Therapie-TörnVerein “reSAILience” bringt schwer Kranke aufs Wasser

YACHT-Redaktion

 · 15.10.2024

Zusammen ist man stärker. Die „Five Oceans“ mit ihrer besonderen Crew in der  Hafeneinfahrt von Lyø By
Foto: YACHT/Christian Irrgang
Ein Verein lädt schwer erkrankte Menschen ein, gemeinsam auf Törn zu gehen. Um auszubrechen aus dem oft leidvollen Alltag und die Krankheit eine Zeit lang achteraus zu lassen

Text von Hans Borchert

Diesen Törn werden sie nicht vergessen. So viel steht fest. Nicht Liz, 27, die am letzten Tag bei Starkwind vier Stunden am Ruder steht und danach beim Abschiedsessen am Tisch einfach einschläft. Nicht Martina, 49, der eigentlich vor Enge und Chaos graut und die dann zur eigenen Verwunderung in abendlichen Gesprächsrunden Worte für eigentlich Unaussprechliches findet. Auch nicht Rebecca, 31, die sieben Nächte draußen unter freiem Himmel schläft und dabei „ein echt krasses Gefühl von Freisein“ verspürt. Und schon gar nicht Kirana, 35, die die Intensität des Erlebten überrascht, die sich wieder lebendig fühlt und der das Segeln zu „etwas ganz, ganz Großem“ wird.

Vier Frauen also. Außerdem sind da noch Philipp, 36, und Hendrik, 33, ihre Skipper. Und noch ein anderer Gast ist an Bord, den alle sechs nur allzu gut kennen. Präsent wie immer und nicht mehr wegzudenken aus ihrem Leben: der Krebs.

Irgendwann in der Vergangenheit erhielt jede und jeder von ihnen die niederschmetternde Diagnose. Liz schon als junges Mädchen: akute lymphatische Leukämie mit zwölf Jahren. Martina, da war sie längst Mutter dreier Kinder, mit 47. „Brustkrebs“, sagt sie. „Früh getastet, nach Mammografie gestempelt, danach operiert. Keine Chemo, keine Metastasen. Glück im Pech.“ Aus Dankbarkeit trägt sie seitdem das englische Faith – Vertrauen – als kleines Tattoo am Unterarm. Und auch Philipp, nicht nur Skipper, sondern zudem Initiator dieses Törns: Hodgkin-Lymphom mit 26. Physikstudent zu jener Zeit, inzwischen auf dem Weg zum Facharzt für innere Medizin.

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Törn wird zur Metapher fürs Leben

Mittlerweile gilt er als geheilt nach langwieriger, zehrender Krankheitsgeschichte voller Ängste und trotz Genesung bleibender Traumata. „Das Segeln hat mir beim Weg zurück in ein Leben nach dem Krebs enorm geholfen. Es wurde zum Kern meiner endgültigen Rekonvaleszenz. Segeln nicht mehr auf Seen oder Flüssen wie zu Jugendtagen, sondern auf dem weiten offenen Meer“, sagt er und schildert, was ihn im Lauf der Jahre bei immer größer werdender Leidenschaft und Kompetenz – er besitzt den SBF, SKS und SSS – so gepackt und fasziniert hat.

„Es ist ein ermächtigendes Gefühl, ein Boot in Wind und Wellen zu steuern. Man spürt ganz unmittelbar die Naturgewalt, und wenn man sie bezwingt, dann merkt man, wie man Kontrolle erlangt oder zurückgewinnt. Das wurde für mich zur Metapher meines Lebens. Darüber hinaus ergeben sich in der Gemeinschaft an Bord ganz feste freundschaftliche Bande. Allein das gibt unendlich viel Kraft.“

Immer wieder dabei auf unterschied­lichen gemeinsamen Törns war Hendrik. Auch er Krebspatient, heute angehender Psychiater. So lernten sie sich kennen und aufeinander zu verlassen – bei Starkwind und rauer See. Hielten Kontakt, tauschten sich aus, schmiedeten Pläne und entwickelten schlussendlich mit weiteren Freunden ihre eigene Idee eines Segelangebots für krebskranke junge Erwachsene. „Aufgrund so positiver, persönlich gemachter Erfahrungen“, wie Hendrik sagt.

