Lasse Johannsen
· 14.10.2020
An der Fachhochschule Ostwestfalen-Lippe haben Studierende mit ihrem Professor ein Skiff aus nachwachsenden Rohstoffen gebaut. Ihr Ziel: die Teilnahme am 1001 Vela Cup, einer Regatta für Hochschulen
Da stimmt doch irgendetwas nicht. Auf einer Wiese am Ufer des Steinhuder Meeres herrscht emsige Betriebsamkeit. Zwischen Kisten voller Werkzeug und Tauwerk steht ein eindeutig nagelneues, gut viereinhalb Meter langes Skiff, zwei Männer takeln es auf. Das futuristische Segelgerät, mit Auslegern und Doppeltrapez, ausgestelltem Großsegel und ausfahrbarem Gennakerbaum ist hier nicht das einzige Spaßgerät seiner Art, und doch ist es auffallend anders als die anderen.
Anstelle eines Segelzeichens prangen die Lettern „TH OWL“ im Groß. Was die bedeuten, steht auf dem Rumpf: Technische Hochschule Ostwestfalen-Lippe. Auch der Bootsname steht dort. Das Kürzel „Owl“ ist das englische Wort für „Eule“ und das Symbol der Wissenschaft. Ein Hochschulprojekt augenscheinlich. Kein Geheimnis. Und doch, wie gesagt, stimmt etwas nicht.
Wie so oft fällt das Offensichtliche nicht gleich auf. Doch wer sich dem in der Sonne glänzenden, jungfräulichen Gefährt nähert, wird dessen Einzigartigkeit schließlich schlagartig gewahr: Das filigrane Skiff ist vollständig aus Holz gebaut. Vom Rumpf über die Anhänge bis hin zu Rigg und Beschlägen erfasst das Auge naturlackierte Holzoberflächen. Auf der Stelle sinkt das Boot vor dem inneren Auge zehn Zentimeter tiefer ins Wasser als vergleichbare Gleitjollen aus Hightech-Werkstoffen. Dann aber heben es die Männer an und demonstrieren zum Erstaunen der Umstehenden, dass die „Eule“ ähnlich leicht ist wie ihre Artgenossen aus GFK oder Kohlefaserlaminat.
Die Männer, das sind Steffen Wenk und sein Professor Dr.-Ing. Adrian Riegel, Holztechniker an der in Lemgo beheimateten TH OWL. Gemeinsam mit zahlreichen Studierenden haben sie das Boot entwickelt, um damit am 1001 Vela Cup teilzunehmen. Das ist eine Regatta, bei der sich Hochschulmannschaften mit ihren nach strengem Reglement entstandenen Booten messen, denen vor allem eines gemein ist: Beim Bau wurden nicht weniger als 75 Prozent nachwachsende Rohstoffe verwendet.
Letztlich bin ich über einen Artikel in der YACHT auf die Idee gekommen, an dem Wettbewerb teilzunehmen“, sagt Riegel. „Da war ein Interview auf der letzten Seite, das begann mit der Frage: ,Was haben Cashewkerne mit Bootsbau zu tun?‘ Zu Wort kam ein Doktorand der Technischen Hochschule Chalmers im schwedischen Göteborg. Unter seiner Anleitung bauten Studenten ein Skiff aus einem Balsaholz-Leinengewebe-Sandwich. Der Verbund wurde mit Epoxidharz hergestellt, das aus dem chemisch aufbereiteten Öl von Schalen der Cashewnuss gewonnen wird.“
Der Designcontest 1001 Vela Cup, erfährt Riegel im Internet, existiert schon seit 2005. Bewertet wird einerseits der technische Aspekt, also die Ingenieursleistung und wie streng die Bauvorschriften eingehalten worden sind. Und dann natürlich das seglerische Können. Dafür müssen die Teams in neun Läufen auf klassischen Up-and-Down-Kursen gegeneinander antreten.
