Als ich am Freitag wieder im Schwartauer Segler-Verein ankomme, steht das Wasser schon bis zur ersten Treppenstufe des Vereinshauses und knietief über den Stegen. Wathosen stehen hoch im Kurs, der örtliche Angelshop ist schon ausverkauft. Aber auch, wenn man damit trockenen Fußes bis vors Schiff kommt, der Bugkorb befindet sich bei diesem Wasserstand schon fast auf Kopfhöhe. Um an Bord zu gelangen, ist zusätzlich zur Angelhose auch eine Leiter nötig. Einfacher geht es per Beiboot und über die Badeleiter an Deck. Ich habe meines von zu Hause mitgebracht.
Seit dem verheerenden Hochwasser 1989 sind die Vorleinen auf Pfählen mit Rutschern belegt. So haben sie deutlich über einen Meter Luft nach oben. Hier passt also noch alles. Allerdings ist schon seit dem Vormittag absehbar, dass die Pfähle am Heck bedenklich weit in den Fluten verschwinden werden und damit der Halt der Achterleinen gefährdet sein wird. Zumal mit steigendem Wasserstand der Zugwinkel immer steiler wird.
Deswegen hatte eine Gruppe Eigner schon am Vormittag die Achterleinen, wo noch nicht geschehen, gesichert, indem sie unter den Metallbügel gelegt wurden, der normalerweise das Abrutschen nach unten verhindern soll. Außerdem mussten die Boote vom einzigen Schwimmsteg verlegt werden. Hier erwiesen sich die Pfähle als zu kurz. So war es jetzt auch unsere Aufgabe, die Schwimmstege per Festmacher zu sichern. Einerseits sollen sie nicht wegtreiben, aber auch bei später fallendem Wasserstand nicht auf ihren eigenen Pfählen aufsitzen.
Danach werden regelmäßig Kontrollrunden mit dem Trainerboot gedreht. Abends kommen auch die Rutscher am Steg an ihre Obergrenze. Der Wasserstand hat in der Zwischenzeit die 1,70-Marke überschritten. Das war der prognostizierte Höchststand für Lübeck. Ein Team in Wathose schaut vorn nach den Leinen, ich sitze mit im Trainerboot, muss etwas angepasst werden, steigen wir von achtern auf die Yachten und fieren die Vorleinen und checken den Sitz der Achterleinen.
Mittlerweile machen auch schon Fotos und Videos aus Damp die Runde”
Dort schlagen die Brecher ins Hafenbecken, und schon vor dem Höhepunkt der Ostsee-Sturmflut sind Boote auf Tiefe gegangen. Davon sind wir auf der Trave, neun Seemeilen im Landesinneren, zum Glück weit entfernt. Der Wind ist nicht ganz so stürmisch, und wir liegen gut geschützt vor Schwell. Dennoch wäre es fatal, wenn sich Boote losreißen. Bei der Windrichtung hängt alles von der Achterleine an Steuerbord ab. Wenn die Achterleine abrutscht, kann das eine Kettenreaktion in Gang setzen.
Ausgerechnet beim größten Boot im Hafen passiert genau das. Glücklicherweise bemerken wir es bei einer Kontrollfahrt und können es wieder sichern. Durch seine Länge ragt es achtern aus der Box und wurde so noch seitlich von den Dalben gehalten. Vorn lag es aber schon auf dem Steg.
Zwischendurch kommen immer wieder Eigner, der Treppenabsatz – mittlerweile ist schon die vierte Stufe im Wasser – vor dem Vereinshaus wird zum Dingidock. Die Stimmung ist eine Mischung aus Sorge um Boote und Steganlage, aber auch Erleichterung, dass wir in unserer geschützten Lage nicht so stark von der Ostsee-Sturmflut getroffen werden. Sich in so einer schwierigen Situation zu helfen erzeugt ein Gemeinschaftsgefühl, wir gegen die Sturmflut, sodass die Stimmung statt ständiger Sorge manchmal schon fast ausgelassen wirkt.
Die Höchstmarke ist bei 1,85 über normal Null erreicht. Etwa gegen 22 Uhr fällt der Wasserstand wieder. Das ist gut am Geländer des Steges zu erkennen, es taucht wieder auf, wenn auch langsam. Eine letzte Runde, zur Sicherheit. Alle Boote und auch der Schwimmsteg sind fest. Gegen Mitternacht machen sich alle auf den Weg an Bord. Per Wathose oder Beiboot geht es erschöpft in die Koje. Für uns hat die Sturmflut zum Glück ein Happy End. Erst gegen 12 Uhr am kommenden Tag kann man wieder trockenen Fußes den Steg betreten.
