“Nordwest”Hundertjähriger Seekreuzer ist schwimmendes Familienmitglied

Lasse Johannsen

 · 25.05.2025

Trimmschlag mit neuen Segeln auf der Elbe, wo die „Nordwest“ seit ihrem Stapel­lauf im Jahre 1924 zu Hause ist.
Foto: YACHT/Jozef Kubica
Vor 100 Jahren wurde die „Nordwest“ auf der Heidtmann-Werft für den Hamburger Segler Johannes Schulz gebaut. Heute segeln sie dessen Nachfahren in 5. Generation.

“Man wird nass auf diesem Schiff!“ Thomas Körner sitzt an der Pinne, lacht und hat sichtlich Spaß. Das Süll in Lee, an dem er sich mit den Füßen abstützt, taucht regelmäßig unter und lässt Wasser in die Plicht. Es ist Hochsommer auf der Niederelbe, der Westwind weht mit guten drei Beaufort, das Log schnellt auf sieben Knoten und der Druck in den Tüchern sorgt dafür, dass die „Nordwest“ zwar schnell läuft, sich aber auch kräftig auf die Seite legt. Gleich nach dem Auslaufen hatten Körners Söhne Paul, 24, und Peter, 21, das ungereffte Großsegel und die Genua I gesetzt. Jetzt fällt ohne viele Worte der Beschluss, doch lieber auf die kleinere G III zu wechseln.


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Unter Deck wird gerödelt, bis der Segelsack durch den Niedergang kommt. In den aufkommenden Böen strömt das Wasser bereits über Deck und an den Fenstern vorbei und die eilends aufgenommene Vorschiffsarbeit mit den an Stagreitern gefahrenen Vorsegeln sorgt hier unten für eine heftige Geräuschkulisse. „Wir sind Regattasegler, kommentiert Körner Senior das Geschehen. „Wir wechseln ständig Segel. Und wenn die alle nass sind, wird’s da unten eklig!“

Bewertung

Das Geschehen gibt einen Eindruck von dem, was auf der „Nordwest“ seit hundert Jahren Alltag ist. Seit ihrem Stapellauf im Frühjahr 1924 wird die klassenlose Yacht auf Reisen und Regatten hart gefordert. Und das nun schon von der fünften Generation derselben Eignerfamilie.

Zum Regattasegeln gebaut

Über die außergewöhnliche Geschichte der „Nordwest“ hatte Körner schon vor dem Auslaufen erzählt, als es unter Deck noch trocken war. Im gemütlichen Salon nahm der Eigner das erste Logbuch seiner Yacht zur Hand und schlug die vergilbten Seiten auf. Eng mit Bleistift beschrieben von seinem Urgroßvater Johannes Schulz, der seinerzeit nicht ahnt, dass er neben handgeschriebenen Gezeiten- und Vergütungstabellen, Wetter- und Reiseaufzeichnungen die Chronik der Segelgeschichte seiner Familie anlegt, die noch hundert Jahre später von seinen Nachfahren fortgelebt werden wird.

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Aufzeichnungen aus 100 Jahren

Thomas Körner hütet alte Fotoalben und die Logbücher wie einen wertvollen Schatz.
Foto: YACHT/Jozef Kubica

Sämtliche Logbücher haben die Zeiten trotz Krieg und Krisen überdauert und überliefern wertvolle Erinnerungen der Voreigner. Eigner Thomas Körner, macht sich gern die Mühe, die handschriftlich verfassten Zeilen zu entziffern. Die erzählen von weiten Reisen und erfolgreichen Regatten, aber auch vom Crewleben der verschiedenen Generationen, dem seglerischen Brauchtum und Erlebnissen in den Kriegssommern.

Erhalten geblieben sind mit den Logbüchern auch nautische Informationen wie die Gezeitentabellen oder alte Telegramme, mit denen von unterwegs nach Hause gemeldet wurde, dass die „Nordwest“ unversehrt am Ziel angekommen ist. Als Walter Schulz im Frühjahr 1987 ein neues Logbuch aufschlägt, klebt er ein Foto von seiner kürzlich verstorbenen Frau Käthe beim ersten gemeinsamen Segeln mit „Nordwest“ im Sommer 1934 auf die erste Seite.


Der Beginn ist schnörkellos, in deutscher Schreibschrift verfasst und besteht aus nur einer Zeile: 7. Juli 1924 – Stapellauf. Er erfolgte bei Heidtmann, einer renommierten Werft in Hamburg Uhlenhorst an der Alster. Auftraggeber Johannes Schulz betrieb auf der Elbinsel Altenwerder ein Sägewerk und hatte in den wirtschaftlich schwierigen Nachkriegsjahren die Mittel, sich das damals noch 11,60 Meter lange Schiff, es war sein drittes, bauen zu lassen.

