Hannes LindemannMit dem Faltboot über den Atlantik

Nils Theurer

 · 25.12.2022

Das Faltboot „Liberia III“ (rechts) steht im Deutschen Museum. Mit knapp fünf Quadratmeter Tuch ging es im Schnitt mit drei Knoten zu Sache
Foto: YACHT/N. Theurer

Mit einer Nussschale über den Atlantik: Selten war der Vergleich naheliegender als für den experimentellen Extrem-Törn von Hannes Lindemann auf seinem segelnden Faltboot. Vor hundert Jahren wurde der Arzt und Abenteurer geboren

„Und ich möchte noch einmal dringend davor warnen, mit einem Faltboot das Meer zu befahren.“ Hannes Lindemann, geboren am 28.12.1922, beendete mit diesem überraschenden Statement das Buch über seine Atlantikpassage im Faltboot. Mit einer Mahnung, die offenbar nicht für ihn galt.

Am 20. Oktober 1954 umrundet er im Büchsenlicht die Hafenmole Gran Canarias an der Nordspitze der Insel. Ein leiser Start, ein Davonstehlen, „es sollte sich doch niemand Sorgen machen“, bekennt er in einem WDR-Interview 2012. Außerdem hielten viele sein Vorhaben ohnehin für etwas, nun ja, bizarr. Auf den Abschied der zahlreichen Skeptiker konnte er wohl verzichten.

Erst gelingt ihm der geplante Aufbruch vor Sonnenaufgang nicht, weil er den dringend benötigten Sextanten sucht, der sich schließlich unter dem Sitz findet. Endlich abgelegt, eilt ein Boot im Auftrag des Hafenkommandanten zu ihm, er solle sofort zurückkommen und ausklarieren. Dabei überläuft die Barkasse den nachgerüsteten Backbordschwimmer, bestehend aus dem halben Schlauch eines Autoreifens, fixiert mit einem Paddel, das bei diesem Manöver bricht. Zähneknirschend dreht der Kleinstboot-Abenteurer um.

Törn mit dem Einbaum war Luxus im Gegensatz zum Faltboot

Aber das würde sein drittes Umkehren bedeuten. Zweimal hatte er bereits den Absprung gewagt und kam dann doch wieder an Land. In der Saison ein Jahr zuvor war er mit einem Einbaum die gleiche Strecke von den Kanaren in die Karibik gesegelt. Eine entbehrungsreiche Fahrt. Er hatte dabei mit dem Trinken von Meerwasser experimentiert und stark gelitten.

Und dennoch empfindet er seine Einbaumreise als Luxustörn im Vergleich zum jetzigen Vorhaben. Hannes Lindemann ist getrieben, es nicht nur sich zu zeigen, sondern auch der Welt, und da ganz besonders diesem französischen Blender, diesem so incroyable erfolgreichen und verehrten Arzt Alain Bombard. Der zwei Jahre zuvor mit dem Schlauchboot ebenfalls auf den Kanaren gestartet war und sich als Schiffbrüchiger über den Atlantik treiben ließ. Angekommen proklamierte er, entgegen der bisherigen Erkenntnis, wochenlang Salzwasser trinken: läuft.

Das zweifelten nun neben Hannes Lindemann zwar auch andere an, die Bombard gesehen haben wollen, als er hundert Liter Trinkwasser in seinem Schlauchboot versteckte. Die ins Feld führen, dass er auf seinen Kurs kreuzenden Dampfern fürstlich gespeist habe. Aber doch, diese unendliche Einsamkeit hatte Alain Bombard ausgehalten, bewundernswert. Und dessen Berühmtheit! Hannes Lindemann hat bereits Expertise, und er ist auch Arzt. Und er fühlt sich so was von bereit für diesen einzigartigen Faltboottörn.

72 Dosen Bier als Kalorienlieferant

Denn stets, wenn er im Einbaum viel Meerwasser trank, befielen ihn Ödeme, trank er Süßwasser, bildeten sie sich zurück. Das war doch Mist, was der Franzose da erzählte! Das will er mit seiner Faltbootfahrt beweisen. Diesmal bricht er mit drei Liter Wasser auf. Ein Wahnsinn. Gut, 72 Dosen Bier sind außerdem an Bord, eher als Kalorienlieferant. Regenwasser und die Flüssigkeit ausgequetschter Fische will er nutzen, um mitten auf dem Meer nicht zu verdursten oder an den Folgen des Genusses salzhaltigen Wassers zu sterben. Hannes Lindemann drehte ein weiteres Mal um an diesem Morgen, Kurs West.