Grundlage ist ein psychopädagogisches Konzept mit Leitmotiv Resilienz und drei formulierten Zielen: Gemeinschaft bilden, Selbstwirksamkeit erleben, Perspektivwechsel wagen. Ergänzt wird das Ganze um eine medizinische Betreuung der Teilnehmenden im interdisziplinären Team sowie ihre seglerische Anleitung an Bord. Nach einigem Überlegen finden die Freunde auch einen Namen für ihr Projekt: „reSAILience“. Das ergibt Sinn.

Belastender Alltag rückt in die Ferne

Nachdem viele bürokratische Hürden genommen sind, geht es los. Erst 2023 haben sie ihren Verein gegründet und laufen nun aus zu ihrem bereits fünften Törn. Die vier Frauen klettern mit einem unsichtbaren Rucksack widerstreitender Gefühle an Bord. Neugier, klar. Abenteuerlust, auch das. Aber ebenso Unsicherheit und bange Erwartung, denn mit Ausnahme von Liz hat ­keine von ihnen Segelerfahrung.

Immerhin: Kiranas Ärzte sprechen ihrer Patientin im Vorfeld Mut zu. Sie bekommt ein großes Go: „Super Idee. Machen Sie das bitte, das ist großartig!“ Und dennoch bleibt ihr erst mal „die Spucke weg“, als sie dann tatsächlich die Zusage erhält, mit auf Törn gehen zu dürfen.

Nicht anders Rebecca. Sie will unbedingt etwas Neues ausprobieren, war bisher aber nur Tretboot fahren. Sie fragt sich insbesondere, wie sie das anstellen soll, „mit fünf fremden Menschen auf engstem Raum eingepfercht zu sein“. Und Martina macht vorsichtshalber in Fatalismus. Sie sagt sich: „Sieben Tage werde ich wohl überleben, selbst wenn es scheiße wird.“ Wird es aber nicht, eher im Gegenteil: Es wird, wie sie später feststellt, „richtig geil“. Denn: Während sie sich dem gänzlich Neuen stellen, kommt ihnen ihr mehr oder weniger von der Krankheit bestimmter Alltag abhanden. Ob Blutbild-Abgleiche, immuntherapeutische Infusionen, Bestrahlung, neuerliche Chemo-Zyklen – all das verschwindet allmählich im Kielwasser, als die Leinen gelöst sind und das Boot Kurs auf den Horizont nimmt.

Die Psychologie kennt dafür den Begriff des „positiven disruptiven Breaks“. Sie selbst finden dafür andere Worte. „Ich war im Kopf ganz woanders“, staunt etwa Rebecca. Kirana fühlt sich entführt in eine Parallelwelt, „fast wie in einem Film“. Es geht irgendwie allen so. Und das seit dem ersten Tag, an dem sie in Kiel eintreffen.

Dort liegt die „Five Oceans“, ihr Schiff. Es ist eine Jeanneau Sun Odyssey 389 in Charterausführung, Baujahr 2016, 11,75 Meter lang. Zur Verfügung gestellt von Torsten Reichardt, dem Eigentümer der gleichnamigen Segelschule in Wendtorf. Ihr Ziel ist die Dänische Südsee. Im herrlichsten Spätsommer, bei fast karibischen Temperaturen und moderatem, ­allerdings zunehmendem Wind, wollen sie die Inselwelt erkunden.

Abendliche Gesprächsrunde gibt Tag einen Deckel

Noch droht nichts, was sie überraschen könnte und so wird das Steuern der Yacht für alle von ihnen zum ersten eindringlichen Erlebnis. In Martinas Erinnerung „einfach megacool“. Aber die Ostsee kann auch anders: mit strammer Brise und höherem Seegang am Nachmittag. Schnell hängen die ersten mächtig in den Seilen. Und es ist ausgerechnet die Jüngste, nämlich Liz, die am Ruder steht, die versucht Kurs zu halten und die sich dabei gegen Schwindel und aufsteigende Übelkeit stemmt. „Was dabei in einem vorgeht, das kann man nicht im Voraus erahnen“, sagt sie nach dem Anlegen in Marstal auf Ærø, dem ersten fremden Hafen. „Das war wirklich elementar.“

