Der eigentliche Chef sei Willi, behaupten die anderen. Willi hingegen sagt: „Wir alle sind der Chef!“ Das bleibt also schon mal ungeklärt. So immer ganz stillschweigend einig waren und sind sich die Mitglieder des Schweizer Eigner-Konglomerats bekanntermaßen ja ohnehin nicht. Außer in einem wesentlichen Punkt: Ihr Schiff, die „Gun“, die sie seit 2012 besitzen, ist die Schönste am ganzen Bodensee!
Lang, schmal und schnell – das sind die Attribute, mit welchen sich die „Gun“ grob charakterisieren lässt. Schon die bloßen Zahlen sind eindrücklich: 16,60 Meter lang, also knapp 55 Fuß, dabei nur gerade mal 2,58 Meter breit, das entspricht einem Streckungsverhältnis von 6,5 : 1. Zum Vergleich: Bei modernen Fahrten- oder Regattayachten beträgt die Relation von Länge zu Breite im Allgemeinen 3:1. Beachtlich sind zudem die Längen der Überhänge zu den Schiffsenden. Die Wasserlinie der „Gun“ wird über nur 10,40 Meter vermessen, das ergibt Überstände an Bug und Heck von zusammen mehr als sechs Metern. Freilich nur vermeintlich überschüssiges Holz, das wirksam wird, wenn das Schiff entsprechend Lage schiebt und über die volle Ausdehnung durchs Wasser zieht.
Länge läuft, so lautete die Devise schon vor mehr als 100 Jahren. Erik Salander heißt der Mann, welcher die „Gun“ konstruiert hat, gegen Ende des Ersten Weltkriegs. Salander, bekannt auch als der „Meister der Linien“, hatte zwei Jahre zuvor schon die „Ila“ gezeichnet, ebenfalls ein 75er-Schärenkreuzer und das Schwesterschiff der „Gun“. Auch die „Ila“ hat bis heute durchgehalten und wird aktuell noch in Helsinki gesegelt. Überhaupt: Die Geschichte der beiden fast identischen Schiffe verläuft – so weit bekannt – über weite Strecken parallel. Beide 75er wurden nacheinander auf der Werft Hästholmsvarvet in der Umgebung von Stockholm gebaut und später nach einem aktiven Regattaleben in Schweden und zahlreichen Eignerwechseln nach Finnland verkauft, beide nach Helsinki.
2012 allerdings gingen die Wege der scheinbar unzertrennlichen Schwestern doch noch auseinander. Die letzten Eigner von Schärenkreuzer „Gun“ in Finnland, die Familie Jacoby, hatte das 16 Meter lange Möbel zum Verkauf ausgeschrieben. Und plötzlich waren da die Interessenten aus der Schweiz, welche sich offenbar spontan in die „Gun“ verliebt hatten. Der Handel war bald getätigt, das Schiff in Helsinki schnell verladen und an den Bodensee gekarrt, auf einem Tieflader.
Ziemlich blauäugig seien sie vorgegangen, räumt selbst Willy Sauter ein, den die anderen eben als den Chef sehen. Tatsächlich laufen bei ihm seit vielen Jahren die Fäden des Syndikats zusammen; er war es wohl auch, der das Inserat zum Verkauf der „Gun“ im Internet entdeckt hat. Natürlich habe man gewusst, dass das Schiff mehr als 16 Meter lang ist. Die Antwort darauf, wo man es letztlich hinlegen und festmachen könnte, blieben die neuen Eigner am Bodensee zunächst selbst noch schuldig; Hafenplätze für Schiffe dieser Länge sind ja nicht nur dort eine Rarität. Man einigte sich darauf, dass sich irgendwie zu gegebener Zeit eine Lösung finden würde. Erstmal musste das Schiff her.
Ein dramatischer Umstand führte das Projekt dann allerdings tatsächlich ziemlich nahe an die Grenzen des Scheiterns. Unmittelbar vor dem Verkauf an die Schweizer kam in Finnland während einer Ausfahrt im Starkwind der hohe und dünne Mast aus Kohlefaser von oben, in drei Teilen. Weil die Eidgenossen allerdings von früheren Projekten über eine Menge Erfahrung im Umgang mit Carbon verfügten, entschied man sich, das Schiff trotzdem zu übernehmen und den Mast versuchsweise zu reparieren, natürlich verbunden mit einem gewissen Preisnachlass. Das Gute daran sei gewesen, dass man den Mast in drei handlichen Teilen problemlos auf dem Schiff an den Bodensee habe transportieren können, scherzt einer aus dem Team.
Über solche Späße kann das Kollektiv aber erst heute wirklich herzhaft lachen. Denn mehr als 700 Arbeitsstunden haben die umtriebigen Schweizer während des Winters 2012/13 in die Wiederherstellung des fast 23 Meter langen Riggs investieren müssen. Miteigner Clemens Dransfeld, Professor auf dem Spezialgebiet der Verbundwerkstoffe, hat die Arbeiten damals mit seinem Fachwissen koordiniert, er war auch für die Strukturberechnungen verantwortlich – und zwar mit Erfolg. Nun steht das schlanke, filigrane und blendend weiß lackierte Dreisalings-Rigg wieder neu aufgebaut auf der „Gun“ und wurde auf Herz und Nieren geprüft. Bisher jedenfalls hat alles bestens gehalten.
Und noch eine Sache gab anfangs zu Besorgnis Anlass: Der vermutlich irgendwann in den Siebzigern oder Achtzigern eingebaute Dieselmotor von Isuzu war bei der Übernahme komplett am Ende, Starten unmöglich. Ein neues Aggregat musste also her. Heute schnurrt ein Nanni-Diesel mit 30 PS Leistung im Bauch der „Gun“, mit Wellenantrieb zum Propellerbrunnen.
