Marc Bielefeld
· 29.10.2022
Schlicht und schön, agil und hochseetauglich, dazu günstig: Der Tiki 30 von Katamaran-Papst James Wharram ist ein Klassiker für Freigeister und Freunde puren Segelns. Das Beste: Man kann sich den flachen Flitzer selbst bauen
Kapitale Yachten liegen in der Bucht von Porto Pino vor Anker, 90 Fuß lange Segelvillen, Megayachten mit Jacuzzideck und Butlerservice an Bord. Links und rechts die üblichen mediterranen Segelmaschinen. Unter 60 Fuß geht kaum was, überall Carbonsegel, hydraulische Badeplattformen, Heckgaragen mit Jetskis und allem Pipapo. Über Südsardinien thront der Hochsommer, das Meer ein Rausch aus Türkis, am frühen Abend schallt Musik über die Lagune.
Zum Sonnenuntergang schwebt ein weiteres Vehikel in die Bucht, im Vergleich zu den anderen jedoch ist es auffällig unauffällig. Minimal und leise kommt es daher, kleine Segelgarderobe, feine Linien, flach wie eine Flunder. Aus dem Rahmen fällt das Boot des Weiteren in doppelter Hinsicht, nicht nur wegen seiner zwei schmalen Rümpfe, sondern auch wegen seiner Flagge: Am Heck weht die australische Nationale. Und dann ist da noch der Skipper. Freihändig steht er vorn auf einer Kufe, Schiebermütze, sehniger Oberkörper, Bart, lange Haare. Das kleine Boot dreht bei, geht unter Segeln vor Anker, geräuschlos wie eine Seemöwe.
Der Mann an Bord rollt sein Sonnensegel aus, klariert ein, zwei Leinen, schon folgt das wichtigste Manöver des Tages: der Sprung ins warme Meer. Die kleine Yacht ist wie gemacht dafür, gerade mal einen halben Meter schwebt der offenbar federleichte Katamaran über dem Wasser, türkisfarben gestrichen wie die Südsee und auch sonst überaus polynesisch anmutend. Die Rümpfe erinnern an die Form tahitianischer Auslegerkanus, die Trampoline touchieren fast die Wogen, die weiß lackierten Pinnen ziehen sich weit geschwungen nach achtern.
Das außergewöhnlichste Merkmal des seetüchtigen Flitzers jedoch: Anders als die Millionen-Dollar-Boliden ist dies ein „Do it yourself “-Boot. Der Katamaran wurde ersonnen, um ihn mit eigenen Händen anzufertigen – auch ohne gelernter Bootsbauer zu sein.
James Wharram, der englische Pionier für hochseetaugliche Multihulls (siehe Porträt unten) entwarf den Tiki 30 in den frühen neunziger Jahren. Nach diversen anderen Entwürfen des umtriebigen Seglers – größeren wie kleineren Kats – sollte dies ein Wurf in die goldene Mitte sein. Ein sogenanntes Coastal Trek Design, trailerbar, aber dennoch aus dem Stoff, um auf und durchaus auch über die Ozeane zu segeln. Erbaut, um darauf zu leben und zu reisen. Neun Meter lang ist der Tiki 30, fünf Meter breit, Gewicht: gerade mal 1.000 Kilogramm. In jedem Rumpf versteckt sich eine einfache, schmale Doppelkoje, ein flaches Deckshaus zwischen den Rümpfen bietet weiteren Platz.
Unabhängigkeit und Freiheit waren die Lebensmottos von Kat-Konstrukteur James Wharram. Sie prägten sein Werk ebenso wie die Suche nach besonders simplen Lösungen”
Vorn und hinten Trampoline, Stauraum in zwei Backskisten, Kartentisch in der Kabine, das Großsegel mit kurzer Gaffel ausgestattet, dazu eine kleine Rollfock, fertig ist die polynesische Interpretation modernen Segelns: ein flacher, wendiger und doch seefreudiger Kat, mit dem sich so ziemlich alles anstellen lässt – sogar eine Safari absolvieren kann man damit. Eine Flotte von Tiki 30 ging tatsächlich schon auf dem Karibasee in Simbabwe zu Wasser, um sich dort den Elefanten- und Büffelherden zu nähern. Wegen seines geringen Tiefgangs, des leisen Dahinpirschens auf dem Wasser, aber auch wegen seines Platzangebots für Gäste wurde der Kat in Afrika bereits öfter als Safariboot eingesetzt.
