Frachtraum auf schnellen Segelschiffen war Mitte des 19. Jahrhunderts sehr gefragt. Es war die Blütezeit der Briggs, der zweimastigen, vollgetakelten Großsegler, die aber nach und nach von den größeren Vollschiffen und Barken verdrängt wurden. Und so bewerben denn die Betreiber ihre Tagestörns auf der Brigg „Roald Amundsen“ zu Großveranstaltungen wie der Hanse Sail in Rostock mit dem Slogan „Segeln wie vor 150 Jahren“. „Ganz archaisch und in Handbetrieb: knapp vier Kilometer Tampen auf rund 180 Belegnägeln für insgesamt 850 Quadratmeter Segelfläche, verteilt auf 18 Segel an und zwischen zwei Masten. Der Trick ist: Es gibt ein System dabei.“ Der Schluss zumindest klingt beruhigend.
Der im Verhältnis zu gaffelgetakelten Schonern deutlich höhere Arbeitsaufwand ist an Bord der „Roald Amundsen“ gewollt. Sind bei diesem Rigg doch Seemannschaft und Segelkenntnisse besonders intensiv zu erfahren – ideal auf einem Sail Training Ship. „Wer sich genauer dafür interessiert, spricht einfach die Stammcrew an“, sagt Kapitän Thilo Fink bei der Begrüßung der Tagesfahrtgäste in Rostock. Für Fink und seine Crew sind die Tagestörns während maritimen Großereignisse harte Arbeit. „Für die Schiffsführung besteht die entscheidende Herausforderung darin, mit dem Stop-and-go-Verkehr der zahlreichen Großsegler hier auf der Warnow klarzukommen“, sagt der Nautiker.
Die „Roald Amundsen“ entstand nicht als Rahsegler. Ihr Rumpf wurde 1952 an der Oberelbe auf der Roßlauer Werft im Rahmen einer Serie von Loggern für die Hochseefischerei aufgelegt und noch während der Bauphase zum sogenannten Tanklogger mit großer Kapazität umgestaltet. Ab 1. April 1952 nutzte die Nationale Volksarme (NVA) der DDR die „Vilm“ als Tank- und Versorgungsschiff. Ab den siebziger Jahren transportierte das Schiff als Bilge-Entöler das abgepumpte Bilgenwasser der NVA-Schiffe zu einer Sammelstelle. 1989 wurde dieser Dienst eingestellt; die „Vilm“ wurde in Neustadt in Holstein am Marinestandort aufgelegt und zu Wohnzwecken genutzt.
Der Bootsbauer Detlev Löll und Kapitän Hans Temme ersteigerten das Schiff von der Verwertungsgesellschaft für Bundeseigentum in Frankfurt und übernahmen es am 2. Dezember 1991. Auf Initiative Lölls wurde es zur Brigg getakelt. 1992 begann der Umbau in einem ABM-Projekt in Wolgast. Im Sommer 1993 lief der ungewöhnliche Zweimaster mit seiner jungen Stammcrew aus Wolgast aus, um unter dem Kommando von Kapitän zur See Immo von Schnurbein das Manövrieren zu erproben. Der ehemalige Kapitän der „Gorch Fock“ war begeistert: „Sehr schnell lernte ich die guten Manövriereigenschaften und das hervorragende Segelverhalten der Brigg schätzen“, wird er auf der „Roald Amundsen“-Homepage zitiert.
Eigner blieben Detlev Löll und Kapitän Hans Temme, von denen der eigens gegründete Verein „LebenLernen auf Segelschiffen“ (LLaS) die Brigg unentgeltlich mietete. 2014 übernahm LLaS – auch dank zahlreicher zinsfreier Privatdarlehen der Mitglieder – das Schiff und schenkte es Ende 2016 dem neu gegründeten Verein Traditionsschiffe in Fahrt. Betreiber bleibt weiterhin der LLaS, der Heimathafen Eckernförde.