Der Professor der Holztechnik ist begeistert und überlegt nicht lange. Mit seinem Fachbereich hat er schon andere Projekte gestemmt, große Kanadier oder auch ganze Küchenzeilen aus dem Naturwerkstoff gebaut und auf Fachmessen präsentiert. Als passionierten Segler einer RS 800 fordert ihn die Idee des Vela Cups beruflich wie sportlich gleichermaßen heraus. Riegel deutet auf sein Boot, es steht auch am Seeufer und diente seinem Team „Formula Sailing“ als Vorbild. Es passt von den Abmessungen her genau ins Reglement. „Wir nennen das Reverse-Engineering“, sagt Riegel und lacht.
Dass es heute mit der „Owl“ erstmals aufs Wasser gehen soll, freut das allmählich eintrudelnde Team und den Hochschullehrer spürbar. Es herrscht eine lockere Atmosphäre. Dabei gilt es, ein entscheidendes Manko erst noch aus der Welt zu schaffen: Denn segeln können die wenigsten der am Projekt beteiligten Studierenden.
Wie sie beim Vela Cup auf dem Wasser im direkten Vergleich gegen die anderen Teams bestehen sollen, ist bis dato noch ein Rätsel. Es fehle insbesondere ein Steuermann, der das Skiff ohne Kenterung ins Ziel bringe, berichtet Riegel. Im vergangenen Jahr wurde zwar eigens eine Trainingswoche organisiert, doch weitere Übungseinheiten auf dem Wasser mussten infolge der landesweiten Corona-Beschränkungen in diesem Sommer leider ausfallen.
Ein wenig Hoffnung macht da nur der Umstand, dass die Regatta, die eigentlich längst auf dem Gardasee hätte stattfinden sollen, gleichfalls verschoben werden musste. Damit hat das Team Zeit gewonnen, sich doch noch Segelpraxis anzueignen.
Der Professor nimmt das Problem gelassen, „die Profilsegel hätten wir laut Reglement nämlich selber nähen müssen“. In der Hand hält er zwei identische Großsegel aus dünnem Dacron, die er in zwei nebeneinanderliegende Mastnuten einführt. Eine Vorrichtung aus Holz dirigiert verschiedene Strecker von Hals und Horn des Segels durch den Baum zum drehbar gelagerten Mast. Sie soll die verschiedenen Winkel der Komponenten so einstellen, dass die Tücher unter Winddruck ein Profil ausbilden.
Die Idee ist typisch für das Projekt des Lemgoer Teams. Zahlreiche Detaillösungen heben das Skiff vom klassischen Vorbild ab. „Ich habe zu Beginn einfach mal aufgeschrieben, was man alles machen könnte“, sagt Riegel fast entschuldigend. Die Liste habe eigentlich nur die möglichen technischen Herausforderungen verdeutlichen sollen. Die habe das Team dann alle angenommen.
Die Liste war lang. Neben dem „drehbaren Profilholzmast mit Doppelsegel und automatischer Unterliekverstellung“ steht ein „Anstellschwert mit Laminarprofil“ sowie ein „Ruder mit Buckelwal-Tuberkel“ darauf. Ferner ein „schwenkbarer Gennaker-Bugspriet“, eine „110 Prozent überlappende Selbstwendefock“, „Sandwich-Strip-Planks aus Balsa, Khaya und Okumé“ sowie „gewickelte Eschenfurnierrohre für Baum und Racks“ – um nur einige Gimmicks zu nennen.
