Dieses Boot ist eine schwimmende Zeitkapsel, wie es heute nur noch wenige gibt. Weihnachten 1982, als die „Linea“ gezeichnet wurde, war die Ära der Holzboote schließlich vorbei. „Ganz selten stößt die Nase noch auf angenehmen Holzgeruch“, schrieb die YACHT damals, etwas wehmütig. Boote aus Kunststoff und in Großserie gebaut überschwemmten den Markt, und vielfach waren sie sonnengelb, knallorange oder auch feuerwehrrot. Spötter führten noch die Farben Bockwurstbeige und Hornhautumbra an.
Vorbei die Zeiten, als man Yachten aus GFK noch einfach als „Plastikeimer“ oder „Joghurtbecher“ abtun konnte. Zugleich hatte die Industrialisierung des Yachtbaus Fahrtenschiffe für viele erst erschwinglich gemacht. Holzboote galten schon bald als unbezahlbar, als klassisch, traditionell, exotisch – oder auch als veraltet.
„Die Leute meinten, dass der Rumpf wegen seiner Rundspantform aus GFK ist“, erinnert sich Jürgen Sandkuhl, Konstrukteur und Erbauer des Küstenkreuzers „Aegir“, der heutigen „Linea“. „Sie staunten dann meistens, wenn ich innen die Planken zeigte.“ Höchstens Jollenkreuzer waren noch so hergestellt. „Individuelle Schiffe gab es zu der Zeit fast gar nicht mehr“, so Sandkuhl.
Dafür waren unter dem Deckmantel der International Offshore Rule, also der Handicap-Formel IOR, Boote mit schmalen Hecks, bewusst beuligen Rümpfen, in den Tonnerklassen langsame Yachten mit schmalen Hecks, bauchigen Spanten und oftmals wenig Stabilität entstanden. Das eigentlich fürs Regattasegeln konzipierte Regelwerk, das es möglich machte, verschiedene Konstruktionen gegeneinander antreten zu lassen und deren Leistungen einzuordnen, wirkte formgebend auch auf die Fahrtenschiffe. Bis in die neunziger Jahre hinein beeinflusste die IOR-Formel die Entwicklung des Yachtbaus.
Heute sind viele der GFK-Schiffe aus den Achtzigern verschwunden, dahingerafft von der Osmose, weil am Harz gespart wurde, bei der Laminierung geschlampt und schlicht das Wissen um die chemisch-physikalischen Vorgänge der materialmordenden Bläschenkrankheit noch nicht existent war. Dabei galten gerade Kunststoffboote nicht nur als pflegeleicht, sondern auch als dicht und durabel.
Die aus vielen Holzstreifen formverleimte „Linea“ hat da keine Probleme, auch 30 Jahre nach ihrer Erstwasserung weist sie nirgendwo rotte Stellen oder Feuchtigkeitsschäden auf, weder im Rumpf noch an Deck. Jürgen Sandkuhl ist einer jener Selbstbauer, die überall auf Perfektion geachtet haben. Er hat komplett alles an seinem Schiff selbst gezeichnet, entworfen, gebaut, gefertigt – bis hin zu der kleinen metallischen Verriegelung in der Luke zum Niedergang. Und wo doch mal etwas gekauft werden musste, so wie beim Petroleumkocher, da hat er es zumindest „optimiert“, wie er erzählt. „Ich traue mir viel zu“, versichert Sandkuhl, „man kann mehr, als man denkt!“ Und ein GFK-Schiff wollte er ohnehin nie: „Allein schon der Geruch!“ Früher, als Maschinenbaukonstrukteur bei Siemens, habe er im Grunde alles gebaut, erzählt Sandkuhl, „alles, außer Atomkraftwerken und Brücken“. Auch die Mirror, auf der er einst das Segeln lernte, ein Zweihand-Dingi aus England, hatte er sich schon selbst angefertigt.