Die „Roald Amundsen“ motort hinaus auf die Warnow. Ihre heutige Tagesfahrt unterscheidet sich deutlich von den normalen Törns des Traditionsschiffs, das als eines der wenigen deutschen Schiffe bis auf zwei Werftzeiten pro Jahr durchgehend unterwegs ist – im Sommer in der Ostsee und im Winter auf den Kanarischen Inseln oder in der Karibik. Als Trainee können sich Interessierte, auch ohne seglerische Vorkenntnisse, zu einem der meist mindestens sieben Tage langen Törns anmelden. „Mitgebracht werden sollte die Lust zum aktiven Segeln sowie die Bereitschaft, sich auf den Rhythmus und die Arbeit an Bord einzulassen“, so die Betreiber.
Der Tagesablauf an Bord ist in einem Dreiwachen-System organisiert. Ein Steuermann (Nautiker), ein Toppsgast (wachführender Matrose), ein bis zwei Deckshände (erfahrene Matrosen), ein Deckshandanwärter und die Trainees einer Wache sind zweimal am Tag vier Stunden lang für das gesamte Schiff verantwortlich. Sie müssen navigieren, Ausguck und Ruder gehen, Segel setzen oder bergen, Segelmanöver fahren, gegebenenfalls Hafen- oder Ankerwache halten und ihren Teil des Reinschiffs übernehmen. Einzelne Wachmitglieder werden darüber hinaus in der Backschaft eingesetzt. Die beiden anderen Wachen haben derweil frei.
Die Trainees sollen auf dem Rahsegler unter normalen Bedingungen mit ins Rigg steigen, um die dort anfallenden Arbeiten zu erledigen. Zum Klettern gedrängt wird niemand. Wer aber mal den Blick von der Royalrah, gut 30 Meter über dem Meer, genossen hat, kann süchtig danach werden.
Das Segeln der Brigg kann auch richtig harte Arbeit sein. Etwa wenn die Obermarsen gesetzt werden: Die oberen drei Rahen beider Masten sind fierbar angebracht, um den Gewichtsschwerpunkt des Riggs möglichst weit unten zu halten. Zum Setzen von Royal, Bram und Obermars werden also die Segel nach unten und deren Rahen nach oben gezogen. Die Obermarsrah muss dabei am weitesten bewegt werden. Doch selbst die arbeitsreichste Wache endet mit dem Wachwechsel mittschiffs an Deck. Und einem Ritual: Die abziehende Wache wünscht der aufziehenden Wache eine „guude Wacht“. Und die aufziehende Wache wünscht der abziehenden eine „guude Ruuh“.
Die abziehende Wache hängt unter Deck im sogenannten Tigergang ihr Ölzeug und die obligatorischen Klettergurte auf. Die Messe im Achterschiff ist im üblichen Dreiwachen-System ausreichend groß. Bei Vollbelegung des Schiffs wird es hier jedoch zum traditionellen gemeinsamen Kapitänsdinner am Ende eines Törns kuschelig eng. Auch von außen betrachtet wünscht sich manches Crewmitglied den Hintern der „Roald“ ein Stückchen länger. Geschlafen wird in festen Kojen, überwiegend in Viererkammern. Im Messelogis im Vorschiff können – ganz klassisch – zusätzliche Hängematten gespannt werden. Die Ausstattung ist schlicht und funktional. An Bord gibt es drei Toiletten und drei Duschen. Im Aufbau auf dem Achterschiff befinden sich die Kombüse und der schmale Navigationsraum.
Im sogenannten Quergang davor erzählt Kapitän Thilo Fink, wie er auf den Rahsegler kam. Fink wurde 1974 in Bonn geboren, wuchs in Ecuador auf und lernte dort als 13-Jähriger segeln. Mit 16 Jahren kam er zurück nach Bonn, wo er nach dem Abitur Volkswirtschaftslehre studierte. Er machte seine Sportbootführerscheine, den BR-Schein des Deutschen Segler-Verbandes, arbeitete für eine Segelschule, segelte Jolle und surfte. Und suchte im Jahr 2000 nach einer Mitsegelmöglichkeit auf einem Sail Training Ship, um den eigenen „seglerischen Horizont zu erweitern“. Der Internetauftritt der „Roald“ mit seinen vielfältigen Informationen sprach ihn am meisten an. Also war die Brigg der erste Rahsegler, auf dem er als Trainee fuhr. „Damals hatte ich hier noch keine Ahnung von irgendwas.“
So wie Fink damals geht es noch heute zahlreichen Trainees, die jedes Jahr auf dem schwarz gestrichenen Segler anheuern, das der landläufigen Vorstellung eines Piratenschiffs recht nahekommt. Viele werden auch von ähnlicher Begeisterung gepackt. Thilo Fink fuhr in den kommenden Jahren in nahezu jeder Position, als Deckshand, Toppsgast, Maschinistenassistent, Bootsmann und Steuermann. „Ich möchte im Notfall alle anfallenden Arbeiten auch selbst übernehmen können“, sagt er zu seinen vielfältigen Einsätzen. Ferner erwarb er die notwendigen nautischen Befähigungszeugnisse, um als Kapitän fahren zu dürfen.