Nach 72 Tagen erreichte Lindemann Philipsburg auf der Karibikinsel St. Martin. Abgemagert um 25 Kilogramm, ansonsten geistig und körperlich intakt. Die geglückte Überfahrt bildet zunächst eine Erfolgswelle. Die Strapazen, das Bangen nach der nächtlichen Kenterung am 56. Tag, der nochmals schmalere Speiseplan, weil dabei etliche Vorräte verloren gingen, sie haben sich gelohnt.

Es ist jetzt neun Uhr morgens; ich schreibe in mein Bordbuch: Die Tortur beginnt”

Ausgedehnte Faltboottouren gewinnen seinerzeit in Deutschland enorm an Beliebtheit. Begonnen hatte die bis heute erfolgreiche Geschichte dieser Gattung am 30. Mai 1905. An diesem besonders warmen Tag baut der Architekturstudent Alfred Heurich seine „Luftikus“ am Isarufer auf, ein damals vollkommen neuartiges, viereinhalb Meter langes Gefährt, bei dem die Trennung von Gerüst und Beplankung geradezu dreist vollzogen ist. Inspiriert von Inuit-Kajaks, sind die mit Bambusstäben in Position gehaltenen Spanten lediglich mit Segeltuch bespannt. In fünf Stunden erreicht Alfred Heurich das 50 Kilometer entfernte München. Die Lizenz für die Serienfertigung verkaufte der Faltbooterfinder 1907 an den Sportartikelhändler Johann Klepper, Namensgeber der Werft, die noch heute Lindemanns Modell „Aerius II“ fertigt, freilich mit diversen Verbesserungen.

Pioniere im Faltboot

Hannes Lindemann ist nicht der erste Weitreisende im Faltboot, aber der bis heute bekannteste. 1930 paddelte und segelte Oskar Speck mit einem Faltboot der Bad Tölzer Werft „Pionier“ die Donau hinunter, querte das Mittelmeer ostwärts, umrundete Indien und arbeitete sich entlang der Küsten Südostasiens bis Australien vor, das er 1936 erreicht. Noch zwei Jahre vor Oskar Speck begibt sich Kapitän Franz Romer aus Litzelstetten bei Konstanz auf die erste Faltbootreise über den Atlantik. Der landet nach 58 Tagen an den Jungferninseln an. Nach einem Zwischenstopp auf Puerto Rico verschwinden Boot und Besatzung ohne Spur.

Was hatte Lindemann nicht gewettert über das Faltboot von Kapitän Romer. Tatsächlich war dessen windiger Untersatz eine Sonderanfertigung. Die Klepper-Werke hatten ihm nach dessen Plänen ein sechseinhalb Meter langes Boot mit vierzig Zentimeter Freibord und einem Meter Breite gebaut. Es war immer noch verwegen, mit dem fragilen Kajak in See zu stechen, aber es war eben kein Serienboot mehr. Dagegen hatte Lindemann seinen nochmals kleineren „Aerius II“ in einem Sportgeschäft erstanden – Sponsoring war seinerzeit noch höchst selten. Für die Fahrt nachgebessert hat er sein Faltboot dennoch.

Das Boot stöhnt und ächzt in jeder See, als handele es sich um meine eigenen Knochen”

Davon war im Deutschen Museum München, wo es über Jahrzehnte als Exponat zu bestaunen war, nichts zu sehen. In einem Brief an Günter Hennemann, einen ehemaligen Aufseher des Deutschen Museums, schreibt Lindemann, „dass der alte Herr Klepper meine zahlreichen Veränderungen am Faltboot fein säuberlich entfernt hat, ist wohl als Verfälschung zu bezeichnen.“ So gab es eine „zweite Haut für das Deck“, wohl eher eine Spritzdecke bis zum achteren Mast, einem aufgestellten Paddel. Und weiter: „Auf dem Süllbord hatte ich dünne elastische Bretter einer Orangenkiste befestigt, auf denen zwei wasserdichte gummierte Ausrüstungsbeutel lagen, die die Gewalt von Brechern mildern sollten.“ Außerdem hatte er die Rückenlehne zu Hause gelassen, er wollte es nicht zu bequem haben, um einfacher wach zu bleiben.