Das Boot entstand in der sogenannten Lisoletta-Bauweise. Dabei wird zuerst ein Gerüst aus Schotten und Stringern erstellt, dann die tragende Inneneinrichtung, und zuletzt folgt die Außenhaut aus dünnen Sperrholzstreifen; das Schiff wird also von innen nach außen gebaut. Das nach seiner Frau benannte Verfahren hatte Fritz Marggraf (1917–1994) in den sechziger Jahren konzipiert und mit leichten, formstabilen und in der Wasserlinie langen Rümpfen kombiniert. Abgesehen von einigen Regatta-Erfolgen konnte es sich nicht durchsetzen, was aber mehr seiner Person als seiner Konstruktion zugeschrieben wurde. Der Mann galt als starrsinnig und beratungsresistent.
Sieben Jahre dauerte es, bis der 7,50 Meter lange und 2,50 Meter breite Küstenkreuzer 1988 schließlich vollendet war. Die Werft dazu entstand neben seinem Haus, das in einer Wohnsiedlung in Weyhe bei Bremen steht. Nicht einmal der quietschgelbe Renault R4 musste anfangs dafür seinen Platz in der Garage räumen. Und wenn beispielsweise der Rumpf umzudrehen war, halfen eben die Nachbarn. „Wir wohnen in einer Ruine“, sagte seine Frau damals, für Arbeiten am Haus sei keine Zeit gewesen. Sandkuhl berichtet nicht ohne Stolz, dass er für sein Schiff „dem Haushalt keine Mark entnommen“ habe. Das Geld – fast 20.000 D- Mark – verdiente er nebenbei.
Damit war die „Aegir“ deutlich günstiger als vieles Vergleichbares, was es seinerzeit so zu kaufen gab: Eine Bianca 26 oder eine Contest 25 kosteten schon deutlich über 30.000 D-Mark, eine Albin Vega 27 über 50.000 D-Mark.
Entstanden ist die 25 Fuß große „Linea“ nach der sogenannten Lisoletta-Methode von Konstrukteur Fritz Marggraff: Die gewichtssparende Bauweise basiert auf einer tragenden Struktur aus Schotten und Stringern, die anschließend doppeldiagonal beplankt wird. Die dünnen Sperrholzplatten werden im Ganzen gebogen, und die Inneneinrichtung trägt das Boot. Man stellt also nicht zuerst eine Schale her, um sie dann mühsam passgenau auszubauen – sondern arbeitet umgekehrt von innen nach außen. Dieses Prinzip ermöglicht, sehr feste und leichte Rümpfe im Rundspant herzustellen. Doch obwohl die Lisoletta-Schiffe einige Designmerkmale vorwegnahmen und auch auf Regatten durchaus erfolgreich waren, setzten sie sich nie durch, unter anderem, weil die benötigte Wandstärke des Holzes unnötig dicker war als bei reiner Formverleimung.
Anders als in manch moderner Großserienyacht bleibt in diesem Schiff kein Raum ungenutzt, überall gibt es Schubladen und Stauräume, alles seefest zu verschließen. Ja, es sind so viele, dass auch der neue Eigner Jochen Peschke manche erst nach Jahren gefunden hat, wie er erzählt: „Das Boot ist voller kleiner Wunder.“ Es gibt sie als Fach im Fach oder formschön und elegant mit abgesetzten Zierleisten, aber auch im Fußraum der Salonkojen oder als Weinhalterung unter Deck, gleich neben der Messinglampe. Und fein säuberlich beschriftet, in passender dreieckiger Form, unter den Sitzbänken – für Schäkel und Blöcke, Schrauben und Muttern, Bolzen und Splinte.
Selbst da, wo eigentlich kein Platz ist, kann man Entdeckungen machen: Dort, wo die Treppe des Niedergangs (die zugleich ein Mülleimer ist) an die Schubladen der Pantry mit ihrem zweiflammigen Petroleumkocher stößt, ist das unterste Fach als kleines Karussell ausgeführt, das man wie in großen Küchen herausdrehen kann, für Pötte und Pfannen.
