“Segeln? Nie wieder!“ Darüber ist sich die Wilhelmshavenerin Marlene Brudek im Frühsommer 2017, auf einer Bank auf der Mole des Helgoländer Hafens sitzend, mit ihrem Sitznachbarn einig. Hinter den zufälligen Schicksalsgenossen liegt ein erster Kojenchartertörn auf der Nordsee mit unerfahrenem Skipper. Das Großsegel übervorsichtig gerefft und stur platt vorm Laken, rollte das Boot auf geradem Kurs nach Helgoland – mit seekranker Crew und Ruderbruch auf halber Strecke. Der schöne Traum vom Segeln hat dem Realitätstest nicht standgehalten; nie wieder die Füße auf ein Segelboot zu setzen ist die folgerichtige Reaktion.
Tatsächlich aber steht dieselbe Frau im Sommer 2024 mit strahlendem Lächeln auf der gelben Posttonne in Töre am Ende des Bottnischen Meerbusens. Einhand und mit dem kleinsten Boot der Teilnehmerflotte, ihrer First 27 SE „Heartbeat“, hat die 55-Jährige das MidsummerSail absolviert, ihre bisher größte Herausforderung. Neun Tage und 20 Stunden allein auf See, mit Flauten und Nebel, aber auch strammen Starkwindlagen, in denen ihr kleines, leichtes Boot nicht durch die Wellen geht, sondern darüber hüpft. Permanent im Ölzeug, Wind und Wasser ausgeliefert.
Die Beneteau First 27SE ist das optimale Boot für die regattabegeisterte Wilhelmshavener Seglerin: Mit knapp acht Metern Länge ist sie einhandtauglich und bietet ausreichend Raum und eine spartanische Ausstattung für längere Törns. Zwei Meter Tiefgang verleihen dem schnellen Gleiter mit seinem 80-m²-Gennacker Stabilität, mit elektrohydraulisch aufgeholtem Schwenkkiel ist er trailerbar und geht über Flachs im Tidenrevier. Allenthalben auf Gewichtsreduktion ausgelegt, wiegt das Boot nur 1,7 Tonnen. Die technikaffine Eignerin hat es mit zusätzlichen Blöcken und Furlern, Autopilot, Orca-Navigationssystem und Brennstoffzelle, Epirb und Rettungsfloß auf maximale Einhandtauglichkeit und Sicherheit getrimmt.
Auf den großen Yachten, die an ihr vorbeiziehen, sitzen mehrköpfige Crews mit einem dampfenden Kaffeebecher geschützt unter der Sprayhood und wetten darauf, dass diese Einheit aus Frau und Boot, die beide nicht sonderlich robust wirken, die längste und härteste Regatta der Ostsee niemals bewältigen werden.
Und tatsächlich: „Wenn man hinter sich schaut und sieht, wie eine Welle von locker 3,50 Meter hinter einem bricht – holla!“, erzählt die Skipperin nach dem Rennen. „Da kam mir schon der Gedanke, dass das Boot mit seinen 30 Zentimeter Freibord und dem offenen Heck nun langsam an seine Grenzen kommt.“ Aber die First 27 macht das locker mit. „Mit dem zweiten Reff im Groß und ohne Vorsegel sind wir mit 13 Knoten die Welle runtergerauscht!“ Ihre Augen leuchten im kleinen Adrenalin-Flashback.
Seascape-Chef Andraz Mihelin kommentiert nach dem Rennen mit einem Augenzwinkern: „Und sie hat auch noch einen regulären Job. Ich hasse es, wenn Menschen meine Entschuldigungen, nicht segeln gehen zu können, so auseinandernehmen.“ Für die Seascape-Familie, mit der sie sich ebenfalls regelmäßig in den Klassenregatten misst, habe sie damit einen ganz neuen Standard gesetzt. Dahinter steckt ein ganzheitliches Segelkonzept, wie es sonst wohl nur die Profis leben.
Finde heraus, wo die Grenzen sind, und starte von dort.“
Zwischen dem Tag auf der Helgoländer Mole und jenem auf der gelben Tonne am Ende des Bottnischen Meerbusens liegen jede Menge meist einhand gesegelte Regatten: Sie verpasst kaum einen Wettkampf auf der Jade vor ihrem Heimathafen Hooksiel, war beim Round Denmark, dem Vegvisir Race und der Nordseewoche dabei und misst sich regelmäßig bei den Seascape Challenges – mit einer für Freizeitsegler bemerkenswert steilen Lernkurve.