Da die Segelerfahrung gegenüber der Konkurrenz absehbar fehlen würde, stand von Anfang an fest, dass man auf dem 1001 Vela Cup vor allem in der Technikwertung punkten wolle. „Wir haben versucht, möglichst viel aus Holz zu machen, weil wir ja Holztechniker sind. Wir sind da nicht so bootsbauerisch herangegangen“, sagt Riegel. „Wir versuchen, die Dinge anders zu lösen.“
Mehrere der Aufgaben von Riegels Liste wurden als Projekte an der Hochschule vergeben. „Zum Beispiel das Doppelsegel“, erläutert der Professor. „Ich habe eine Kollegin, die einen Masterkurs in Simulationstechnik anbietet, da haben wir das Thema hingegeben.“ Der drehbare Schwertkasten ist gleichfalls in einem Projekt entstanden, auch Deckslayout und Beschläge sowie die Entwicklung der hohlen Spieren aus Furnierhölzern oder die der Beplankung.
Sie besteht im Freibord aus vier bis sechs Millimeter starkem Sperrholz und unter Wasser aus in einer Masterarbeit eigens entwickelten Strip-Planks aus Balsa-Sandwich. Deren Kern bildet eine Innenlage aus zwei kreuzweise verleimten, 0,5 Millimeter starken Khaya-Furnieren und einer Mittellage aus Balsahirnholzfurnier. Die Außenlagen wiederum sind aus 0,6 Millimeter dickem Furnier aus Gabun. Die Planken sind gefalzt und greifen ineinander.
Das Spantgerüst entstand aus Sechs-Millimeter-Sperrholzplatten. Die wurden zunächst mit Epoxid grundiert und dann auf einer Wasserstrahl-Schneidanlage bei 3000 Bar Druck mit Abrasivmittel geschnitten. Die einzelnen Teile sind anschließend ineinandergesteckt und mit Stringern aus Kiefernholzleisten versteift worden.
Das Sperrholz der Außenhaut über Wasser haben die Studierenden eigens für die jeweiligen Rumpfbereiche entwickelt. In der Bootsmitte wurde bei einer Gesamtdicke von etwa sechs Millimetern ein Kern aus Okumé verwendet, während im Bugbereich alle Lagen der Vier-Millimeter-Platten aus Sapeli bestehen. So ergebe sich laut Professor Riegel der bestmögliche Kompromiss zwischen Leichtigkeit und Steifigkeit.
Hundert Kilogramm waren das Ziel, mehr sollte der fertige Rumpf nicht wiegen. Die Lemgoer haben es geschafft. Und sich mit ähnlichem Elan auf alle weiteren Aufgaben gestürzt. Beispielsweise den Mast aus Oregon-Pine-Flanken mit Okumé-Sperrholz-Stegen in Form eines Doppel-T-Trägers. Die vordere Anströmkante haben die Holztechniker mit Eichenfurnier auf GFK verkleidet. Das Gewicht ist mit zwölf Kilogramm hart an der Grenze des Geplanten. „Viel mehr darf es nicht werden“, so Riegel, andernfalls werde das Boot zu kippelig.
Wie kippelig es wirklich ist, wie es segelt, ob es hält, all diese entscheidenden Fragen sind offen, als die Truppe ihre „Owl“ feierlich zum Seeufer schiebt. Es sei ein besonderer Moment, sagt Steffen Wenk, der das Projekt vom ersten Tag an begleitet hat. Was monatelang lediglich abstrakt in Gestalt von Zahlen und Zeichnungen auf dem Bildschirm und in Tabellen existierte und dann anschließend aus lauter Einzelteilen der verschiedenen Projektgruppen zusammengesetzt wurde – heute steht es als Ganzes vor ihnen und soll funktionieren. In der Praxis. Auf dem Wasser.
Professor Adrian Riegel lässt es sich nicht nehmen und greift für diesen ersten Test selbst zur Pinne. Ausgestattet mit orangefarbener Feststoffweste und Sturzhelm steht er neben dem Skiff im Wasser, als es vom Slipwagen rutscht und aufschwimmt. Gemeinsam mit Vorschoter Sebastian Plate besteigt er das hölzerne Hightech-Skiff, und bei leichter Brise rauschen sie kurz darauf über das Steinhuder Meer.
Und irgendwie stimmt es dann doch.