Gleich daneben gibt es ein Schauglas, das sich per Knopfdruck auch noch beleuchten lässt, um den Dieselstand des 9 PS starken Yanmars abzulesen. Der Kajüttisch verschwindet in zusammengeklapptem Zustand beinahe vollständig neben der Maststütze, sogar der Kartentisch – an dem man im Stehen arbeitet – lässt sich platzsparend am Kajütschott verstauen. Das Vorschiff und das separate WC werden mit einer hölzernen Falttür vom Salon getrennt, die Mechanik funktioniert auch nach 30 Jahren noch tadellos. Selbst der Lack unter Deck ist immer noch der erste und erstaunlicherweise einwandfrei.
Vier Kojen hat das Schiff, aber wie viele Boote dieser Größe ist auch dieses besser zu zweit zu bewohnen. Dafür kann man im Salon die Rückenlehnen aushängen und an den Schotten wieder fixieren, als Leebrett fürs Schlafen auf See. Dann allerdings wird die Koje unter den elegant lamellierten Decksbalken doch etwas eng. Auf Stehhöhe muss die Crew verzichten, wenn auch knapp – das war ein Kompromiss, um den Küstenkreuzer „schiffiger“ zu halten, wie Sandkuhl es nennt.
Den ganzen Innenausbau und auch den Aufbau fertigte er in Voll- und Bootsbausperrholz, dazu verlegte er traditionelles Teakdeck. Alles sieht sehr klassisch aus, ohne dass sich das Gefühl einstellt, schon einen Oldtimer zu befahren. „Allerdings hätte ich unter Deck das Gewicht besser im Blick behalten müssen“, sagt der Mann heute, wie andere seinerzeit auch habe er den Innenausbau zu schwer dimensioniert. Dabei habe er in den übrigen Bereichen, so stabil die „Linea“ auch ausgelegt ist, streng auf Leichtigkeit geachtet, im Gegensatz zu diversen anderen Selbstbauern: Weniger als zwei Tonnen wiegt das fertige Schiff inklusive Motor.
Als der Illustrator Jochen Peschke, der das liebevoll gestaltete Kartenwerk „Die Elbe“ produziert und herausgibt und auch für die YACHT tätig ist, das Schiff das erste Mal sieht, 2005, an einem kalten Wintertag in Bremen, da ist er sofort verliebt. „Für die damalige Zeit ist es höchst modern“, schwärmt er. Dabei hatte Peschke, wie er später zugeben wird, zunächst „größte Bedenken“, sich ein selbst gezeichnetes und gebautes Schiff zu kaufen. Die haben schließlich vielfach einen zweifelhaften, wenn nicht gar schlechten Ruf, nicht immer zu Unrecht.
Zwei Stunden sitzen die beiden Herren beim ersten Besuch in der Kajüte zusammen, bei frostigen Temperaturen. Peschke kauft das Schiff, ohne es auch nur ein einziges Mal gesegelt zu haben. Er gibt dafür ein Waarschip 710 auf, also den Vorläufer des bekannten Waarschip-Kwarttonners, ein IOR-Vierteltonner, der wie alle Waarschips einen guten Ruf hat. Doch sein Boot war ihm ein bisschen zu einfach geworden – Peschke suchte das Gleiche, nur ein bisschen raffinierter sollte es sein. Und Sandkuhl wollte nun etwas Kleineres, Unaufwendigeres, er ist zu dem Zeitpunkt bereits ein paar Jahre in Rente; fortan segelt er wieder Jollen. Die Idee, im Alter ein großes Boot zu haben, hält er für einen Fehler – „blödsinnig“ sei das, sagt Sandkuhl.
