Lietz-Schule Spiekeroog. Als Mitarbeiter und Nachfolger des 1919 verstorbenen Hermann Lietz schuf er ein Landerziehungsheim für die „Reformpädagogik des Ernstfalls“. Nicht nur der Kopf allein sollte hier gebildet werden, sondern zugleich auch Herz und Hand. Dafür schien die Schule inmitten rauer Natur, außerhalb des schützenden Deiches, noch ohne Stromund Trinkwasseranschluss ideal. Leben und Lernen wurden hier zur untrennbaren Einheit. Gemeinsame Arbeit in handwerklichen oder musischen Gilden ergänzt den Lehrplan bis heute als gleichberechtigtes und lebensnotwendiges Tätigkeitsfeld. Verantwortliches Handeln im Alltag soll die Selbstständigkeit stärken und die Persönlichkeit bilden.