Das Segeln hatte er an Bord des väterlichen Fischkutters auf der Elbe gelernt. Mit einem Freund baute Schulz schon im Jungs-Alter ein erstes Boot, „Nordwest“ lässt er bauen. Die Pläne entstanden unter Mitwirkung des Eigners, inspiriert von Absprachen mit anderen Elbseglern, die mit vergleichbaren Yachten vergütungsfrei gegeneinander Regatten segeln wollten. Die zeitgenössischen Nationalen Kreuzer sind ihnen für das raue Revier zu übertakelt, die zeitgenössischen Seekreuzer zu stäbig, und so einigt man sich damals schlicht auf annähernd ähnliche Abmessungen. Und so entstehen mehrere Yachten an der Niederelbe, deren Abmessungen zwischen denen der 45er und 75er Nationalen Kreuzer liegen, jedoch mit kleinerer Segelfläche.

Innen gemütlich, außen sportiv

Unter Deck erhält die „Nordwest“ eine komfortable Einrichtung. Feste Kojen für die gesamte Crew – damals keine Selbstverständlichkeit – eine Pantry, und nicht zuletzt machen zahlreiche Schapps das Schiff bewohnbar, wie auf den alten Schwarz-Weiß-Aufnahmen zu sehen ist, die Thomas Körner in dicken Alben auf dem Salontisch präsentiert. Seinerzeit hängt am Schott noch ein großer Röhren-Empfänger, die Jungs tragen Pudelmützen, die Mädchen geflochtene Zöpfe. Vor den Bulleyes hängen Spitzengardinen, die Porzellankanne mit Kaffee steht auf einem weißen Tischtuch, darunter aber dieselbe Back, auf der neben den Logbüchern heute auch die alten Fotoalben liegen und die Geschichte der „Nordwest“ lebendig werden lassen.

Seglerisch geht es von Anfang an weniger gemütlich zu. Schon im Sommer 1925 segelt Schulz mit seiner Familie im Geschwader mit der etwa gleich großen „Mialisa“ nach Norwegen. Von Altenwerder Fischern hatte er Seekarten erhalten. Der Törn mit dem motorlosen Schiff ist für damalige Verhältnisse eine Extremleistung und navigatorisch ein Abenteuer, von dem noch heute beeindruckende Berichte ausführlich Zeugnis geben. Dem Steuerkompass traut der Skipper nicht so recht, Orientierung geben Landmarken und Leuchtfeuer, wichtigstes Hilfsmittel bei der Schärennavigation ist der Ausguck aus dem Mast. Im Jahr 1928 besucht Schulz mit seiner Tochter Annemarie und deren Freundin auf seiner Sommerreise die olympischen Segelwettspiele in Amsterdam.

Das Jahr 1930 wäre fast das Ende der “Nordwest” geworden: „Wieder hatte Vater die Ferienfahrt mit den beiden Damen gemacht“, schreibt Sohn Walter Schulz später in seinen Erinnerungen. „Über die Ostsee segelten sie bis Skagen, von dort zurück nach Hals durch den Limfjord nach der Nordsee. Auf der letzten Etappe zur Elbe überraschte sie ein SW-Sturm. Mein Vater versuchte, durch das ‚Falsche Tief‘ die Elbe zu erreichen. Dabei gingen die Segel in Fetzen.“

Die Crew findet sich mitsamt der „Nordwest“ auf dem Franzosensand bei Friedrichskoog wieder. Gestrandet in einer Sturmflut wirkt das Schiff zwischen den grasenden Schafen am Morgen nach dem Sturm völlig deplatziert. Und die Gefahr ist noch nicht vorbei: „Fischer versuchten vergeblich, meinen Vater von Bord zu locken, damit der Strandsegen für sie vollkommen würde.“ Doch es gelingt einem von ihnen, gegen angemessenen Bergelohn, das Schiff vom nächsten Priel aus mit einer Trosse um den Kiel bei Flut wieder ins Wasser zu winschen.

Eigner bleiben “Nordwest” bis ins hohe Alter treu

An den oft abenteuerlichen Regatten im anspruchsvollen Elbrevier nimmt Johannes Schulz mit seinem Sohn Walter auf der „Nordwest“ ebenso regelmäßig teil wie an Nordseewoche und Helgoländer Herbstwoche. Und bis zum Kriegsausbruch sieht man sie auch am Start der Seeregatten im Ostseeraum wie etwa der Wettfahrt Kiel–Korsør oder Rund Bornholm.

