Jochen Rieker
· 07.08.2020
Sie verwöhnt ihre Crew mit Geborgenheit und jedwedem Komfort. Aber sie kann auch was wegstecken. Starkwindtest einer Ausnahmeerscheinung im PDF-Download
Segeln bei Starkwind und bewegter See kann ganz schön auf die Knochen, auf Dauer sogar auf die Nerven gehen. Viel Lage zwingt zum permanenten Abstützen, die Wellen zu aufmerksamem Steuern, Böen zur Arbeit an den Schoten, und überkommende Gischt wird – seien wir ehrlich – einfach lästig. Es sei denn, man begegnet den Elementen auf der Amel 60.
Kein Spritzer, kein Kurbeln an den Winschen, kein Prügeln gegenan. Im Schutz ihres großen Deckshauses sitzend genießen Crew und Skipper völlig entspannt, wie der 26-Tonner halbwinds mit acht bis neun Knoten auf der Logge durch die azurblaue Buckelpiste stiebt.
Die Gelassenheit, die das Boot dabei ausstrahlt, und die Behaglichkeit im tiefen, üppig dimensionierten Mittelcockpit zählen zu den herausragendsten Eigenschaften der Slup, mit der sich die Werft endgültig vom jahrzehntelang gelebten Ketsch-Konzept verabschiedet hat. Das galt bislang als ein Alleinstellungsmerkmal der Franzosen und half, die Segelfläche auf mehrere kleine, leichter handhabbare Tücher zu verteilen.
Heute erfüllen bis zu drei Vorsegel diese Funktion: Selbstwendefock und Genua, beide elektrisch wegrollbar, und auf Wunsch ein Code Zero, der eng aufgewickelt auch bei 25 Knoten Wind angeschlagen bleiben kann, ohne zu pumpen oder sich aufzudrehen. Raumschots wird das Ensemble bei Bedarf noch ergänzt um einen Gennaker, der sich ebenfalls wickeln oder mittels eines Bergeschlauchs bändigen lässt – ein Riggkonzept, so flexibel wie auf einem Imoca-Renner, der mittlerweile bekanntlich auch vom überdachten Cockpit aus bedient wird.
Selbst der Mast ist hier wie dort aus Kohlefaser laminiert und gebacken. Damit nicht genug: Unter Deck gibt es vorn und achtern fest abgeschottete Bereiche; im Havariefall lassen sich darüber hinaus die Türen der Kabinen wasserdicht verriegeln. Salon, Pantry und Navigation bleiben dann als Rückzugsort und Restauftrieb.
Sonst allerdings erinnert auf der Amel 60 rein gar nichts an die puristische Welt moderner Hochsee-Rennyachten. Vielmehr ist sie der totale Gegenentwurf, ein Schiff, gebaut, um zu verwöhnen und seine Crew in Sicherheit zu wiegen. In der hier gezeigten Konsequenz kann das derzeit kein Boot besser.
Das soll nicht die Leistungen der arrivierten Konkurrenz schmälern, zumal die mehr Wert auf den aktiven Segelspaß legt, womit die große Amel nicht in gleicher Weise dienen kann. Sie vermittelt kaum Gefühl fürs Ruder und verleitet deshalb dazu, das Kurshalten größtenteils dem Autopiloten anzuvertrauen. In allen anderen Belangen dagegen ist die Yacht ihren Mitbewerbern entweder ebenbürtig oder überlegen.