Am 29. November 2014 ereignete sich während des Volvo Ocean Race eine schwerwiegende Havarie, als die Teilnehmeryacht "Vestas Wind" auf ein Riff lief.
Mitten im Indischen Ozean, rund 200 Seemeilen nordwestlich von Mauritius, segelt die blaue Yacht des dänischen Teams „Vestas Wind“ segelt mit leicht geschrickten Schoten 19 Knoten schnell, sie wird dabei von nur zwei Mann bedient. Der Steuermann am Rad in Luv und der Trimmer am Grinder unterhalten sich. Offensichtlich sind sie beunruhigt. Der Trimmer läuft zum Steuermann, kehrt nach einem Moment zurück und fragt etwas in den Niedergang. Die Antwort kommt anscheinend von Skipper Chris Nicholson: „Wir passieren jetzt einige Flachs, 40 Meter tief.“
„Oh ja, ich kann die Linie genau erkennen“, lautet die Antwort, wohl vom Steuermann, der in diesem Moment als Einziger nach Luv schaut. Wahrscheinlich hat er die Brandungslinie des direkt voraus liegenden Riffs gesehen. Aus dem Niedergang kommt eine Person, offenbar Skipper Nicholson, zieht sich in aller Ruhe die Ölzeughose über und schaut dann zusammen mit dem Trimmer nach Luv. Da muss etwas sein. Doch der Steuermann hält weiter Kurs.
Dann knallt es. Urplötzlich, aus dem Nichts. Erst kurz, scharf, fast wie ein Schuss. Das abgesenkte Leeschwert ist abgeschert. Sofort darauf folgt ein zweites, berstendes Geräusch, begleitet von starken Erschütterungen. „Hier ist ein großer Fels! Hier sind Felsen! Los, Segel bergen!“, ruft der Trimmer seinen aus dem Niedergang quellenden Kameraden zu. Die Yacht ist aufgelaufen.
Das eigentlich Undenkbare ist passiert. Eine Hightech-Yacht mit Weltklasse-Seglern ist mitten im Indischen Ozean in voller Fahrt auf ein kartiertes Riff gelaufen, vierkant, ungebremst. Es grenzt an ein Wunder, dass niemand verletzt wurde.
Durch die Wucht des Aufpralls hat sich die Yacht weit auf das Riff geschoben. Dass sie dabei nicht sofort völlig auseinanderfiel, ist mehreren Umständen zu verdanken. So hatte das Boot unmittelbar vor der Kollision viel Lage. Dadurch befand sich die Kielfinne fast waagerecht im Wasser und bildete kaum einen Widerstand auf dem Riff. Statt abrupt abzustoppen, wie es bei einem Festkiel wohl geschehen wäre, wurde die Aufprallenergie deutlich langsamer abgebaut. Die Yacht drehte sich dann, angetrieben von der Brandung an der Riffkante, um 190 Grad um die Kielbombe herum, die dabei offenbar abscherte. Letztlich lag das tödlich verwundete Boot in der flachen Lagune mit dem Bug zur Brandung. Nur deshalb sank es nicht.
Bord-Reporter Brian Carlin handelt geistesgegenwärtig. Der Ire, der für die Berichterstattung zuständig ist, drückt auf den so genannten Crash-Knopf. Nur dieser Handlung ist zu verdanken, dass das seltene und hochdramatische Videomaterial gesichert wird. Normalerweise läuft die Aufzeichnung in einer Endlosschleife, nur die letzten Minuten werden gespeichert, der Rest fortlaufend überspielt. Der Unfall-Knopf aber aktiviert alle Kameras und unterbindet die Überspielfunktion. Die Bilder sind schwarzweiß, mit geisterhaft anmutendem grünlichen Stich. Die Kamera am Heck des blauen Bootes ist im Nachtsichtmodus.
„Ich habe noch nie erlebt, was Brian Carlin getan hat“, sagt später Renndirektor Knud Frostad, selbst äußerst hochseeerfahren. „Er hat erst seine Arbeit erledigt, anstatt sich einen Überlebensanzug anzuziehen. Er wollte diese Bilder unbedingt sichern.“
Carlin filmt sich selbst. In einer düsteren Szene unter Deck schildert er die Lage: „Wir sitzen jetzt seit fünf Stunden auf dem Riff, die Bugsektion ist noch intakt, was ich vom Heck nicht behaupten kann. Wir haben gerade dieses Knacken hinter den Schotten gehört, dahinter ist nichts mehr übrig. Die Ruder sind abgebrochen, das gesamte Heck ist zerstört. Aber wenigstens geht es allen gut, und wir werden durchhalten.“
Oberstes Gebot dieser ersten Stunden ist die Sicherung der Crew und des Boots. „Es bestanden große Gefahren für die Crew“, sagt Skipper Nicholson später. Er habe „das Schlimmste befürchtet. Es gab hundert Dinge gleichzeitig zu tun. Wir mussten die Luken der wasserdichten Schotten schließen, die Sicherheitstaschen mit dem Nötigsten schnappen, Überlebensanzüge anziehen, uns um die Rettungsinseln und die persönlichen Peilsender kümmern. Es geschah so viel auf einmal.“
Die Mannschaft bereitet sich auf den schlimmstmöglichen Fall vor: das Boot aufzugeben. „Wir prüfen jetzt den Tidenkalender“, sagt Carlin, „denn bei Flut ist es sicherer, über das Heck das Boot zu verlassen. Über den Bug auszusteigen und durch die brechenden Wellen zu schwimmen ist zu gefährlich.“ Dort soll es vor Haien und Barrakudas nur so wimmeln.