Den Krieg übersteht das Schiff schadlos bis auf einen Bombensplitter in der Außenhaut in einem Schuppen auf dem Betriebsgelände der Sägerei auf der heimischen Elbinsel Altenwerder, die Walter Schulz mittlerweile vom Vater übernommen hat. Als ab 1948 wieder gesegelt werden darf, ist Walter Schulz Ende 30 und hat bereits eine Familie gegründet. Immer öfter übernimmt er das Ruder der „Nordwest“, obschon er seit einer Polio-Lähmung zu Kriegszeiten auf Krücken und den Rollstuhl angewiesen ist.

Doch an Bord kommt Schulz trotzdem glänzend zurecht und ist im Heimatrevier bekannt wie der sprichwörtliche bunte Hund. Und das nicht etwa nur aufgrund seiner eingeschränkten Beweglichkeit, sondern vor allem seiner zahlreichen Regattaerfolge wegen. Der Vater ist noch bis ins hohe Alter mit an Bord. „Bis 1958, mit 89 Jahren, war er jedes Jahr mit zur Nordseewoche“, schreibt Walter Schulz in seinen Erinnerungen. „In einem dieser letzten Jahre war er mit dem Beiboot gekentert. In dem noch kalten Wasser war er stark unterkühlt. Eine Woche musste er das Bett hüten. Wir rechneten nicht mit seiner Teilnahme an der Nordseewoche, da es kurz vor Pfingsten passiert war. Wider Erwarten kam er am Freitag vor Pfingsten mit dem Bettzeug unterm Arm an Bord. Während der Nachtregatta blieb er in der Koje, war aber dann am nächsten Tag wieder gesund!“

In den Sommerferien zieht es auch den zweiten Schulz stets auf weite Reisen. Am liebsten nach Norwegen oder Bornholm, wo regelmäßig Freunde in Allinge besucht werden, die Walter Schulz als Junge in den 1920er-Jahren auf Törn dort kennengelernt hat. Die Freundschaft wird über viele Jahre dank der „Nordwest“ aufrechterhalten.

Schiff wird an familiäre Bedürfnisse angepasst

Wie schon zu Zeiten seines Vaters besteht die Crew auch unter Walter Schulz aus der gesamten Familie. Besonders begeistert dabei ist Tochter Karin, Thomas Körners Mutter, bis sie eines Tages heiratet – natürlich einen Segler – und auf der väterlichen „Nordwest“ abmustert. Aufgefüllt werden solche Lücken in der Familiencrew seit Beginn der 1970er-Jahre mit jungen Erwachsenen, die den Jugendwanderkuttern im Hamburger Yachthafen entwachsen sind und irgendwann mit Enkeln wie Thomas Körner, der als 15-Jähriger zur Stammbesatzung kommt. Der blickt mittlerweile selber auf ein Leben mit der „Nordwest“ zurück. Seinen drei Söhnen Paul, Peter und Hans hat er an Bord dabei zugeschaut, wie ihnen die Seebeine wuchsen.

Auch er hat das Schiff an seine Bedürfnisse angepasst und für die Familiensegelei optimiert. Den Charakter seines Klassikers hat er dabei behutsam bewahrt. Moderne Technik wie Plotter und Funkgerät ist nicht im Sichtbereich verbaut und Stilelemente wie der wegnehmbare Steuerkompass sind geblieben. Zum 100. Geburtstag bekam das schwimmende Familienmitglied eine umfangreiche Kur und strahlt seither im Glanz komplett frisch lackierter Oberflächen. Die neue Segelgarderobe war dagegen sowohl ein Geschenk an die „Nordwest“ wie an die Crew selbst. „Es macht einfach Spaß, weil das Schiff so gut läuft“, sind sich Thomas Körner und seine Söhne einig.

Doch das war nicht immer so. Schon nach dem ersten Sommer äußerte sich Ersteigner Johannes Schulz enttäuscht über die Segeleigenschaften. Im Vergleich mit den anderen Neubauten jener Jahre ist sein Schiff zu rank, zu luvgierig und läuft zu wenig Höhe. Glücklicherweise ist es ungestraft möglich, das klassenlose Gefährt zu verändern. Und so werden schon früh Geburtskrankheiten abgestellt und auch später immer wieder bauliche Anpassungen an die fortschreitende Entwicklung im Yachtbau vorgenommen. Die Geschichte der „Nordwest“ ist daher auch eine Geschichte der stetigen Weiterentwicklung des Bootes.

Änderungen macht “Nordwest” zu Rennmaschine

Der dem Gezeitenrevier geschuldete Tiefgang von nur 1,20 Meter etwa wurde gleich im ersten Winter auf 1,30 Meter vergrößert und der Ballast von 1,2 auf 1,4 Tonnen erhöht. Das Vorsegeldreieck wurde im Jahr 1938 von 8,50 Meter auf 11,50 Meter erhöht. Im Jahr 1950 erfolgte erneut eine Erweiterung des Tiefgangs auf die heutigen 1,85 Meter. Seither hat sich nie wieder jemand über die Kreuzeigenschaften der „Nordwest“ beschwert.