Ausgesprochen hat sie das während ihrer abendlichen Gesprächsrunde. Ja, jeder Tag braucht „einen Deckel“, und ­ihren nennen sie fortan „Leuchtturm“. So maritim sind sie schon unterwegs nach dem gestrigen Kennenlernen, bei dem es hauptsächlich um Kojenverteilung, Packlisten-Check, um seglerische Grundbegriffe, Sicherheitseinweisung, die Verhaltensregeln an Bord und den Einkauf von Lebensmitteln ging.

Kleiner Stolperstein übrigens: die Essensfrage. Ein gerade für Krebspatienten hochsensibles Thema. Unisono stimmt die Gruppe für vegetarisch und Hafermilch, votiert mehrheitlich gegen Schokolade und einigt sich sogar noch auf eine Reihe von Lieblingsgerichten, die hoffentlich allen schmecken werden. Von Spinatnudeln über Thai-Curry bis zu Couscous. Et voilà: Der erste Schritt zur Teambildung ist gemacht.

Allerdings, so ein Tag auf See kostet Kraft. Kirana erinnert sich: „Ich war richtig platt – Schlafsack zu und ­sofort weg. Einfach so.“ Wozu man wissen muss: Sie alle kommen aus einem mit großen existenziellen Sorgen belasteten Alltag. Den zu bewältigen ist alles andere als leicht, und nicht selten verharren sie in unverschuldeter Passivität, da die Krankheit sie und auch ihr Umfeld überfordert. Sich zu schonen und auszuruhen wird dabei zur Normalität.

Krebs als Schicksal und Chance

Eine ehemalige Teilnehmerin notierte dazu in ihrem Logbuch: „Meine Grenzen haben sich verändert und ich weiß, es gibt kein Zurück mehr ins alte Leben. Aktuell halte ich mich zwar für alltagstauglich, aber ich kann nicht mehr wie früher hi­nausgehen und alles schaffen. Die Leichtigkeit ist einfach weg und oft fühle ich mich, als hätte ich Gewichte an Armen, an Beinen. Alles ist schwerer und da ist keine Kraft, keine Energie für andere Sachen. Alles ist ausgerichtet auf reine Funktionalität. Insofern besteht das eigentliche Abenteuer beim Segeln für mich im Loslassen können, mir etwas zuzutrauen und mich selbst wieder zu spüren.“

Das dauert natürlich, es wächst ganz allmählich. Auch auf der „Five Oceans“, die am Morgen Marstal verlässt und am Abend im Hafen von Lyø das reSAILience-Logo hisst. Darauf zu sehen ist ein Schiff auf der Spitze einer gewaltigen, umschlagenden Welle. Das Bild gilt Martina als Synonym für „Schicksal und Chance“.

Im Wechsel von grandiosem Sonnenuntergang zu sternenklarer Nacht hocken sie in ihrem „safe space“ genannten Cockpit und tragen wieder zusammen, was an diesem Tag wichtig war. „Erst einmal das Ankommen im Hafen“, sagt Liz und gibt freimütig zu: „Ich hatte heute echt weiche Knie.“ Sodann Rebecca: „Ich fand es toll, wie wir uns alle unterstützt haben und wie ihr mir geholfen habt bei den schweren Sachen.“

Danach Kirana, die davon erzählt, sie habe plötzlich wieder Energie gespürt, „von der ich gar nicht mehr wusste, dass sie noch da ist“. Und sie fügt hinzu: „Ich hätte nicht gedacht, einen solchen Tag, an dem der Körper ständig in Bewegung ist, überhaupt durchzuhalten.“

Abschließend Martina: „Mir“, sagt sie, „hat das heute einen Kick gegeben. Ich möchte natürlich meine Krankheit nicht noch einmal durchmachen. Aber wäre ich sonst hier auf dem Schiff und würde solche Sachen erleben? Ich hab’s ja eigentlich nicht so mit den Naturgewalten. Also eher wohl nicht, oder?“

