WeihnachtenHeiligabend im Sturm allein auf See

Johannes Erdmann

 · 24.12.2022

Weihnachten: Heiligabend im Sturm allein auf SeeFoto: Wilfried Erdmann
Wilfried Erdmann sitzt an Bord seiner “Kathena Nui” am Kartentisch. Eine Kerze hat er mit einer Schraubzwinge am Kartentisch befestigt, darüber hängt ein Weihnachtsbaum aus grün-weißem Spinnakertuch

An Weihnachten sehnen sich die meisten Menschen nach ein paar besinnlichen Tagen im Kreise der Familie. Einhand-Weltumsegler Wilfried Erdmann hingegen verbrachte Heiligabend nicht nur einmal ganz allein auf See. Einblicke in sein Weihnachtsfest 2000 an Bord von “Kathena Nui”

Er wollte sich noch einmal steigern. Im Alter von 60 Jahren brach Wilfried Erdmann zu seinem größten Abenteuer auf: Nachdem er in den Jahren 1984/85 die Welt bereits nonstop umrundet hatte, wollte er sie nun noch einmal “falsch herum” umsegeln, gegen die vorherrschenden Windrichtungen. Ein Kreuzkurz durch das gesamte Südpolarmeer.

Nachdem Erdmann am 14. August 2000 die Leinen in Cuxhaven losgeworfen hatte, führte ihn der Kurs zunächst durch den Atlantik nach Süden und entlang der südamerikanischen Küste hinunter nach Kap Hoorn, das er am 5. November rundete. Am Weihnachtsabend standen er und seine “Kathena Nui” ziemlich genau mittig zwischen Kap Hoorn und Neuseeland. Ein Eintrag aus seinem Buch “Allein gegen den Wind” (Delius Klasing Verlag, 16,90 Euro).

133. Tag – Heiligabend

Heiligabend auf weiter See. Mutterseelenallein. Stille Nacht, heilige Nacht. Mein “Christbaum” besteht aus weißem und mehr noch grünem in Streifen gerissenen Spinnakertuch. Das Lametta habe ich draußen. Die Seen ziehen weiße Streifen. Im Gegenlicht sehen sie mit etwas Phantasie silbrig glänzend aus. Das Barometer fällt. Und es heult im Rigg. Diesen Ton kenne ich schon, er deutet Zugabe an.

Bevor es so weit ist, vor allem mehr Lage gibt, baue ich mein Telefon auf: Kabelanschlüsse direkt auf die 12-Volt-Batterie geklemmt. Antenne an Deck ausgerichtet, und los geht’s. Gute Verbindung. Sehr gut. Was erzählt sich eine Familie, wenn sie so extrem getrennt ist? Zunächst wie üblich die Fakten und dass die BT-Racer mit mir Kontakt aufnehmen wollen. Sie stehen rund 1.000 Meilen südöstlich von mir. Wie schön. Dann geht’s ums Essen: dort Fisch, hier Gulasch. Dort hat der Baum 17 Kerzen, hier zwei. Ich habe 8 Uhr, dort ist es bereits 15 Uhr. Zum Ende wird es wieder ziemlich traurig. Eine Überraschung teilt mir Kym mit. Er will nach Neuseeland fliegen und mich aus einem Charterflugzeug vor den Snares fotografieren. “Das ist doch ultrastark, oder?” Überzeugt ist er nicht, dass ich zustimme, aber ich solle es mir gut überlegen.

Dazu ist noch Zeit. Erst mal fällt der Druck weiter, ein Millibar pro Stunde. Ich werde unruhig, ziehe Heiligabend auf den Morgen vor. Ich mache mich schick: weißes Hemd, irischer Wollpullover, helle Cordhose.

Erst mal fällt der Druck weiter, ein Millibar pro Stunde. Ich werde unruhig, ziehe Heiligabend auf den Morgen vor.

Kym hat mich auch auf das große Weihnachtspaket neugierig gemacht – im August gepackt. Auf dem Boden, die Beine gespreizt, um mich abzustemmen, reiße ich hastig die Verpackung auf, denke schon all die Tage, hoffentlich ist auch was Richtiges zu essen drin. Es ist nicht. Immerhin finde ich fein eingewickelt: Zigaretten, ein Glas Oliven, ein Fotoalbum, zwei Feuerzeuge (sehr willkommen), ein Flanellhemd (für die Ankunft?), Tonkassette mit Musik von Reinhard Mey (”Einhandsegler auf dem Ozean”, trifft es). Die anderen Geschenkpäckchen beinhalten: Von Marlene einen Kracht “Der gelbe Bleistift”. Wolfgang hat Mankells “Mittsommermord” eingewickelt. Wahnsinnig komisch ist das eingeklebte Foto auf der Innenseite des Buches. Wolfgang posiert mit Schürze in der Küche seines Blockhauses – in der einen Hand einen gefüllten Bierseidel, in der anderen balanciert er eine Platte mit Brathuhn. Darauf gönne ich mir einen Schluck aus dem 0,2-Liter-Fläschchen Jubi-Akvavit von Marion und Jürgen aus Gütersloh. Prost Weihnachten. Eine Marlboro noch. Woher weiß Kym, dass das früher meine Sorte war? Berauscht von meinem Dasein – im Zusammenhang mit dem Rauschen an der Bordwand. 7 Knoten. Ja, das ist zu viel. Zwei Reffs im Groß folgen. Die Fahrt verringert sich unmerklich.

14 Uhr. Der Weihnachtstisch ist abgeräumt. Meine beiden sitzen jetzt sicher am festlich gedeckten Tisch vor gefüllten Tellern, und ich habe hier inzwischen vier Auftritte an Deck. Jedes Mal werde ich mit Salzwasser aufgefüllt. Unter Deck geht’s ebenfalls zur Sache. Nicht nur schräg und holprig, sondern lärmig. Das große Weihnachtsessen wird verschoben. Gebe mich mit Pasta, Gulasch und Schokolade zufrieden.

Hatte morgens die Leichtigkeit, die man an Feiertagen produziert. Jetzt denke ich an Sturmsegel

16 Uhr. Hatte morgens die Leichtigkeit, die man an Feiertagen produziert. Jetzt denke ich an Sturmsegel. Die orange Fock passt herrlich zum Lametta zwischen den Kämmen. Klingt witzig, aber im Augenblick des Aufschreibens bin ich sehr enttäuscht. Mir ist schon klar, dass das Wetter hier furchtbar schnell kentert. Nichts ist mehr vorhanden von Ferne, auch wenn der Horizont eng ist und das Empfinden dabei, das man an solch einem Tag hat. Nichts. Stattdessen rein ins Öl, raus ... Bedenken, Unruhe, Anspannung.

18 Uhr: Keine “Deutsche Welle” mit Glockengeläut. Kein Glas Rotwein. Keine schweifenden Gedanken an meine beiden. Keine Lichtveränderungen am Himmel. Dafür Nordnordwest 9. Himmel und Wasser unterscheiden sich kaum. Eine Kimm ist nicht auszumachen. Nur ein einheitliches helles Grau für Himmel und ein dunkles mit weißen Schlieren für das schwere Element: Meer. Eine düster blickende Natur.

Die gesamte Reise lesen Sie in Wilfried Erdmanns Buch “Allein gegen den Wind” (Delius Klasing Verlag, 16,90 Euro). Ebenfalls sehr empfehlenswert ist Erdmanns neustes Werk “Ich bin auf See” (Delius Klasing Verlag, 45,00 Euro).