Im Jahr 1961 wird der erste Motor – ein Benziner – implantiert. Und als Walter Schulz die „Nordwest“ 1967 von seinem Vater übernimmt, lässt er den Ballast auf 1,75 Tonnen erhöhen, außerdem erhält die 20 Millimeter starke Beplankung vom Hanseat-Werftchef Willy Asmus eine damals als „Leichentuch“ verspottete bis zu zehn Millimeter starke Beschichtung aus Glasmatte und Polyesterharz: „Mit meinem langjährigen Mitsegler zusammen spachtelten und schliffen wir so lange, bis der Rumpf spiegelglatt war. Die Segeleigenschaften wurden danach derart verbessert, dass ältere Yachten ähnlicher Größe gegen ‚Nordwest‘ kaum noch Chancen haben“, erinnerte sich Walter Schulz anlässlich des 60. Geburtstages seiner Yacht und erwähnt nur in einem Nebensatz, dass Lohn der Mühe im Sommer nach dem Spachteln der Gewinn des Blauen Bandes der Niederelbe ist.

Der Sieg ist damals eine Sensation. Seit Jahren hatte das alte Schiff auf Regatten mehr Wasser gemacht als Siege errungen. Schulz hatte es schon abwracken lassen wollen, sich aber noch für einen letzten Versuch – den mit dem „Polyestern“ – entschieden. Nun versegelte er selbst Hans Otto Schümann mit dessen werftneuer „Rubin“. Der ist nicht gerade begeistert, als Schulz ihm scherzhaft vorschlägt: „Wenn Sie tausend Mark zugeben, können wir tauschen!“

Neue Ära für “Nordwest”

Schulz fühlt sich vom Erfolg so bestätigt, dass unter seiner Ägide noch zahlreiche Veränderungen stattfinden. Unter anderem erhält die „Nordwest“ ein Top-Rigg und einen geteilten Lateralplan. Doch mit dem aufkommenden IOR-Zeitalter endet die gut 50 Jahre währende Ära, in der die alte Yacht sich auf der Regattabahn behaupten kann.

Wie sein Vater, der die „Nordwest“ einst bauen ließ, segelt Walter Schulz noch bis an sein Lebensende mit. Der Segelsommer 1998 ist für den 90-Jährigen der letzte an Bord. „Er hat für das Segeln gelebt“, sagt Thomas Körner, der den Geist des alten Regattaseglers auf der „Nordwest“ fortlebt. Heute wäre für die hundertjährige Yacht mit den Klassikerregatten wieder ein Betätigungsfeld vorhanden, vor allem aber sind es weiterhin ausgedehnte Ostsee-Reisen, auf denen die mittlerweile fünfte Generation ihren segelnden Vorfahren nacheifert.

Fünf Monate lang umrundeten Paul Körner und Freundin Mieke im Sommer 2023 die gesamte Ostsee. Auch seine Brüder sind dabei geblieben. In diesem Sommer startet Peter Körner ebenfalls zu einer mehrmonatigen Reise. Und auch wenn dabei heute Motor und Kartenplotter zur Verfügung stehen, gesegelt wird die „Nordwest“ wie zu Ururgroßvaters Zeiten sportlich und spartanisch. Was an Bord anderer Klassiker der originale Bauzustand ist, ist hier die Authentizität eines Schiffes, das im Geist der allerersten Stunde über hundert Jahre lang geliebt, gepflegt, verändert und intensiv gesegelt wurde. Und, so freut sich Eigner Thomas Körner, wie es aussieht, fängt gerade wieder eine neue Ära seiner „Nordwest“ an. Genau in diesem Sinne.

Technische Daten des Seekreuzers “Nordwest”

  • Konstrukteur: Heidtmann
  • Werft: Heidtmann-Werft
  • Material: Lärche auf Eiche
  • Baujahr: 1924
  • Länge (heute): 11,30 m
  • Wasserlinie: 9,00 m
  • Breite: 2,65 m
  • Tiefgang: 1,85 m
  • Verdrängung: 7,00 t
  • Segelfläche am Wind: 51 m²

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Die Geschichte der „Nordwest“ ist in der aktuellen Ausgabe der YACHT classic erschienen, die seit dem 21. Mai im Handel ist. Abonnenten der YACHT bekommen das Heft gratis nach Hause geliefert. Lesen Sie außerdem darin das Porträt des Werftgründers Henry Rasmussen, die Historie der Riva-Boote und lassen Sie in Fotos von Nico Krauss die Classic Week 2024 Revue passieren.

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