Ursula Meer
· 22.08.2025
Der Knurrhahn muss weg! Fast drei Jahrzehnte zierte er den Stander des Warnemünder Segel-Clubs (WSC): ein schwarzer Fisch mit rotem Auge auf weißem Grund. Die Farben des Kaiserreichs – unerhört in der DDR! Warum die Gründerväter des Clubs ihm 1925 mit dem Zähne zeigenden Seefisch ein kämpferisches Emblem gaben, lässt sich heute nur erahnen: „Es gab zum Teil recht bissige Vermutungen. So sollte er auch symbolisieren, dass die Warnemünder sich von den Rostockern nie wieder unterdrücken lassen würden“, heißt es in der Vereinschronik. „Immerhin ist der Knurrhahn ungenießbar!“
Die Clubgründer sind Amtmänner, Händler, Handwerksmeister. Ihre 22 Boote, zwischen 3,40 und 10,47 Meter lang, beziehen schon bald nach der Gründung an neuen Stegen auf der Ostseite der Mittelmole Quartier, die Segler in einem dort neu gebauten Clubhaus. Vor Warnemünde kreuzen in jenen Tagen eher selten die imposanten Rennschoner jener Zeit mit ihren weiten Überhängen, es melden überwiegend Boote in der Sieben bis Acht Meter-Klasse für Wettfahrten. Das ehemalige Fischerdorf aber kann mit einem freien Seerevier mit schöner Welle punkten, mit der Westmole und einem breiten Strand, von wo aus sich ein Wettfahrtgeschehen beinahe zum Greifen nah beobachten lässt.
Der WSC erkennt das Potenzial und richtet schon ein Jahr nach seiner Gründung eine erste große Wettfahrt mit Dreiecksbahnen vor der Mündung der Warnow und Kursen über die hohe See aus. 47 Yachten, unter ihnen auch die vormals kaiserliche Yacht „Meteor“ von Wilhelm II, gehen an den Start dieser Regattareihe, die den Beginn für die Warnemünder Woche markiert. Mit ihr beginnt auch das nun beinahe 100 Jahre währende Engagement des WSC für die beliebte Regatta vor den Toren der Stadt.
Jäh unterbrochen wird es mit Beginn des Zweiten Weltkriegs. 1939 findet die vorerst letzte Warnemünder Woche statt, das Segeln ist auf der mit Kriegsbeginn verminten Mecklenburger Bucht tabu. Die segelbesessenen Warnemünder aber lassen sich nur schwer von ihren Wettfahrten abhalten und organisieren noch 1940 eine letzte Wettfahrt mit gut 100 Booten auf dem Breitling, der Unterwarnow und im Rostocker Hafen, ehe der Segelbetrieb auf Jahre zum Erliegen kommt.
„Aus Warnemünde waren am 1. Mai 1945 sämtliche Fischkutter geflüchtet. Für Reparationsleistungen sollten alle Segel- und Motorboote gemeldet und an die Sowjets abgeliefert werden. Aber niemand meldete sich“, beschreibt Chronist Gerhard Martens den Zustand nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein paar hölzerne Sprengboote lassen sich noch rudern, wenige Jollen können gesegelt werden. Jeglicher Bootsverkehr auf dem Strom ist verboten, die Boote werden dennoch zum Fischen und Angeln genutzt. Die Segler treffen sich derweil beim Wirt des Clubhauses und träumen von besseren Zeiten. Währenddessen müssen sie ihr Clubhaus und einen Teil ihrer Steganlagen an die Seepolizei abtreten.
Es ist auch kaum mehr als „Bootsbestand“ zu bezeichnen, was von der ehemals großen Vereinsflotte übrig ist: ein 5-KR-Küstenkreuzer, eine Sharpiejolle und zwei Eigenbauten undefinierbaren Typs. Dennoch beleben 1950 acht Sportsfreunde den ehemaligen Club als Segelsparte der „Betriebssportgemeinschaft (BSG) Anker Warnow-Wert“ wieder. Sie sind segelhungrig und werfen ihre Miniflotte mangels Slipanlage direkt ins Wasser. Ihren Knurrhahn-Stander platzieren sie auf dem Stammtisch einer Gaststätte und beginnen aus allem, was sich finden lässt, Anlagen und Boote zu zimmern: Jollen aus Kistenbrettern, Segel aus alten Laken und Bettbezügen. Wer kann, lässt sich in Kühlungsborn Jollen bauen, die Warnowwerft steuert einige Piraten bei.
