Schweden-Runde100 Tage Freiheit – eine Familie auf Nostalgie-Törn

YACHT-Redaktion

 · 09.04.2023

Sommernachtstraum. Die „Luna“ der Mays, festgemacht am Fels der Schäre Sparö, einem Eiland vor Västervik in Südostschweden
Foto: privat

Vor 17 Jahren genießt eine junge Familie einen langen Segelsommer in Schweden. 2022 wiederholt sie den Törn. Der gerät zu einer spannenden Zeitreise

Mit in der Sonne leuchtenden Segeln gleitet die „Luna“ entlang der schwedischen Ostküste, im kristallklaren Wasser spiegelt sich der wolkenlose Himmel. Entspannte fünfeinhalb Knoten Fahrt sind fast noch zu schnell für die traumhaft schöne Schärenlandschaft. Zwei Stunden später fällt der Anker vor der Insel Harstena, kurz darauf sitzt die gesamte Crew inklusive Bordhund Sky im Schlauchboot auf dem Weg an Land. Die Crew, das sind meine Eltern Maite, 55, und Uwe, 54, mein Bruder Janik, 23, und ich, Annika, 19. Gemeinsam sind wir mehrere Wochen lang auf Törn.

An Land erkunden wir die Schäre. Hat man erst mal die höchste Erhebung des Eilands erklommen, wirkt die kleine Siedlung zu ihren Füßen mit den typisch skandinavisch-roten Holzhäusern, dem vielen Grün und dem engen Sund, der sich durch den Ort schlängelt, fast wie einem Bullerbü-Film entsprungen.

Hier sitze ich nun und genieße die fantastische Aussicht, versuche diesen Moment für immer in meinem Gedächtnis zu verankern. Als ich vor 17 Jahren, damals war ich zweieinhalb, schon einmal hier gesessen habe, hat das mit dem Einprägen noch nicht so gut geklappt. Einerseits schade, und doch, wenn ich mich ebenso wie der Rest meiner Familie an die damalige Reise erinnern würde, wäre es wohl nicht zu dieser jetzigen Neuauflage gekommen.

Vom IJsselmeer über die Ostsee nach Schweden

Denn genau das ist dieser Törn: eine Neuauflage. Auch damals hatten wir rund drei Monate Zeit, nahmen wir dieselbe Route: vom IJsselmeer kommend zur Ostsee und dann an die schwedische Küste sowie durch den Göta-Kanal. Einziger Unterschied: Diesmal war der Anstoß von mir ausgegangen, angestiftet vom ewigen „Anni, erinnerst du dich noch …?“ meiner Eltern. Nein, natürlich nicht! Ich wollte endlich mitreden können, wenn meine Familie wieder von den Schären und der Kanalfahrt schwärmte.

Tatsächlich lassen sich meine Eltern und mein Bruder rasch von dem Vorhaben überzeugen. Wir schaffen es alle, uns die Zeit dafür freizuschaufeln. Zurücklegen werden wir die 1.750 Seemeilen allerdings diesmal mit unserer Etap 39s. Anders als beim ersten Mal, als wir noch eine Etap 32i hatten, haben Janik und ich nun jeweils unsere eigene Doppelkabine im Heck.

Anfang Juni 2022 ist der ersehnte Tag endlich da: Leinen los in unserem Heimathafen Lemmer am IJsselmeer. Von hier aus geht es über die Staande Mastroute zur Nordsee und weiter gen Elbmündung. Der Nord-Ostsee-Kanal ist zu Beginn unserer Sommerreisen immer ein echter Meilenstein, er leitet einen Urlaub auf unserem Lieblingsrevier Ostsee ein. Und auch diesmal setzt hier nach einer spannenden Nordseepassage endgültig das Gefühl ein, dass dieses Jahr unser Traum in Erfüllung geht und wir unserem Sehnsuchtsziel Schweden mit jeder Meile näherkommen.

Der Schweden-Törn soll helfen, über die Flutkatastrophe an der Ahr hinwegzukommen

Umso härter trifft uns die Realität, die uns ein Bootsmechaniker in Laboe näherzubringen versucht: Mit unserer Maschine fahren wir nirgendwo mehr hin! Schon seit einigen Tagen sind wir etwas besorgt um den Motor, jedoch glaubten wir, das Problem sei mit einem einzigen Ersatzteil zu lösen. Die Hiobsbotschaft haut uns daher regelrecht um. Ein neuer Motor muss her, und das schnell, sonst ist unsere Reise zu Ende, ehe sie begonnen hat.