Auch aus diesem Grund will Skipper Nicholson den Gang in die Rettungsinsel bis zum Tagesanbruch hinauszögern, er lässt das Manöver in der Zwischenzeit rund 20-mal üben. Doch etwa zwei Stunden vor Morgengrauen beginnt das Deck zu brechen. Die Yacht wird zu unsicher, die Mannschaft geht in die Insel.
Im ersten Tageslicht wird das ganze Ausmaß des Schiffbruchs deutlich. Die Yacht liegt hoch auf dem Riff, der Mast ist stehen geblieben, das Heck teilweise abgerissen. Die Mannschaft paddelt mit der Rettungsinsel zu einer Sandbank, von der sie von einem kleinen Fischerboot abgeborgen und auf die relativ sichere Südinsel des Atolls gebracht wird. Alle haben wohlbehalten festen Boden unter den Füßen.
Drei Tage harrt die Crew auf der Sandbank im Nirgendwo aus. Sie kann bei Niedrigwasser durch die nur knietiefe Lagune vom Strand zum Boot waten, zusätzlich helfen ein paar Fischer mit ihren Booten bei der Bergung alles Brauchbaren. Alle demontierbaren Teile werden abgebaut, umweltschädliche Flüssigkeiten wie Diesel oder Hydrauliköl samt ihrer Tanks gesichert, ebenso alle Leinen und Segel. Die Crew hätte sogar einen Tag früher das Atoll verlassen können, wollte aber unbedingt noch weitere teure Ausrüstung wie die Satellitenanlage mitnehmen. Letztlich brachte ein Fischerboot die Mannschaft nach Port Louis auf Mauritius, von wo aus sie nach Abu Dhabi weiterflog.
Wie konnte das passieren? Wie konnte ein Profiteam, dessen acht segelnde Mitglieder auf bis dato insgesamt 14 Teilnahmen bei diesem Rennen kommen, auf ein Riff laufen? Wie konnte der holländische Navigator Wouter Verbraak, damals 39, der bereits zum dritten Mal an diesem Hochseeklassiker teilnimmt, dieses Riff übersehen? Und welche Rolle spielte der australische Skipper Nicholson, damals 45, bereits zum fünften Mal dabei?
Noch am gleichen Tag tippen erstaunlich viele Fachleute auf eine absurd erscheinende Erklärung, die sich jedoch als zutreffend erweisen wird. Sowohl Abu-Dhabi-Skipper Ian Walker, sein Widerpart Charles Caudrelier beim chinesischen Team Dongfeng und der deutsche Navigator Boris Herrmann vermuten ein Missgeschick bei der Navigation. Wenig später verbreitet Unglücks-Skipper Nicholson: „Wir haben einen Fehler gemacht.“
In einem ersten Interview versucht Nicholson die Strandung zu erklären: „Es war menschliches Versagen. Auf der elektronischen Seekarte konnte man auf der ersten oder zweiten Zoomstufe nur erkennen, dass es dort 40 Meter tief war. Da ging es von 3000 auf 40 Meter hoch, und das war die Tiefeninfo, die er (Navigator Verbraak, d. Red.) mir gab. Davon sind wir ausgegangen. Ein einfacher Fehler. Man hätte einige Stufen weiter hineinzoomen müssen, um zu sehen, dass dort tatsächlich Land ist.“
Die Navigation wird auf diesen Booten, wie heute überall im Regattageschehen, allein auf elektronischen Seekarten vorgenommen. Nur für Notfälle haben die Teams großmaßstäbliche Karten an Bord. Zur Frage der Schuld äußert sich Nicholson nebulös: „Der Skipper trägt natürlich die Verantwortung. Aber unter ihm gibt es auch Crewmitglieder, die eigene Bereiche verantworten. Und da ist dieser Fehler passiert. Als Skipper kannst du nicht überall zu 100 Prozent involviert sein. Da musst du auch deinen Leuten vertrauen.“
Also war es allein ein Versagen Verbraaks? Zunächst nimmt der Navigator die Schuld auf sich. In einem Beitrag auf Facebook schreibt er: „Ich habe einen großen Fehler gemacht. Ich habe das Gebiet auf den elektronischen Karten untersucht, bevor ich mich zu einer Pause nach einem langen Tag hinlegte. Alles, was ich sah, waren die Tiefenangaben 42 und 80 Meter.“
Dem Navigator wird hoch angerechnet, dass er nicht versucht, die Schuld auf die Elektronik zu schieben, etwa einen angeblichen Stromausfall oder Ähnliches. Wobei das auch schwierig geworden wäre. Denn da die Boote einheitlich sind, hätte ein Systemversagen bei Vestas Wind auch bedeutet, dass dasselbe mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den anderen Booten passiert. So ist der Ausweg in die Ausrede versperrt, und Verbraak wird zum Prügelknaben. Bis zu „grenzenlose Dummheit“ reichen die Kommentare.
Wouter Verbraak wurde gefeuert. Die Wrackteile der „Vestas Wind“ wurden geborgen und die Yacht wieder instand gesetzt, sodass sie gegen Ende des Rennes wieder teilnehmen konnte. Das hatten viele nicht für möglich gehalten. Skipper Chris Nicholson nahm in den folgenden Jahren an weiteren Hochseerennen teil.