Mit minimalistischer Ausstattung organisieren die Warnemünder mit Einheit Rostock schon im selben Jahr wieder eine Seeregatta. Als Konzession an den Deutschen Sportausschuss in Ost-Berlin bekommt sie einen anderen Namen als jenen aus Kaisers Zeiten und heißt nun „Ostseewoche“. 25 Boote aus Ost- und Westdeutschland ziehen über die Bahn, „mehr schlecht als recht, denn nicht alles, was schwamm, segelte auch“, beschreibt Gerhard Martens den holprigen Start. Er selbst gewinnt – mit einem kleinen Küstenkreuzer, dem im Krieg das Heck weggebombt worden war. Repariert war das Boot „schwimm- und segelfähig. Auch wenn es leckte, der Sieg war der Crew nicht zu nehmen. Es musste nur etwas mehr gepützt werden.“
Schon ein Jahr später hat der Kalte Krieg auch die Segelei im Griff. Offiziell darf keine Ostseewoche stattfinden, aber die Warnemünder tun es wieder: Sie segeln doch. Sogar unter der Beteiligung von Booten aus dem Westen, wenngleich diese nicht auf der freien Ostsee regattieren dürfen und sich auf den Breitling beschränken müssen.
Für die verschworene Gemeinschaft von inzwischen 100 Seglern an der Mittelmole wird Improvisation ein Dauerzustand. Denn der Bootsbestand wächst schneller als die Anzahl der Liegeplätze auf der Westseite der Mittelmole, sodass beinahe die Hälfte aller Boote an Land im Gelände eines ehemaligen Bauhofs verteilt werden. Die Sektion muss sich ein weiteres Mal umbenennen, in „BSG Motor Warnowwerft“, und den Knurrhahn-Stander durch einen mit zwei ineinander verschlungenen W ersetzen, fortan „Warme-Würstchen-Stander“ genannt.
Um die steigende Anzahl von Teilnehmerbooten bei der Ostseewoche unterzubringen, lassen die Segler auf der Werft für die Ostseite der Mittelmole Schwimmstege anfertigen. „Für gute Worte, unzählige Flaschen Branntwein und wenige Hundert Mark. Alles natürlich illegal“, beschreibt Gerhard Martens nach der Wende das klandestine Projekt.
Die Politik bekommt Wind davon, wittert in der international ausgerichteten Regatta das Potenzial, sich weltoffen zu zeigen, und springt mit ins Boot. So wird aus dem Provisorium 1960 der heutige Yachthafen an der Mittelmole. Für den zahlen die Segler einen hohen Preis: Ein Teil des Geländes weicht einer neuen Straße, Bootsschuppen werden abgerissen, und das Clubhaus wird der Landessportschule zugeteilt. Um sich von der ideologischen Vereinnahmung ihrer Veranstaltung abzugrenzen, nennen die Segler sie fortan „Internationale Ostseeregatta“. Sie segeln im Geschwader rund Hiddensee und gehen mit ihren privaten Booten oder den auf Umwegen „organisierten“ sektionseigenen 30er Seekreuzern auf die Regattabahnen.
Wenngleich eine auf offener See davonsegelnde Yacht beim Grenzregime einiges Unbehagen erzeugt haben dürfte, können die Seekurse der Ostseewoche, wie die bis heute beliebte Strecke rund Bornholm, erhalten bleiben. Genehmigt mit Formularen und unterstützt von einem informellen Ehrenkodex unter Seglern, der besagt, dass sich niemand während der Regatten absetzt, um den anderen Seglern nicht zu schaden. So soll die Ostseewoche in 40 Jahren nur zweimal zur Republikflucht genutzt worden sein.