So ein Großsegler ist schon etwas Besonderes – “vom Seglerischen, aber vor allem auch wegen der Menschen“, erklärt Fink. „Im normalen Alltag hat man im Job und im Freundeskreis immer mit denselben Leuten zu tun. Hier an Bord treffe ich Menschen, denen ich sonst nie begegnet wäre. Das ist häufig sehr interessant und spannend und hat zu tollen Freundschaften geführt.“ Seine Ehefrau, mit der er zwei Kinder hat, lernte der inzwischen in Stuttgart lebende selbstständige Finanzberater übrigens auch an Bord kennen.
Thilo Fink stand 2007 erstmals als Kapitän auf der Brücke der „Roald Amundsen“. Insgesamt gehören zwölf sich abwechselnde Kapitäne (davon drei Frauen) zu den rund 60 Nautikern der Stammcrew. „Die besteht aus rund 750 der 1300 Vereinsmitglieder“, weiß Eva Sönnichsen. „Zirka 280 Stammcrewmitglieder bilden den harten Kern, der regelmäßig fährt“, ergänzt die LLaS-Schatzmeisterin. Sie hat noch eine weitere beeindruckende Zahl parat. Allein an Bord leisten die Ehrenamtlichen über 4000 Manntage im Jahr. Um diesen enormen Bedarf zu decken, ist eine fundierte Ausbildung sehr wichtig. „Unser Ausbildungssystem ist allgemein anerkannt“, versichert Sönnichsen.
Neulinge an Bord fahren zunächst mindestens zwölf Tage lang als Trainee. Zum Ende jeder Reise bescheinigt der Toppsgast die erworbenen Fähigkeiten im persönlichen „blauen Heft“. Die dann folgenden Karrierestufen im Decksdienst sind Deckshandanwärter, Deckshand und Toppsgast. Neben drei Steuerleuten und dem Kapitän gehören noch Maschinist, Smut und Bootsmann zur Stammcrew.
Eva Sönnichsen stieß 2002 zur ehrenamtlichen Crew der „Roald Amundsen“, weil ihr das Segeln von Yachten mit immer mehr Rollsegeln und elektronischen Navigationsgeräten zu langweilig wurde. Die heute 74-Jährige fuhr als Steuerfrau ebenso wie an Deck, bevorzugt längere Törns wie etwa von den Kapverden zu den Azoren. Die Buchhalterin, die gemeinsam mit ihrem vor sieben Jahren verstorbenen Mann ein mittelständiges Unternehmen in der Eifel leitete, übernahm 2006 den Posten der Schatzmeisterin im Verein. Seither teilt sie die Smuts ein, organisiert die Verproviantierung, fährt selbst als Smut und führt die Kasse. Sie sagt: „So ein Schiff ist ein Geld und Zeit verschlingendes Wesen.“ Der Betrieb der „Roald Amundsen“ ist mit einem Kleinunternehmen vergleichbar. Laufende Kosten: 30.000 bis 35.000 Euro – monatlich.
Rund 415.000 Seemeilen hat die “Roald Amundsen” mittlerweile geloggt. Derzeit befindet sie sich auf einer Nordatlantik-Rundreise. Zum Jahreswechsel ist sie in der Karibik unterwegs, im April wird sie wieder in Europa erwartet, im Sommer steht das Baltikum und Schweden auf dem Programm. Der Törnplan ist abwechslungsreich, so wie die Geschichte der Brigg.
Dieser Artikel erschien erstmals 2020 und wurde für diese Online-Version aktualisiert.