Das Faltboot im Deutschen Museum

Hannes Lindemanns Kajak ist erst im Kontext bewundernswert. Im Deutschen Museum war es zwischen einem noch älteren Faltboot und Rennruderbooten ausgestellt, nebensächlich geradezu. Ohne Sextant, Uhren, Kompass, ohne die wasserdichten Taschenlampen, ohne das Unterwassergewehr. Äußerlich gleichen sich die Rümpfe der Ruderboote und der des Faltbootes, erst die Atlantiküberquerung macht „Liberia III“ zu etwas Besonderem.

Dennoch: Ihr Weg bis ins Museum war lang. „Ich hatte immer wieder Führungen, bei denen es Fragen speziell zum Faltboot gab“, erzählt der Museums-Aufseher Günter Hennemann, „dann gab es 2005 einen Bericht in der YACHT über Lindemann, und ich fragte bei den Verantwortlichen im Museum, ob wir nicht Kontakt zu ihm aufnehmen sollten.“ Die waren zunächst skeptisch, „aber nach einem ersten Briefwechsel lud er mich nach Bad Godesberg ein“. „Hätten Sie auch Interesse, mein Faltboot mit Ausrüstung zu zeigen?“, fragte Hannes Lindemann Günter Hennemann und wies neidvoll auf die „Tilikum“ hin, ein kleines Boot, das als Attraktion im kanadischen National Maritime Museum auf Vancouver Island präsentiert sei. „Da meine Fahrt mit dem Serienfaltboot bis heute absoluter Weltrekord ist, müsste es doch möglich sein, in Deutschland Ähnliches zu erreichen.“ Er erinnerte Günter Hennemann: „Das damals größte Magazin der Welt, ‚Life‘, hat die Überquerung in einer Titelstory gebracht. Eine Ehre, die nur einem anderen Deutschen noch zuteil wurde: Der andere war Adenauer.“

Der Chefredakteur des Magazins mit internationalem Ruf habe nachzuweisen versucht, dass die Atlantiküberquerung gefälscht war, wird kolportiert. Er habe sich ein Klepper-Boot bestellt und in seinem Swimmingpool ausprobiert. „Er steigt hinein, kippt gleich auf der anderen Seite wieder heraus und erklärt daraufhin die Reise für unmöglich“, recherchierte Dirk Richardt in einem Beitrag für das Deutsche Museum. Erst die Dampfersichtungen hätten Hannes Lindemann davor bewahrt, als Schwindler gesehen zu werden. Die Veröffentlichung klappte daraufhin. Auf dem „Life“-Titelfoto vom 22. Juli 1957 lacht ein kräftiger Atlantikbezwinger aus dem Faltboot. Im Vergleich zur nordamerikanischen Begeisterung sei hierzulande „der Empfang unterkühlt gewesen, wir Deutschen sind vielleicht einfach kein Seefahrervolk“.

Ob Lindemann denn nirgends ein Denkmal gesetzt worden sei, fragte Günter Hennemann. Es gebe da die „Dr.-Lindemann-Straße“ auf Helgoland, habe der verschmitzt geantwortet. Die ist aber, stellt sich heraus, Medizinalrat Emil Lindemann gewidmet, von 1984 bis 1892 dort Badearzt. Nach Kapitän Romer sind eine Sporthalle und die Kapitän-Romer-Straße in Dettingen benannt. Eine Ehre, die Hannes Lindemann sich gewünscht hätte?

Hannes Lindemann war jahrelang YACHT-Autor. Unter anderem mit dem Beitrag „Faltboote und Kanus gehören nicht aufs Meer“. Zusammen mit Partnerin Ilse und „Liberia IV“, einem knapp neun Meter langen Kutter vom Typ „Colin Archer“ wollte er um die Welt, es blieb aber bei einer Atlantikpassage.

Lindemanns autogenes Training wurde Standard

Mit seiner Faltbootfahrt widerlegte Hannes Lindemann die zweifelhaften Salzwasser-Tipps des Alain Bombard. Das autogene Training bei Schiffbruch wurde selbst von der Weltgesundheitsorganisation als Standardverfahren anerkannt. Hannes Lindemann hatte die Selbstsuggestion für die Passage im Faltboot optimiert. „Ich schaffe es! Kurs West! Nicht aufgeben! Nimm keine Hilfe an!“ lauten seine berühmt gewordenen Leitphrasen, die er verinnerlichte und die ihm tatsächlich ein gedankliches Gerüst gegeben Dennoch, als das Faltboot kenterte, seine ohnehin dezimierten Vorräte untergingen und er bis zum Morgen neben dem Boot schwimmen musste, um im Hellen das Boot wieder aufzurichten, es hätte mit oder ohne Leitsätze auch ganz anders ausgehen können. Immerhin, die täglich drei Kilometer Schwimmen als Vorbereitung, sie hatten sich gelohnt.