Hier und da wagten die Segler dennoch den verbotenen Blick über den Tellerrand. Der ehemalige Vorsitzende des WSC, Dr. Thomas Schmidt, segelte als Student lange Törns bei sogenannten „Delegationsreisen“ nach Riga, Tallinn und Sankt Petersburg. „Wir hatten den Auftrag, auf dem kürzesten Wege das Seegebiet der DDR zu verlassen. Dann durfte man zum Zielpunkt fahren, hatte sich dort zu melden und nach dem Aufenthalt geradeaus wieder zurückzusegeln“, beschreibt er den genehmigten Grenzübertritt und ergänzt: „Dass wir doch mal heimlich abgebogen sind nach Karlskrona oder Rönne, das steht auf einem anderen Blatt.“
Andere machten rüber in den Westen. Schmidt erinnert sich an Klaus Fischer, der als Schiffsführer einige spektakuläre Seeregatten für die BSG auf dem 30er gesegelt war und sich eines Tages mit dem eigenen Boot abgesetzt hat. An einen Vater mit seinem Sohn, die noch im Jahr vor der Wende an einem genehmigten Törn über die Grenze teilnahmen und geradewegs nach Dänemark segelten. Gegen den Willen der restlichen Crew, die mit der Fähre zurück nach Hause fahren musste.
Mit dem Mauerfall schwinden die Beschränkungen, die Herausforderungen nicht. Ein Teil der Seglergemeinschaft fühlt sich der BSG und der Werft verbunden, die die Sektion über Jahrzehnte unterstützt hat. Ein anderer möchte zurück zu den Wurzeln. Schließlich finden sich exakt die sechs Personen, die zur Gründung eines eingetragenen Vereins nötig sind. Thomas Schmidt wird als Vorstand im Rostocker Rathaus vorstellig, um den Verein eintragen zu lassen. „Die wollten mich erst rauswerfen“, erinnert er sich. „Einen eigenständigen Verein befand man damals in der Stadt für unnötig.“ Er aber bleibt hartnäckig: „Wir wollten unsere eigenen Herren sein!“
Mit der Vereinsgründung möchte der Club auch das alte Clubhaus zurückbekommen. Doch diese Rechnung geht nicht auf: Die Liegenschaft wird aufgrund schwer nachweisbarer Eigentumsverhältnisse dem Landessportbund übertragen. Dem WSC bleiben ein in den 1970er-Jahren aus „beschafften“ Mitteln erbautes Clubheim und ein ehemaliger Rettungsschuppen. An anderer Stelle hat er mehr Erfolg: 1990 wird die letzte Internationale Ostseeregatta ausgetragen, schon im Jahr darauf geht sie in die „54. Warnemünder Woche“ über. Die Leitung übernimmt WSC-Mitglied Uwe Jahnke – eine Aufgabe, die er 17 Jahre lang mit enormer Energie ausführt und die ihm den Beinamen „Mr. Warnemünder Woche“ einträgt.
Der Neustart ist schwer. In der westlichen Seglerwelt wusste noch niemand, wo Warnemünde liegt. Die internationalen Stammstarter aus dem Ostblock blieben mangels Devisen weg. Die Stadt Rostock versucht, das Segelevent nach dem Vorbild der Kieler Woche zu vereinnahmen. Doch auf dem WSC-Stander zeigt der Knurrhahn wieder die Zähne und der WSC zieht es schließlich alleine durch. „Gefühlt waren wir mit Mann und Maus dabei“, erzählt Thomas Schmidt. „Die Mitglieder und ihre Familien arbeiteten alle Hunderte Stunden ehrenamtlich.“
Inzwischen stemmen auch andere Akteure die Organisation der Regatta mit, die ihren festen Platz in den Kalendern ambitionierter Seglerinnen und Segler aus aller Welt eingenommen hat. Als ausrichtender Verein aber ist der WSC mit seinen 200 Mitgliedern immer vorn dabei, wenn es gilt, die beliebten Wettkämpfe zu organisieren.