Törn wird zur perfekten Choreographie

Es wird noch besser. Tags drauf, beim Schlag von Lyø nach Søby, springen sie auf offener See ins spiegelglatte Wasser und schwimmen neben ihrem Schiff mit einer Seerobbe und zwei Schweinswalen um die Wette. Davon erzählen sie sich noch bis tief in der Nacht und stellen dabei fest, wie nah sie sich gekommen sind, wie offen und frei sie mittlerweile kommunizieren, wie vertraut sich ihre Gemeinschaft jetzt anfühlt. Nicht nur unter ihnen, den Segelnovizen, sondern auch mit ihren Skippern Philipp und Hendrik. Rebecca sagt: „Unter Krebspatienten spricht man eine andere Sprache miteinander, und vielleicht hat es deshalb so gut funktioniert. Es gibt da einfach viel mehr Verständnis für die einzelnen Bedürfnisse des Gegenübers. Das war bei uns ebenfalls ein Thema.“

Nicht unbedingt eine Geschlechterfrage und dennoch ein interessantes Phänomen am Rande: Frauen stellten bisher mehr als 85 Prozent aller Teilnehmer bei den Segeltörns von ­re­SAILience­. Vereinsmitglied und Skipperin Nele, im Hauptberuf Hebamme, unternimmt einen Erklärungsversuch. Sie sagt: „Männer stellen häufig bei der Bewältigung ihrer Krankheit die körperliche Aktivität in den Vordergrund. Verkürzt ausgedrückt: Sie wollen rauskommen, nicht reden. Sie wollen einfach machen.“ Bei den Frauen falle auf, dass sie zwar einen ähnlichen Ansatz verfolgten, sie es aber als wertvoll betrachteten, das auch im kommunikativen Austausch zu tun. Nele weiter: „Sie spüren das große Bedürfnis, die existenzielle Krise, die sie gemeinsam haben, auch gemeinsam aufzuarbeiten.“

Was da aufploppt, sind oft schwierige Gedanken. Ängste, die keiner dieser so verletzlichen Menschen gerne zugibt. Die sie oder er vielleicht am liebsten für sich behalten und für die sich im richtigen Moment dann doch die richtigen Worte finden. „Diese großartige Freiheit auf dem Meer inspiriert dazu“, findet Rebecca. Und Kirana stellt ergänzend fest: „Ich hätte nie gedacht, dass bei mir körperlich und mental so viel los ist. Gerade beim abendlichen Leuchtturm war so viel Raum, Dinge zu denken, Dingen im Innersten nachzuspüren und sie dann sogar auszusprechen.“

Aber das Meer kann mitunter auch anders. Ruppig und wild bittet die Ostsee am letzten Segeltag zum Tanz. Bei 7 Beaufort Wind wagen sie sich aus der Schleimündung bei Kappeln hinaus auf die offene See gen Wendtorf. Es wird ein für alle herausfordernder Ritt mit Böen und meterhohen Wellen. Im zweiten Reff halten sie Kurs, hocken eingepickt im Cockpit und vertrauen den ungeahnten Steuerkünsten von Liz.

So ergibt sich zum Ende eine, wie Skipper Philipp sagt, „perfekte Choreografie“ des Törns. Denn jetzt, nach sieben Tagen, sind sie, was sie nie dachten zu werden: eine kleine, eingeschworene, eine starke Gemeinschaft, die sich blind versteht.

Zeit für zwei Schlussworte. Liz, die tapfere Steuerfrau, sagt: „Es gibt einem viel, wenn man weiß, man ist nicht allein.“ Und Kirana, für die sich vor allem der Blick auf ihre Krankheit verändert hat, schöpft neue Hoffnung: „Die Zuversicht, dass alles wieder gut werden kann, ist zurück. Dafür bin ich sehr dankbar.“

Der Verein

„reSAILience“ organisiert Segeltörns für junge Erwachsene mit schwerwiegenden Erkrankungen. Ziel ist es, die Resilienz der Betroffenen zu stärken und damit ihre Zufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation zu verbessern. Der Verein freut sich über Sachspenden (Ölzeug, Rettungswesten etc.) sowie finanzielle Spenden oder auch Fördermitgliedschaften. Kontakt: resailience.org

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