Eine Idee ganz im Sinne von James Wharram. Der drahtige Brite war ein Naturbursche und Segelminimalist, ein Abenteurer, Freigeist, Querdenker und Möglichmacher tausend verrückter Ideen. 1953 entwarf er seinen ersten hochseetauglichen Katamaran, die „Tangaroa“, und machte damit das Zweirumpfboot als Fahrtenyacht salonfähig. Auf Trinidad und Tobago hockte er in den fünfziger Jahren mit Segelikone Bernard Moitessier zusammen, um seine Entwürfe und Ideen zu verfeinern. Vor allem seine Vorstellung eines möglichst einfachen Lebensstils auf dem Wasser fesselte viele: Freiheit und Unabhängigkeit waren Wharrams Devise – auch ohne großen Geldbeutel. Die Tiki 30 fand mit gutem Grund so viele Anhänger: Über 2.000 Baupläne verkaufte James Wharram von seinem Mittelklasse-Flitzer. Im Winter 2021 starb der seeverliebte Katamaran-Papst. Der Kult um seine Leichtbau-Kats aber geht weiter.
Am nächsten Morgen bittet der kontaktfreudige australische Skipper zum Segeln an Bord. Schwerelos schwebt der Kat von seinem Ankerplatz frei, schnell sind die Segel gesetzt, schon kommt das Vehikel in Fahrt. Fröhlich nickend spaziert die „Kaitiaki“ durch die kleinen Wellen, läuft erstaunlich hoch am Wind, wendet, halst. Mark Seisun, 52, hat den Kat auf Sardinien gebraucht gekauft, ihn wieder auf Vordermann gebracht, viele Details erneuert und in eigener Regie fit gemacht.
Einige Konstruktionsdetails stechen sofort ins Auge. Lose, einfache Verbindungen, wo man hinschaut: Statt Metallbeschlägen, teuren Blöcken und aufwändigen Verbolzungen sind an vielen Stellen Tampen die verbindende Lösung – wie damals im alten Polynesien, wo die frühen Südseebewohner fast alles mit Kokosfaser verknoteten, um ihre Boote zu bauen. Das Trapez, an dem das Vorstag gespannt ist, wurde mit Tampen durch zwei Löcher in den Rumpfspitzen geführt: keine Schraube, kein Bolzen, kein Püttingeisen. Lediglich ein handlackiertes Holzfundament verstärkt die sensible Stelle. „Easy does it“, sagt Seisun, der den Kat inzwischen auswendig kennt. „Einfache Lösungen überall, das macht die Konstruktion aus.“
Gleiches gilt für die Verbindung der beiden Rümpfe. Wharram schwörte auf Beams mit flexiblen Kontakten, um die Belastung an den entscheidenden Punkten zu minimieren. Das Boot soll sich den Wellen anschmiegen – nie gegen, sondern immer mit dem Meer und seinen Bewegungen durchs Wasser gehen. Mark Seisun wollte diese wichtigen Verbindungen erneuern. Auf Sardinien schlich er durch die Autowerkstätten und suchte sich alte Anschnallgurte – nun halten sie die Rümpfe und tragenden Querstreben des Katamarans zusammen: fest und doch flexibel genug, um schönes, weiches Segeln zu ermöglichen.
Die beiden Ruder sind in ähnlicher Manier sozusagen aufgehängt: mit Seilschlaufen aus festem, modernem Tampen. Kein Scharnier, das brechen, keine Schraube, die rosten kann. Und um sämtliche Befestigungen zu prüfen oder zu erneuern, reicht es, den Kat auf eine Sandbank zu steuern, ins flache Wasser zu steigen und die Tampen bei Bedarf zu tauschen. Kostenloses Spaßmanöver statt teuren Werftaufenthalts. Einfach. Genial. Günstig.
Mit Ideen und Lösungen dieser Art haben sich die Wharram-Katamarane längst einen legendären Ruf ersegelt. In den letzten 50 Jahren sind über 10.000 Wharram-Designs diverser Längen und Größen verkauft worden. Selfmade-Katamarane, die inzwischen mehrere Millionen Seemeilen über die Weltmeere absolviert haben. Und nicht einer soll jemals gekentert sein. Wharram glaubte jedoch noch aus anderen Gründen an die Philosophie des Eigenbaus. Er schrieb einmal: „In einer Welt der sich ändernden Werte sein eigenes Boot zu bauen gibt eine innere Sicherheit, es verleiht einem die Kraft und Individualität, um sein eigenes Leben zu leben.“
Sich sein Boot nach Wharrams Plänen zu konstruieren kommt einem Bootsbaukurs im Schnellverfahren gleich. Ohne allzu komplizierte Bauphasen, ohne schweres Gerät, ohne utopische Materialien. Um den Tiki 30 in Eigenregie zu bauen, ist mit 900 bis 1.200 Stunden zu rechnen. Die Kosten für den Bau des Kats veranschlagte Designer Wharram 2005 noch mit 12.000 britischen Pfund, wobei die Summe natürlich heute reichlich höher ausfallen dürfte.
