Jochen Rieker
· 31.10.2022
Oysters jüngstes Modell ist zugleich das kleinste der britischen Luxuswerft. Aber klein wirkt sie nicht, die Oyster 495, im Gegenteil. Und sie segelt unbeeindruckt von Welle, Hack oder Leichtwind in einem breiten Spektrum an Bedingungen ausgezeichnet. Nur an eins muss man sich gewöhnen – und es ist nicht das exzentrische Graffiti-Styling des Testboots
Noch nie verließ eine Oyster mit derart gewagter Folierung die Werfthallen in Südengland. Aber sie gelten ja selbst als Menschen mit einem Hang zur Exzentrik, die Briten. Wie sollten sie dem Eigner den Wunsch abschlagen, aus der Masse der weißen Boote herauzustechen. Und wer sollte es ihm beibringen. So kam es, dass Eddie Jordan seine Oyster 495 “Tuga” bekam, wie er sie haben wollte. Mehr dazu finden Sie in einem früheren Beitrag zu den Tests, welche die Kandidatinnen für Europas Yacht des Jahres 2023 vor Port Ginesta absolvieren mussten (bitte hier klicken!).
Für jene, die das Design als unangemessen empfinden, hatte Rasmus dankenswerterweise Wind geschickt, am ersten Tag reichlich davon. An Tag zwei und drei der Erprobungen auf See stand immerhin noch eine stattliche Altsee. Dahinter oder darin konnte die Oyster 495 ihren Rumpf verstecken, sodass auf den meisterlichen Fotos von YACHT-Fotograf Andreas Lindlahr teils nicht viel mehr davon zu erkennen ist als das hübsche Flushdeck mit dem konzentrierten Deckssalon.
Auch die Höhe des Freibords kaschiert das von Eddie Jordan favorisierte Graffiti effektiv. Der Rumpf baut für ein 49-Fuß-Boot fraglos sehr hoch; nur dadurch ließen sich Mittelcockpit und Kajütaufbau so vergleichsweise flach halten. Konstrukteur Rob Humphreys hat es insgesamt verstanden, die Kompaktheit des Boots durch die Linienführung zu strecken.
Und er hat ein bemerkenswert gelungenes Cockpitlayout geschaffen – das beste bisher auf einer Oyster und auch im Markt der luxuriösen 50-Fuß-Yachten. Insbesondere die Gestaltung der beiden Steuerstände, die gleich mehrere ergonomisch exzellente Sitzpositionen ermöglichen, setzt fraglos einen Benchmark in der Klasse. Und auch die Abstützmöglichkeiten sind hervorragend.
Dass Oysters Neue klasse segelt, haben wir eingangs schon vermerkt. Ab acht Knoten Wind zeigt sie so viel Temperament, dass kaum jemand den Motor bemühen muss. Bei 12 bis 15 Knoten macht sie einfach nur noch Spaß, und darüber, wenn die See fordernder wird, verwöhnt sie mit Steifigkeit, Ruhe und weichen Bewegungen im Seegang.
Noch verblüffender erlebt man sie nur, wenn man bei rauem Wetter vom Cockpit unter Deck wechselt. Da herrscht einfach nur – Ruhe! Kein Knarzen, kein Knistern, kaum mehr Wind- oder Wellengeräusche. Es ist, als würde man im Flieger auf 30.000 Fuß Flughöhe die Rauschunterdrückung der Kopfhörer einschalten.
Laut ist nur das Dekor des Interior Designs. Aber das gehört zu Eddie Jordans Gesamtkunstwerk, nicht zum Standard der Oyster 495. Wobei “Standard” nicht wirklich der treffende Ausdruck ist. Alles hier atmet Qualität. Und die werftseitigen Wahlmöglichkeiten für Polsterbezüge, Furniere und Wandverkleidungen lassen viel Individualisierung zu. Nur Stoffe im Hexagon-Muster und Wandbespannungen im Street-Art-Stil wie auf der “Tuga” zählen nicht dazu.
Wer bei Lage vom Niedergang nach achtern oder ins Vorschiff will, muss ein paar Stufen auf dem Weg nehmen, und sie haben nicht alle die gleiche Höhe. Es erfordert Gewöhnung, bis man die Schritte “im Schlaf” und im Dämmerlicht beherrscht. Dafür fehlt es nicht an Möglichkeiten, sich festzuhalten. In dieser Hinsicht ist die Oyster wie seit eh und je ein echtes Seeschiff.