Wenn es schon ein Fahrtenschiff sein soll, dann auf jeden Fall ein einhandtaugliches. Und da hat Sandkuhl bei seiner Konstruktion keine Abstriche gemacht. Sogar den Mast mit seinem 7/8-Rigg kann man ohne fremde Hilfe stellen und legen, bestätigt auch Peschke, „selbst bei Sturm!“ Es gibt einen Wriggriemen an Bord, wenn man irgendwo feststeckt oder der Motor ausfallen sollte, und einen Ausleger für die elegant geschwungene Pinne, der so lang ist, dass man bei Schlechtwetter entspannt unter der Sprayhood sitzen oder im Niedergang stehen und trotzdem bequem steuern kann. Die Pinne lässt sich durch einen denkbar einfachen – selbstverständlich eigens entworfenen – Mechanismus festsetzen, bei leichterem Wind, wenn man auf eine echte Selbststeueranlage verzichten will. Ansonsten sitzt der Rudergänger beim Steuern back- wie steuerbords gemütlich auf eigenen, ebenfalls teakvertäfelten Auslegern.
„Man muss das Boot allein segeln können“, sagt Sandkuhl. Er ist einer, der sich keinen Vorgaben mehr beugen und unabhängig sein will, einer, der niemand um Hilfe fragen möchte. Und schon gar nicht will er sich irgendwelcher Technik unterwerfen; denn ihr vertraut der erfahrene Ingenieur bis heute höchst ungern. Wahrscheinlich, weil er selbst lange Zeit welche entwickelt hat.
Peschkes Wagnis, das Boot ohne Probefahrt übernommen zu haben, ging auf. Die „Linea“ segelt erstaunlich leichtfüßig, ja fast jollenartig. Nur gleiten kann sie eben nicht, lediglich auf der Welle surfen. Selbst Sandkuhl war anfangs überrascht, wie gut seine Konstruktion auf dem Ruder liegt. Hier merkt man das geringe Gewicht des Bootes – und die damals sehr fortschrittliche Linienführung sowie den gut profilierten Kiel. Die Reffgrenze liegt irgendwo bei vier bis fünf Windstärken: „Dass Boot kann viel ab“, sagt Peschke. Auch mit der manchmal etwas steilen, kurzen Ostseewelle kommt die „Linea“ gut zurecht. Das Heck ist ungewöhnlich breit für ein Schiff aus jener Zeit, dafür gibt es eine große Badeplattform, an der die Strömung sauber abreißt. Ein Performance-Cruiser ist die „Linea“ mit ihren 23 Quadratmetern Segelfläche am Wind freilich nicht, dafür aber ein gemütliches Fahrtenschiff mit schmaler Wasserlinie und harmonischen, klassischen Formen, die auch heute nicht altbacken anmuten.
Wie schnell das Boot ist? Nun, darauf kommt es hier nicht so genau an. Sandkuhl wollte zwar gern vornweg segeln, aber Dinge, die er gern tut, nicht in einem Wettkampf strapazieren. Also fuhr er auch nie Regatten. Und Peschke besitzt zwar eine Logge, benutzt sie aber nie. Dort, wo eine verbaut sein könnte, steuerbords neben der Niedergangsluke, ist heute eine passgenaue iPhone-Halterung aus Holz befestigt.
Dem neuen Eigner hat Sandkuhl übrigens eine „lebenslange Garantie“ für die „Linea“ gegeben. Und dies nicht als Scherz: Im Herbst kommt der Erbauer wieder und erledigt den jährlichen Service. Dennoch haben die beiden Herren, die mittlerweile eine enge Freundschaft verbindet, die Garantiezeit jetzt auf 25 Jahre reduziert, 2030 läuft sie also erst einmal aus. Mit dem Boot selbst hat das natürlich nichts zu tun. Doch Jürgen Sandkuhl wird in diesem Jahr 77 Jahre alt. Sein Boot dürfte ihn überdauern.
Der Hamburger Jochen Peschke ist YACHT-Lesern als langjähriger Illustrator der Tipps im Skippers Magazin bekannt. Da verwundert es nicht, dass einige der praktischen Tricks und Ratschläge auch Einzug auf der „Linea“ gehalten haben und Peschke umgekehrt auch Details seines Schiffs in der Rubrik preisgibt.
Der Artikel erschien in YACHT-Ausgabe 21/2018 und wurde für die Onlineversion überarbeitet.