Für 20.000 Euro lässt sich der Kat herstellen, für dieselbe Summe ausstatten. Das Ergebnis ist ein hochseetaugliches Boot
Dennoch: Wer sich selbst für rund 20.000 Euro einen derartig ansehnlichen und geräumigen Kat bauen kann, erfüllt sich einen Traum – für kleines Geld. Da bleibt allemal genug für die Ausstattung übrig. Mit Segeln, Elektrik, Navigation, persönlichem Ausbau, eingelassenem Außenborder und allem Equipment geht der Tiki 30 zwischen 30.000 und 40.000 Euro zu Wasser. Nagelneu. Das lässt Freiraum zum Atmen. Lässt Luft, um das zu tun, worum es geht: aufbrechen und lossegeln. Exakt Wharrams Philosophie.
Gebaut wird der Kat aus solidem Bootsbau-Sperrholz und Glasfaser, wobei die Pläne für Amateure ausgelegt sind. Auch der Mast besteht aus Holz: Spruce- oder Alaska-Zeder. Man begreift schnell, wie die Bauphasen zu planen sind, wie Arbeitsschritte ablaufen, Details sich fügen. Sind die Rümpfe fertig, folgen die Verbindungen, nach Bedarf das kleine Deckshaus. Es mutet an wie eine Raumkapsel mit zwei flachen Kojen für Erwachsene, dazu Kartentisch, Navigationsecke, Stauraum – und Rundumblick aufs Meer wie auf einer Deckssalonyacht.
Auf dem Wasser zeigt der frohgemute Kat denn auch alle Eigenschaften, für die er so oft gelobt wird. Er springt schnell an, segelt gutmütig und ist kursstabil. Mit diesen Qualitäten hat bereits die kleinere Version, der Tiki 26, oftmals den Atlantik gequert. Der Brite Rory McDougall segelte von 1991 bis 1997 in einem noch kleineren Tiki 21 sogar um die Welt. Er nannte seinen Kat „Cooking Fat“, eine Umkehrung von „Fucking Cat“, nichts anderes als eine herbe Liebeserklärung an das abenteuerlustige Wharram-Design. Deutlich gesprochen: ein verflucht tolles Schiff!
An Bord zeigt Eigner Mark Seisun hoch in die Segel. Noch so eine Besonderheit des Bootes: Das Großsegel steigt am Fall nach oben, die Gaffel wird nachgetrimmt, wobei eine vordere, mit Reißverschluss versehene Tasche aus Segeltuch den Mast komplett umschließt – wie beim Segel eines Windsurfers. Das gibt dem Segel eine perfekte Anströmungskante, ein optimales Profil. Für den Australier sind es jedoch keineswegs nur die technischen und seglerischen Details, die dieses Schiff für ihn so besonders machen. Seine „Kaitiaki“ bedeutet ihm mehr. Sie ist seine persönliche Freiheitsoase im engen, vollen Europa.
Seisun ist ein Wassermensch. Er wuchs in Sydney auf, segelte schon früh mit seinem Vater. Eine kleine Familienyacht stand auf dem Trailer in der Garageneinfahrt, stets parat für Touren auf den Gewässern vor der Haustür. Er und seine Familie segelten los, zogen das Boot abends auf die Sände der Inseln. Sie schliefen an den Stränden, auf dem Boot, schwammen, tauchten, jagten Muränen, Papageifische und Snapper beim Speerfischen. Ein Leben in der großen australischen Freiheit. Mit elf Jahren und einer Investigator 563 ging es zu den Whitsundays, nach Hamilton Island, im Sturm versteckten sie sich in den Mangroven.
Sein erstes eigenes Boot war eine Pacific Westerly, mit der er die Küste vor Sydney besegelte. Mit Pick-ups und kleinen Booten folgten Touren an der Küste entlang, in die Wildnis des Great Barrier Reef bis hoch in die gottverlassene Torres-Straße, wo mehr Salzwasserkrokodile im Meer schwimmen, als Menschen an Land zu sehen sind. Australien eben – Segeln zwischen Haien, Korallen und Tropenzauber. Und das Wasserdasein sollte nie aufhören. Im Beruf als Ingenieur schnallte Seisun später seine Windsurfbretter oben auf die Trucks, um selbst an entlegensten Baustellen im Busch noch durch die blauen Wellen zu zischen.