Michael Rinck
Freitagabend, jetzt hilft gar nichts mehr. Der Wind tost, aber die konfusen Wellen im Hafen von Sønderborg, die sich bilden konnten, nachdem das nun schon seit Tagen aus Ost heranbrandende Wasser die Molen unter sich begraben hat, sind das größere Problem. Das Boot tanzt, bockt und springt, die Festmacher rucken krachend in die Klampen ein. Der Ostwind trifft von der Steuerbordseite auf das Boot, die Wellen mehr von achtern. Die Beleuchtung im Hafen ist abgeschaltet, es regnet in Strömen. Vereinzelt tanzen Lichter von Taschenlampen auf den wenigen anderen bewohnten Booten herum. Jetzt ist jeder auf sich allein gestellt, helfen kann man niemandem mehr, geholfen wird einem selbst auch nicht.
Es bleibt das gute Gefühl, alles versucht zu haben. In der wasserdichten Tonne liegen Portemonnaie, Autoschlüssel, ein Multitool (wozu eigentlich?), Seenotraketen, ein Handfunkgerät, eine Taschenlampe ist an den Deckel gebändselt, Ölzeug und Rettungsweste trage ich schon seit heute Morgen.
Noch im Hellen hatte mich ein Freund mit dem Schlauchboot besucht und Tonic vorbeigebracht, aber der Drink mochte nicht so recht munden. Also Kaffee gekocht und weitere Maßnahmen ergriffen. Die rutschenden Achterleinen neu befestigt mit Spanngurten und Laschings. Das Ganze mit langen Armen unter Wasser aus dem bockenden Dingi heraus. Eine zweite Achterspring zu einem dritten Pfahl in Luv ausgebracht. Mit dem Freund an Land gepaddelt, um ihn dort abzusetzen und mit dem Schlauchboot zum Boot zurück. Wir hangeln uns dabei über dem Steg von Boot zu Boot bis zum Jollenparkplatz. Ich lass mich zurücktreiben und muss dabei mein Boot abpassen, dahinter kommt nach einem Nachbarlieger nur noch die überbrandete Hafenmole. Es klappt.
Im letzten Licht sehe ich ein geschätzt 60 Fuß großes Motorboot, wie es an der Mole vorbeischeuert und aus dem Hafen treibt. Dann kommt die Nacht.
Ich bin nur noch Passagier. Nachdem die Nottonne gepackt ist, bleibt nur, die möglichen Szenarien durchzuspielen. Eine Evakuierung wäre gefährlicher, als selbst im Fall einer Havarie an Bord zu bleiben.
Worst Case: Die Leinen brechen und wir schießen das Motorboot in Lee ab”
Es hängt nur noch an einer Achterleine und zweien vorn, treiben im Päckchen auf die nächsten Pfähle, die jedoch schon weit unter Wasser liegen. Dann käme besagte Mole, dort würden wir uns aufreiben bis zum Untergang.
Nach einem Knall am Bug entdecke ich ein eineinhalb Meter langes Stück Bohle, an der noch schlaff eine der Vorleinen hängt, ein Stück vom Steg. Nach einigen Stunden rutschen die mehrfach gesicherten beiden Achterleinen vom Luvfpfahl. Es halten nur noch die drei Springs und die übrigen Vorleinen. Sie müssen es, sonst war es das.
Aber alles lässt sich steigern. Am Steg in Luv reißt sich ein Motorboot los, treibt über den Steg, reißt eine Stromsäule um, treibt weiter und zeigt auf uns. Es hängt, soweit sich das im Licht des Handscheinwerfers ausmachen lässt, nur noch an einer Achterleine. Wenn die nicht hält, werden wir unsererseits abgeschossen. Also den Spiegel abfendern und das Schlauchboot als letzte Verteidigungslinie am Heck festlaschen. Und beobachten. Es gibt zwischenzeitlich genug zu tun. Von Land treiben Pallhölzer, große Äste und anderes Gelump auf uns zu.
Die mentale Erschöpfung kommt zur körperlichen hinzu. Ich stell mir vorsichtshalber für jede halbe Stunde einen Wecker, lege mich in den Salon unter die Mittschiffsklampe, auf der regelmäßig die Springs vernehmlich einrucken. Wenn das Geräusch nicht mehr auftritt, ist das Unvorstellbare nah.
Und dann passiert es tatsächlich: Der Wind lässt nach, natürlich nicht ohne sich zwischendurch noch mal wie unter Protest ins Zeug zu legen. Und die Unbeugsame beugt sich: Die Pegelkurve nimmt 30 Zentimeter über dem prognostizierten Peak tatsächlich wieder ab. Geschafft.
Fridtjof Gunkel
Es ist noch nicht ganz Mittag, als am Freitag der Heizlüfter unter Deck aufhört, mein Abenteuer zu unterstützen. Die Hafenmeister haben damit begonnen, das gesamte Areal professionell auf das kommende Wettergeschehen vorzubereiten. Dazu gehört auch, den Strom abzustellen. Ich zünde den Ofen an. Wenn der Wind in den Böen nicht das noch angeschlagene Rollvorsegel so heftig bearbeiten würde, dass es das gesamte Rigg in Schwingungen versetzt, es wäre geradewegs gemütlich hier unter Deck.