Doch: „Unter einem Monat geht da gar nichts“, sagen alle, die wir fragen. Schneller Ersatz scheint unrealistisch – und das, nachdem wir all die Schwierigkeiten, die uns bei der Vorbereitung dieses Törns begleitet und belastet hatten, gemeistert haben. Dazu muss man wissen, dass wir zu jenen gehörten, die ein Jahr zuvor bei der Ahrtal-Flutkatastrophe schwer getroffen worden sind: unser Haus auf Jahre unbewohnbar, unser persönliches Hab und Gut von den Fluten zerstört, die Heimatstadt ein Trümmerfeld. Die „100 Tage Freiheit“, wie wir unser Projekt nennen, sollen uns auch helfen, über all das hinwegzukommen und ein wenig Abstand zu gewinnen.

Ein echter Glücksfall muss also her. Und der tritt ein: Ein Bootsmechaniker in Laboe ist von unserer Geschichte so bewegt, dass er das Unmögliche möglich macht. Er lässt alles andere stehen und liegen und montiert uns innerhalb von nicht mehr als vier Tagen einen neuen Volvo-Penta-Motor, den er von einem Händler auf Fehmarn beschafft. Nach einer Woche Verzögerung können wir unseren Törn fortsetzen.

Endlich: Das “Sommer-in-den-Schären”-Gefühl ist da

Über das dänische Spodsbjerg und zwei nachfolgend längere Schläge können wir die schwedische Gastlandflagge setzen, und das Sommer-in-den-Schären-Gefühl lässt nicht auf sich warten: lang andauernde späte Sonnenuntergänge am wolkenlosen Himmel, Erdbeerkuchen, unwiderstehliches Eis und die schon erwähnten Holzhäuser. Zudem ist passenderweise anderntags der 21. Juni, Mittsommerfest, sodass auch noch Gartenpartys und Schwedinnen in weißen Kleidern mit selbst geflochtenen Blumenkränzen hinzukommen.

Die Reise führt nicht nur in fantastische Reviere, sie ist voller Eindrücke, Begegnungen und Erlebnisse. Und sie lässt die Familie noch stärker zusammenwachsen

Uns ist allen gleichermaßen wichtig, unsere Erlebnisse bewusst zu genießen und zu reflektieren. Das macht jeder auf seine Art. Mein Vater fotografiert leidenschaftlich mit seiner Systemkamera, Janik dreht mit seiner Actioncam Filme. Meine Mutter gestaltet mit künstlerischem Talent ein Reisetagebuch, und ich habe mir vorgenommen, jeden Tag ein Foto mit meiner Polaroidkamera zu schießen, auf dem ein charakteristischer oder erinnernswerter Moment festgehalten ist. Diese Bilder füllen nach und nach die Wände und Schotten meiner Achterkabine, sodass morgens mein erster Blick auf all die Erinnerungen fällt, die ich nun schon dazugewonnen habe.

Die ostschwedischen Schären locken uns weiter nordwärts. Wir legen den ein oder anderen 80-Meilen-Schlag ein, bis wir Älö erreichen, eine Ankerbucht, die damals bei den anderen bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Bei uns zu Hause hing eine Fotocollage der Reise von 2005, die ich mir, seit ich ein kleines Mädchen war, sehnsüchtig anschaute und mir dabei auszumalen versuchte, wie der Moment und die Umgebung wohl waren, in denen die Bilder aufgenommen wurden. Darunter auch Älö.

In Älö finden Vorstellung und Wirklichkeit zusammen

Und jetzt bin ich hier! Vorstellung und Wirklichkeit finden zusammen. Der Ort ist tatsächlich so traumhaft, wie ich ihn mir ausgemalt hatte: eine geschützte Ankerbucht, eingefasst von knubbeligem, bewaldetem Granit, der an wenigen kahlen Stellen Platz für eine Handvoll falunroter Schwedenhäuser lässt. Ein Ort der Ruhe, fernab jeglichen Trubels. Allerdings: Auch die Infrastruktur ist dürftig. Man muss wissen, dass der Weg zur nächsten Tankstelle oft weit ist und Ersatzteile, Gasflaschen und andere Dinge, die man vielleicht braucht, besser schon an Bord sein sollten.

Auch das eingangs erwähnte Dorf Harstena ist eines unserer Wunschziele. Es ging einst aus einer Robbenfängersiedlung hervor. Heute zählt es nur noch wenige feste Einwohner. Trotzdem hat hier 2005 ein sehr lebendiges Mittsommerfest stattgefunden, das ich mir an diesem Ort lebhaft vorstellen kann. Groß und Klein tanzen auf der Wiese vor der alten Dorfschule singend um die große Mittsommerstange, die Mädchen und Frauen tragen geflochtene Blumenkränze auf dem Kopf.