Zunächst musste das Schiff ohnehin in die Werft zur Generalüberholung. Während ihrer Zeit in Helsinki wurde Schärenkreuzer „Gun“ von den damaligen Eignern offenbar nie wirklich abgedeckt; Sonne, Salz und saurer Regen hatten den Oberflächen in den Jahren arg zugesetzt. Das Deck, der Kajütaufbau und sämtliche Teile im Cockpit wurden von den neuen Eignern in der Schweiz komplett abgezogen und neu lackiert. Und das Stabdeck aus dem Holz der amerikanischen Douglasie erhielt ebenfalls wieder eine dicke Lackschicht.
Gefertigt wurde die „Gun“ übrigens in Karweel-Beplankung aus Honduras-Mahagoni. Kiel und Totholz bestehen aus Eiche. Im Lauf der Geschichte, die im Fall der „Gun“ bedauerlicherweise nur sehr schlecht und lückenhaft dokumentiert ist, wurde dem Boot außerdem ein solider Stahlrahmen eingebaut; dies, um die Struktur zu verstärken und folglich wohl auch, um die Kräfte aus dem höheren Rigg aufzufangen. Zu Beginn, ab 1918, trug das Schiff ein Gaffelrigg, es wurde erst später hochgetakelt und schließlich mit einem modernen und leistungsstarken Rigg aus Kohlefaser ausgestattet. Unbekannt bleibt aber weiterhin, wann genau diese Umbauten und von wem sie vorgenommen worden sind.
Wer sich unter Deck der „Gun“ begibt, unternimmt eine veritable Zeitreise. Blaue Velours-Polsterungen, mit Knöpfen versehen, dunkles Mahagoni auf Hochglanz lackiert, gedrechselte Handläufe sowie neu aufpolierte Messingbeschläge prägen das Bild. Man taucht regelrecht ab, in eine Welt längst vergangener Tage – echt und unverfälscht. So war es früher schon, vor 100 Jahren. Zwar gibt es an Bord mittlerweile sogar Elektrizität, aber auch nur für den Betrieb der Einbaumaschine. Ansonsten sorgt tagsüber ein hübsch gemachtes Oberlicht für ein wenig natürliche Illumination und abends eine Petroleumlampe für ein schiffig-schummriges Ambiente.
Welches die Schweizer jeweils zum Saisonende gern voll auskosten. Am Abend vor dem Auswasserungstermin nämlich wird unter Deck nochmals so richtig eingeheizt und ein Fondue aufgesetzt, nach guter lokaler Tradition. Dann sitzen sie alle unter Deck, im Dampf der Käsesuppe, später werden dazu noch Zigarren geraucht. Um die schlechte Luft braucht sich derweil niemand zu kümmern, denn das Schiff kommt ja schon tags darauf ins Winterlager mit reichlich viel Zeit zum Auslüften.
Eigentlich wäre ja alles ganz einfach gewesen. Mit dem Wunsch nach etwas Gemütlichem für Ausfahrten nach Feierabend hatte die Eignergemeinschaft Carondimonio schon vor einiger Zeit ihre wilden Regattajahre mit dem damals gleichnamigen feuerroten Libera-Racer vermeintlich beendet. Die von den Schweizern in Eigenregie gebaute Rennziege, gemeinhin als „Affenhügel“ verunglimpft, hat mit ihren breiten Auslegern, zwölf Trapezen und einem fast lächerlich hohen Mast nicht nur am Bodensee die Trophäen fast aller Langstreckenregatten abgeräumt. Nach diesen Tagen wollten die „Carondis“, so werden sie bis heute genannt, seglerisch eigentlich zur Ruhe kommen, zum Beispiel mit einem 30er-Schärenkreuzer im Visier ihrer Begehrlichkeit. „Das wäre vielleicht vernünftig gewesen“, räumen sie ein, hinter vorgehaltener Hand und auch nur halb im Ernst. Doch mit der Vernunft hatten es diese Schweizer noch nie so sehr.
Zum Glück für die „Gun“, die heute dank der intensiven Pflege ihrer Betreuer und trotz ihres stattlichen Alters immer noch daherkommt, als wäre sie direkt vom Stapel gelaufen. Und zum Glück für die lebendige Klassikerszene am Bodensee, die um ein ausgesprochenes Schmuckstück reicher geworden ist.
Eines noch wollen die Schweizer dann doch geklärt haben. Der Name „Gun“ hat mit Waffen nichts zu tun, weder mit Kanonen noch Pistolen oder Gewehren. Gun ist ein Frauenname in Schweden. Das ist beruhigend zu wissen.
Aus seiner Feder stammen die Risse von vielen Schärenkreuzern, die in Schweden zwischen 1910 und 1920 gebaut worden sind. Konstrukteur Erik Andreas Salander (1883–1957) war bekannt für seine schnellen und schönen Entwürfe, vor allem für 55er-, 75er- und 95er-Schärenkreuzer. Mit seinen Arbeiten hat er zu seiner Zeit maßgeblich die Entwicklung im frühen Segelsport mitbestimmt. Gebaut wurden die meisten der Yachten auf der Werft Hästholmsvarvet in der Nähe von Stockholm, so auch die beiden stattlichen 75er-Schärenkreuzer „Ila“ (1916) und „Gun“ (1918).
Der Artikel erschien in YACHT-Ausgabe 24/2018 und wurde für die Onlineversion überarbeitet.