Durch die Tropfen auf den Scheiben sehe ich, dass sich auf der Promenade, die jetzt schon fast von den Wellen im Hafenbecken erreicht wird, nur noch Menschen bewegen, die dort eine Aufgabe haben oder aus sicherer Entfernung nach ihren Schiffen schauen.
Auf den tanzenden Schwimmsteg verirrt sich niemand mehr freiwillig”
Im hinteren Bereich des Hafens wird von freiwilligen Helfern eine losgerissene Yacht eingefangen, das Rib hat der Yacht-Club zur Verfügung gestellt. Irgendwann machen die Helfer es fest und gehen an Land, obwohl noch genug zu tun wäre, doch nun ist offenbar eine Abwägung zugunsten des Personenschutzes getroffen worden. Ab jetzt übernimmt die DGzRS.
Ich werde nachdenklich, ziehe mir die Öljacke an, um mir noch einmal selbst ein Bild vom Geschehen hinter den Scheiben zu machen. Der krasse Kontrast zwischen den Seiten meiner Aufbaufenster überrascht mich, gelinde gesagt. An Deck muss ich mich wegen Winddruck und Bootsbewegungen sorgsam festhalten. Von Land gibt mir ein Polizist Handzeichen, die ich aus eigenem Interesse so interpretiere, dass ich lieber wieder unter Deck gehen soll.
Dort bereite ich den Auszug vor. An Deck habe ich alles getan, um mein Schiff zu sichern. Sieben Festmacher, davon fünf nach Luv an jeweils verschiedenen Punkten an Land und auf dem Schiff, eine Achterleine ist tief am Heckpfahl fest und gegen Hochrutschen sicher. Wenn sich ein Nachbarschiff losreißen sollte, wäre es lebensgefährlich, sich allein daran zu versuchen, es abzufendern oder gar wieder festzumachen. An Bord zu sein wäre mir in so einer Situation zu gefährlich. An Land zu kommen wird auch immer schwieriger, denn das Wasser steigt noch weiter, und in wenigen Stunden wird es dunkel. Kurz darauf ist der Ofen aus. Ich stehe mit meiner Tasche an Land.
Schon vor Mitternacht lässt der Wind in den Böenspitzen nach. Das ist rund zwei Stunden früher als erwartet. Beim stündlichen Kontrollbesuch stand ich auf der Promenade zuletzt im Wasser, jetzt beginnt es allmählich zu sinken. Irgendwann in der Nacht ist der Spuk dann vorbei. Abgeschaltet wie der Strom.
Das Aufatmen will nicht gelingen”
Das Aufatmen jedoch will nicht gelingen. Hier vor Ort in Strande gab es zwar keine Personenschäden. Auch keine gesunkenen Boote. Das Ausmaß der Verwüstung reicht dennoch, die Freude über das unbeschadete Schiff zu trüben.
Am Ufersaum des Hafenbeckens liegen vier gestrandete Boote hoch und trocken, die sich in der Nacht losgerissen hatten. Das gesamte Hafengelände ist bedeckt von Bergen aus Seegras. Die Werft des Kieler Yacht-Clubs arbeitet mit allen verfügbaren Kräften an der Bergung von Booten und Yachten, die, teils eben noch schwimmfähig, eingeschleppt werden.
Nachdenklich baue ich die vielen Festmacher wieder ab. Mein Schiff hat wieder einmal Glück gehabt.
Lasse Johannsen
Wie meine Kollegen habe ich bereits die zwei Nächte vor dem Höhepunkt von Sturm und Hochwasser an Bord verbracht, um in regelmäßigen Abständen meine Leinen zu kontrollieren. Meine Achterleinen hatte ich mit sich zuziehenden Schlaufenknoten an den Holzdalben belegt, in der Hoffnung, dass diese auch unter Wasser halten würden. Freitag um 8 Uhr morgens stand das Wasser schon gummistiefelhoch auf großen Teilen des Geländes der Marina Minde im dänischen Teil der Flensburger Förde. Das Hafenmeistergebäude glich einer Insel in dem stetig steigenden Wasser.