Das Tor zum Göta-Kanal, der kleine Ort Mem, den wir Tage später erreichen, ist für uns der Beginn eines neuen, aufregenden Kapitels dieser Reise. Das 190 Kilometer lange „blaue Band“, das sich in Ost-West-Richtung durch Schweden zieht, bezeichnen viele Schweden stolz als Bauwerk des Jahrtausends. Zu Recht, wie ich finde.

Der Göta-Kanal als besonderes Stück Schweden

„Have a nice summer!“, ruft uns die Schleusenwärterin beim Verlassen der ersten Schleuse hinterher. Und wirklich, einen besseren Ort für einen schönen Sommer kann ich mir kaum vorstellen. Wilfried Erdmann hat es in seinem Buch „Ich greife den Wind“ sehr treffend formuliert. Darin schreibt er: „Es folgte eine Woche pure Landschaft. Für viele Segler ist das Kanalstück die Fahrt ihres Lebens. Verständlich. Es ist ein besonders faszinierendes Stück Schweden.“

Gewaltig strudelt das Wasser ins erste Schleusenbecken bei Berg. Sechs weitere folgenFoto: privat
Gewaltig strudelt das Wasser ins erste Schleusenbecken bei Berg. Sechs weitere folgen

Entlang der Strecke finden sich zahlreiche Orte, mit denen Erinnerungen aus dem Jahr 2005 verknüpft sind, die selbst mir in Fleisch und Blut übergegangen sind, obwohl ich sie nur aus Erzählungen kenne. Da wäre zum Beispiel Borensberg, wo wir ins berühmte „Göta Hotell“ eingekehrt sind. Oder Vadstena, wo wir Kinder mit unserem Papa eine Flusskrebsangeltour im strömenden Regen unternommen haben. Oder Sjötorp, von wo aus wir damals eine lange Radtour entlang des Kanals gemacht haben.

Sehr eindrucksvoll sind natürlich auch die 67 Schleusen zwischen Mem und Göteborg. Noch heute können meine Eltern lebhaft von der Herausforderung erzählen, die es damals bedeutete, allein an Bord – eine Person muss vor der Schleuse an Land abgesetzt werden – zwei quirlige Kleinkinder zu beaufsichtigen, während man sich zugleich um die Leinen zu kümmern hat. Das Vorurteil des „Scheidungskanals“, wie die Schweden ihn gern nennen, konnten meine Eltern aber schon damals nicht bestätigen: Mit gutem Fender-Management und Absprache lassen sich die Schleusen souverän meistern.

Schleusen auf dem Kanal, Segeln auf Vänern und Vättern

Dennoch ist das Schleusen mit unserer heutigen vollwertigen Vierer-Crew noch mal wesentlich entspannter. Selbst der berühmt-berüchtigten Siebener-Schleusentreppe in Berg sehen wir gelassen entgegen. Sie zu passieren ist sogar ein Vergnügen, es lässt uns die Umgebung und den Kontakt mit den Landsleuten noch intensiver erleben. Darüber hinaus bringt uns der Schleusenmarathon auch als Crew weiter. Mit den Manövern wechseln wir uns ab, jeder übernimmt mal jede Position.

Und noch ein Vorurteil kann ich ausräumen: Der ewig lange Kanal ist alles, nur nicht langweilig. Und sehr wohl auch zum Segeln gut. Die 190 Kilometer lange Strecke quer durch Schweden besteht zu über der Hälfte aus teils sehr großen Seen, darunter Vänern und Vättern.

Das sind traumhafte Segelreviere. Und selbst die alles in allem rund 90 Kanalkilometer, auf denen motort werden muss, sind enorm kurzweilig. Das sieht sogar unser Bordhund Sky so. Sichtlich zufrieden nimmt er bei jeder Abfahrt seinen Platz auf dem Vordeck ein. Von dort kann er das Geschehen am Kanalufer und auch an Bord bestens mitverfolgen.

Im direkten Vergleich zu früher sieht der Zeitvertreib natürlich heute teils anders aus. Statt der Angeltour favorisieren wir heute eher eine Schlossbesichtigung. Und auch das „König der Löwen“-Rollenspiel auf dafür geeigneten Felsen, in dem wir uns als Kinder stundenlang verlieren konnten, weicht jetzt anderen Aktivitäten. Vieles ist jedoch auch über 17 Jahre gleich geblieben: der Besuch des „Göta Hotells“ ebenso wie die Radtour auf den ehemaligen Treidelpfaden am Kanal. Und auch das Schwimmen und Schnorcheln im glasklaren Wasser von Vänern und Vättern möchte heute keiner von uns verpassen.

Der Göta-Kanal ist ein Gesamtkunstwerk

Überhaupt zieht uns die besondere Atmosphäre des Kanals von Anfang an in ihren Bann. Der Wasserweg ist eine Art Gesamtkunstwerk aus schwedischer Naturromantik, idyllischen Orten und beeindruckender Kulturhistorie. Darüber hinaus ist die Liste der Beschäftigungsmöglichkeiten entlang der Strecke schier endlos – ideal mithin für den Familienurlaub.