Eines Tages, er ist um die Mitte dreißig, folgt ein gewaltiger Schritt. Seisun lernt eine Schweizerin kennen, die beiden bekommen die Söhne Tayne und Jai – und beschließen, nach Europa zu ziehen. Für Mark Seisun ist es eine Patenthalse in eine andere Welt. Berge. Winter. Überall Häuser, überall Menschen. Ein adrettes Idyll, weit und breit keine Krokodile. Schweiz eben. „Es ist sehr schön dort, keine Frage“, sagt er. „But I was landlocked – ich saß plötzlich auf dem Land fest, auf dem Trockenen.“
Von Australien verschlug es den Wassermenschen in die Schweiz. Sein Fluchtpunkt aus dem Trockenen ist der Kat im Mittelmeer
Was tun? Als er es nicht mehr aushielt, schaute er sich nach einem Boot um. Einem Segelboot. Einfach sollte es sein, nach Freiheit schmecken und ihn ein bisschen an seine ferne Heimat erinnern. Dann fand er den Tiki 30 in den Kleinanzeigen. Der Kat lag unten in Sardinien. Blaues Meer, heiße Sommer, eine Saison, die das ganze Jahr dauert. Seine „Kaitiaki“ besitzt er nun seit drei Jahren. Er hat sie flottgemacht, das Schiff hübsch lackiert, weiß und türkis wie die Aarafurasee, und ist damit schon rund Sardinien gesegelt zu den Buchten, Stränden und Grotten im Süden der Inseln. Seine „Kaitiaki“ ist seitdem sein Fluchtpunkt. Sein Australien in Europa.
Die beiden Söhne Tayne und Jai sind mit an Bord. Immer wieder kommen sie in den Sommern nach Sardinien, verbringen die Zeit mit ihrem Dad auf dem Boot. Segeln, schlafen, angeln, kochen, leben auf dem Katamaran, auf zwei Kufen und den großen Trampolinen, nur einen halben Meter über den Wogen. Wie in einem fernen Land, wie im Atoll der Träume. Aber die beiden werden langsam groß. Die Ausbildungen warten, ein Beruf, der eigene Weg durchs Leben. In diesen Tagen segeln die drei noch einmal gemeinsam über die blaue See, brechen am nächsten Morgen nach Süden auf: 120 Seemeilen rüber nach Tunesien. Für den Wharram-Kat eine leichte Übung. Ein transkontinentaler Kurztrip auf zwei Kufen. Mit sieben Knoten gleitet das Boot über die Wellen, leicht, agil, geschmeidig. Wie eine Libelle auf dem weiten Meer, wie ein Vogel, der Richtung Sonne will.
Und danach? Mark Seisun, australisches Blut in den Adern und ein überaus polynesisches Gefährt unter den Füßen, schaut bei der Frage seltsam entrückt in die Ferne. „Zurück nach Australien mit meinem Kat? Das wär’s“, sagt er. Atlantik, Karibik, Pazifik. Oder andersherum, über den Indischen Ozean. Ein mächtiges Abenteuer würde warten, ein gewaltiger Schluck Freiheit. Ganz im Sinne des Erfinders. James Wharram jedenfalls würde sagen: Tu es, Mark – genau dafür habe ich dieses Boot auf die Welt gebracht.
James Wharram (1928 bis 2021) aus Manchester gilt als Vater des modernen Katamarans, wobei er diese Bezeichnung hasste und stattdessen den Begriff Zweirumpfer vorzog. Die Pioniertätigkeit im Mehrrumpf-Hochseesegeln schrieb er nicht sich, sondern den deutschen Gebrüdern Schwarzenfeld zu, die in den fünfziger Jahren mit Stahlbooten unterwegs waren – britisches Understatement. Mit der 40 Fuß langen, von ihm konstruierten und mit der Hilfe von Hochsee-Legende Bernard Moitessier gebauten „Rongo“ überquerte Wharram den Atlantik 1959 von West nach Ost, eine Erstleistung. Der Brite setzte auf den Selbstbau, rund 10.000 Pläne seiner Konstruktionen wurden verkauft. Seine Tiki-Reihe umfasst acht Typen von 21 bis 46 Fuß.