Den ganzen Tag über war ich dann unterwegs, um die sich anbahnende Sturmflut zu dokumentieren. So wurde ich Zeuge vieler erschreckender Szenen an der deutschen Ostseeküste: Ein losgerissenes Hausboot etwa, das marodierend durch den Wiking-Yachthafen in Schleswig trieb, vorbei an bereits gesunkenen Yachten und Schiffen mit wild schlagenden, in Fetzten hängenden Vorsegeln. Auch eine rote Stahlyacht hatte sich losgerissen und war in die gegenüberliegende Böschung getrieben, ein Segelkutter trieb zusammen mit einem losgerissenen Stück Steg, immer noch verbunden mit einer Festmacherleine, westlich des markanten Wikingturmes. Ähnlich dramatisch war die Situation in Damp, wo einzelne Eigner noch verzweifelt um ihre Boote kämpften. Aber auch hier waren schon drei Yachten auf Tiefe gegangen und ein Ende des Sturms noch lange nicht abzusehen. THW und Feuerwehr hatten sich bereits in Stellung gebracht, Flatterband sollte Schaulustige vom brodelnden Hexenkessel abhalten.
Mit einem mehr als mulmigen Gefühl kehrte ich am Abend in die Flensburger Förde zurück, um endlich wieder nach meinem eigenen Boot zu sehen. Einen ersten Versuch, zum Steg zu kommen, brach ich ab, zu tief schien mir das Wasser – um eine Wathose hatte ich mich nicht rechtzeitig gekümmert. Der von seiner Patrouille zurückkehrende Hafenmeister Claus konnte mich kurzzeitig beruhigen und mir versichern, dass zum jetzigen Stand alle Boote sicher seien. Wie gesagt, zum jetzigen Zeitpunkt. Aber was, wenn doch noch eine Leine über den Pfahl geschoben wird oder ein anderes Boot sich losreißt und eine Kettenreaktion auslöst?
Also reiße ich mich zusammen und ziehe mich bis auf Unterhose und Öljacke aus und arbeite mich langsam im Dunkeln bis zu meinem Schwimmsteg vor”
Eine unwirkliche wie auch unheimliche Atmosphäre. Teils schwappt das kalte Wasser bis zum Bauchnabel, Treibgut wie Plastikmüll oder Buschwerk schwimmt an mir vorbei. Endlich am Boot angekommen, stelle ich fest, dass alle Leinen noch an Ort und Stelle sind, auch die Achterleinen, deren Festmacherpfähle ein gutes Stück unter Wasser stehen.
Zum Aufwärmen verkrieche ich mich in meinen dicken Daunenschlafsack und versuche, ein wenig zu schlafen. Hoffnungslos. Die Geräuschkulisse ist einfach zu laut, obwohl die Marina zum großen Glück einigermaßen in der Landabdeckung liegt. Aber den Prognosen nach sollte der Sturm irgendwann um Mitternacht abflauen und der Pegel rasch wieder sinken. Umso verwunderter war ich, als um 1 Uhr nachts plötzlich das Boot wild zu bocken anfing und die einfallenden Böen umso lauter und bedrohlicher wurden. Der Wind musste von Nordost auf Südost gedreht haben. Also raus aufs Deck und noch mal alles kontrollieren.
Dabei fällt mir im Schein der Taschenlampe auf, dass sich die Luv-Vorderleine an der Stegklampe beginnt aufzureiben. Eine zweite Leine ist schnell gelegt, doch das Wiederaufentern gestaltet sich als sportlich, da Schwimmsteg und Bug abwechselnd in die Höhe schießen, und der Abstand aufgrund der länger geführten Vorleinen auch entsprechend größer ist. Wenn ich mich jetzt verletzen sollte, dann bin ich auf mich allein gestellt. Aber nach einer Weile finde ich das richtige Timing und schaffe es, sicher rüberzukommen. Anderthalb Stunden später ist der Spuk vorbei und ich schlafe erschöpft in voller Montur ein. Der Wecker schellt um 5 Uhr, und zu meiner Freude schauen die Dalben achtern schon wieder ein Stück aus dem Wasser. Geschafft!
Ich hole das Boot wieder dichter an den Steg und springe von Bord. Dabei rutsche ich fast ins Wasser, denn der Schwimmsteg hat sich während des kurzen Intermezzos in der Nacht auf den Führungsdalben verkantet und fällt daher mit ablaufendem Wasser immer steiler ab. Kann der Steg im schlimmsten Fall auf die Boote krachen? Und das obwohl doch eigentlich alles überstanden ist? Ich schreibe dem Hafenmeister eine Nachricht, und keine 15 Minuten später kommt er auch schon angesaust. Da das Gewicht des Steges jedoch enorm ist, kann auch er nichts unternehmen. Aber er beruhigt mich ein weiteres Mal und erklärt, dass seiner Ansicht nach nur Teile des Steges herausbrechen könnten, den Booten aber nichts passieren wird.
Mein Boot und die ganze Marina Minde haben sehr viel Glück gehabt, aber auch mein bescheidener Einsatz und der des Hafenmeister-Teams haben sich ausgezahlt. Wie eng Glück und Unheil beieinanderliegen, zeigt sich mir zwei Stunden später in Schilksee.
Morten Strauch