Die Anerkennung des autogenen Trainings besaß jedoch einen Makel. Hannes Lindemann wurde mit der Methode protegiert von Johannes Heinrich Schultz. Der Psychiater gilt als Begründer des autogenen Trainings und bis in die siebziger Jahre als Spezialist. Aber J. H. Schultz war auch stellvertretender Direktor des „Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie“ des berüchtigten „Göhring-Instituts“. Er propagierte die „Vernichtung“ behinderter Menschen, damit „die Idiotenanstalten sich bald leeren werden“. Eine öffentliche Distanzierung Lindemanns von seinem Mentor ist nicht bekannt.

Lindemann wurde Vorbild für Wilfried Erdmann

Hannes Lindemann wurde insbesondere in den Jahren nach der geglückten Passage für viele Vorbild, explizit für Wilfried Erdmann: „Er hat mich auf den Weg gebracht mit Informationen.“ „Ich habe ihn bewundert, grenzenlos bewundert“, sagt Weltumsegler Rollo Gebhard. Er hat sich seinerzeit aus Begeisterung den Klepper Aerius als erstes Boot gekauft und auf bayerischen Seen gesegelt. Das Wichtigste, was er aus „Allein über den Ozean“ gelernt habe, war, dass Hannes Lindemann alles richtig gemacht hat, „aber an sich geht das nicht mit dem Faltboot“. Wie wahr: Der Deutsche Tim Weltermann startet am 25. Oktober 2003 von Gran Canaria zu einer Atlantiküberquerung im Kajak. Am 31. Oktober sichtet ihn eine Yachtcrew, danach niemand mehr.

Der WDR-Reporter Marko Rössler fragte Lindemann zum neunzigsten Geburtstag, ob er seine Versuche nicht hätte an Land machen können? Wozu, er habe ja gewusst, man kann es schaffen. „So groß sind die Strapazen für mich nicht gewesen. Für andere ja, ich glaubte an den Chef da oben.“

Die Hülle, also die dünne Beplankung eines Faltbootes, sie macht Seefahrt besonders unmittelbar. Mit den Jahren zeigt sich der Arzt und Abenteurer ausgesöhnt mit dem ganz großen Ruhm – der ausblieb. Die Haut, die Membrane zum Jenseits, sie schien zarter zu werden. Noch einmal zum Boot? „Ich soll noch mal nach München fahren? Nee.“ Auch nicht ans Meer. Hannes Lindemann näherte sich mit neunzig dem Ende seines Törns – „nicht schlimm, nicht schlimm, gar nicht“. Hans-Günther „Hannes“ Lindemann starb am 17. April 2015. „Er ist zu seiner letzten Reise aufgebrochen“ hieß es in seiner Todesanzeige.


Drei Fahrten, drei Erfahrungen

Foto: YACHT

1955 startete Hannes Lindemann mit einem ausgehöhlten und großteils eingedeckten Baumstamm von 7,80 Meter Länge und 76 Zentimeter Breite – was eher Durchmesser bedeutet, die 600 Kilogramm verdrängende „Liberia II“ muss enorm rank gewesen sein. „Liberia I“, elf Meter lang, war den afrikanischen Bootsbauern beim „Ausräuchern“ der Holzböcke abgebrannt. Die Passage mit dem Einbaum nach Tahiti dauerte 65 Tage. Dabei versucht er sich am Genuss von Salzwasser, wie Alain Bombard es seit seiner Schlauchboot-Passage 1952 propagierte. Und stellt erhebliche Diskrepanzen fest. 1956 geht es mit eigenen Erkenntnissen und Hannes Lindemann als Versuchsperson legendär mit dem Faltboot über den Atlantik, vier Jahre später nochmals mit der 8,98 Meter langen Colin-Archer-Konstruktion „Liberia IV“


Technische Daten “Liberia III”

  • Modell: Klepper „Aerius II“
  • Gesamtlänge: 5,20 m
  • Breite: 0,78 m
  • Tiefgang: 0,27 m
  • Verdrängung: 27 kg
  • Vor-/Großsegelsegel: 1,35/3,4 m²
  • Aufblasbare Luftschläuche: 80 l
  • Bauweise: Spanten und Stringer aus Holz, mit Hypalon bespannt
Foto: Klepper

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