Abschluss der Binnenfahrt durch Schweden ist Göteborg. Die pulsierende Stadt mit ihren 580.000 Einwohnern will sich nicht so recht in die lange Liste der ziemlich kleinen Orte einreihen, die wir zuvor besucht haben. Trotzdem begeistert uns die Metropole mit ihrer Architektur, dem angenehmen Flair und nicht zuletzt der breiten Östra Hamngatan, die uns ein wenig an die Pariser Champs Élysées erinnert. Was Göteborg ebenfalls auszeichnet, ist der fantastische Schärengarten direkt vor der Stadt. Dem können wir nach einem Tag Sightseeing nicht länger widerstehen und werfen die Leinen los – Kurs Marstrand.

Blick übers Schärenidyll bei Harstena, in der Bildmitte sieht man klein die „Luna“Foto: privat
Blick übers Schärenidyll bei Harstena, in der Bildmitte sieht man klein die „Luna“

Die Westschären ziehen uns wie schon so oft gleich wieder in ihren Bann mit ihren bunten Holzhäusern, engen Sunden, zahlreichen bewohnten Inseln und den Robben, die sich auf Felsen ausruhen. Dazwischen tiefblaues Wasser. Kaum haben wir genug Wind in den Segeln, geht der Motor aus. Nur noch das sanfte Plätschern der Wellen am Rumpf ist zu hören, wie schwerelos gleitet „Luna“ durchs Wasser. Wieder richtig zu segeln fühlt sich gut an. Viel zu schnell erreichen wir Marstrand.

Abschied von Schweden in Marstrand

Die quirlige Stadt ist dank der mächtigen Carlsten-Festung schon von Weitem gut zu sehen. Schwedische Segler zelebrieren hier regelrecht den Sommer. Im Hafen drängen sich Boote dicht an dicht, darunter einige tolle Regattayachten. Die autofreien Straßen laden zum Bummeln ein, sie sind gesäumt von pittoresken Holzhäusern in schönen Pastellfarben.

Ein paar Tage bleiben wir, dann heißt es, den Bug endgültig wieder gen Süden zu drehen. Schweren Herzens, aber mit zahllosen unschätzbar wertvollen Erinnerungen im Gepäck machen wir uns so langsam auf den Heimweg. Und auch der ist noch voller Höhepunkte. Entlang der Route liegt beispielsweise Anholt, die abgelegenste Inselgemeinde Dänemarks. Jan von der Bank schreibt in seinem Buch „Die Farbe der See“ über seinen Romanhelden Ole Storm: „In der späten Nachmittagssonne schimmerte die See vor Anholt in all jenen Farben, die Ole am meisten liebte. Weit draußen das dunkle, ruhige Blaugrün des tiefen Wassers, das sich mit flacher werdendem Grund allmählich in immer heller werdendes Grün verwandelte, bis es vor dem Strand in einem beinahe durchsichtigen Türkis leuchtete, durchzogen vom Silber der sich auf dem Strand brechenden Wellen. Ein märchenhafter, strahlender Farbverlauf, den Ole in dieser Schönheit schon lange nicht mehr gesehen hatte.“ Besser kann man es nicht beschreiben.

Auch Dänemark und die Schlei bieten noch Highlights

Weiter südlich entdecken wir danach sogar eine uns noch unbekannte Perle der dänischen Inselwelt: Bogense ist märchenhaft. Vielleicht steht deshalb die Statue von Hans Christian Andersen dort. Letzte Station an der Ostsee und zugleich unsere letzte tolle Neuentdeckung ist Maasholm an der Schlei. Von hier aus geht es in einem Schlag zur Rader Insel im Nord-Ostsee-Kanal. Acht Fahrstunden später hat uns tags darauf die Nordsee wieder. Mit vorlichem Wind und mitlaufendem Strom rauschen wir mit zehn Knoten Fahrt über Grund zur „Alten Liebe“.

Dort, in Cuxhaven, werden wir am Ende unserer Reise einige Tage eingeweht. Es ist wie ein kurzes Noch-mal-Innehalten, bevor der Alltag wieder Einzug hält. Wir merken, dass das vielleicht Wertvollste der zurückliegenden drei Monate der Faktor „Zeit“ war: Zeit füreinander und für sich selbst. Für Bücher und Gespräche, für Entdeckungen und Erholung. Zeit hat man nicht einfach, man muss sie sich nehmen! Es müssen ja nicht gleich 100 Tage sein.

Annika May


Die Familie hat ihren Törn auch im Video festgehalten:


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