Marlene Brudek kennt den Wind und das Meer. Seit dreißig Jahren ist sie Windsurferin, als sie mit dem Segeln beginnt, parallel kitet sie fünf Jahre lang und entkommt dabei nur um Haaresbreite dem Tod. „Schwimm mal weiter raus“, sagt sie sich, möchte neue Reviere und die Weite der See unter Segeln kennenlernen, wie wohl die meisten Menschen, die mit dem Segeln beginnen. Was sie dabei von vielen unterscheidet, ist ein Leitspruch, der erahnen lässt, dass das mit ein paar gemächlichen Schlägen auf der Nordsee nicht erledigt sein wird: „Finde heraus, wo die Grenzen sind, und starte von dort.“
Sie ist sich sicher, dass sich aus einem Segelboot mehr herausholen lässt als auf jenem ersten Versuchstörn nach Helgoland, und leiht sich zunächst einen Kielzugvogel. „Es ist wie beim Surfen: Da steht niemand mit dir auf dem Board und zeigt, wie es geht. Man muss es selber machen, dann lernt man es auch!“ Folgerichtig kauft sie 2017 ein eigenes Boot, eine Sunbeam 21.1, und wird Mitglied im SLRV Hooksiel.
„Eigentlich ist das Segeln ein Downgrade: Es ist alles so viel langsamer als beim Surfen, selbst auf einem sportlichen Boot“, erzählt die zierlich wirkende Frau mit der ruhigen Stimme. Und dennoch: Richtig ausgeführt und vor allem im Race-Modus kann es durchaus Adrenalin freisetzen, von dem sie vielleicht etwas mehr braucht als andere. Früher holte sie es sich bei Motorradrennen, dem Surfen und Kiten; das Segeln wird schließlich, wie sie selbst sagt, „das Vernünftigste, was ich je gemacht habe“.
Anfang der 2000er Jahre gehörten sie und ihr Mann Markus als Inhaber eines Surfshops mit Schule zu den Pionieren im Kitesurfen. Marlene ist 32 Jahre alt und Mutter eines kleinen Jungen, als im Sommer 2001 eine starke Bö auf dem Deich am Wilhelmshavener Südstrand ihren Kiteschirm der ersten Generation – mit viel Power, aber ohne Sicherheitsausstattung – unvorbereitet erfasst.
Der thermische Wind katapultiert sie steil hinauf, gegen einen Balkon im sechsten Stock eines Hauses, über das Dach hinweg auf die Straße davor und schließlich gegen eine Leitplanke. Mit letzter Kraft kann sie die Leine des Schirms lösen, der weiter über den Hafen segelt und schließlich von der Kaiser-Wilhelm-Brücke gebremst wird. Sprunggelenke, Becken, Oberschenkel, Arm und Kiefer sind gebrochen. Alle Zähne sind weg, ein Rückenwirbel ist angebrochen, die Knie zertrümmert, und die Fußknochen auf dem Röntgenbild sehen aus wie ein Sack Steine. Offene Brüche hinterlassen Spießverletzungen. Als sie zwei Tage später aus der Narkose erwacht, ist die Aussicht auf ein weiterhin sportlich-agiles Leben denkbar vage. Es folgt ein volles Jahr in Rollstuhl und Reha.
Heute sieht man sie im Rennmodus agil im Cockpit die Seiten wechseln, unter dem Baum durchtauchend Schoten bedienen und kraftvoll an den Wischen kurbeln. Hier und da zeugen nach langen Segeltagen noch ein kleines Humpeln und ein etwas steifer Gang von den unzähligen Verletzungen. Der Rest ist das Ergebnis jener fokussierten Zielstrebigkeit, die sie aus dem Rollstuhl hierhergebracht hat und die sich beim Segeln und Perfektionieren ihres Bootes fortsetzt. Knapp davongekommen, ist für die bekennende Hedonistin jeder weitere Tag ein Bonustag und muss vor allem eins bringen: jede Menge Spaß.
Den findet sie nach wie vor beim Surfen, mehr und häufiger aber beim Segeln. Zunächst fährt sie hin und wieder mit Stegnachbarn oder Freundinnen raus, eine feste Crew aber wird nicht daraus. „Es haben längst nicht alle Lust auf so ein sportliches Boot. Es gibt auch niemanden, der Zeit hat, so oft und spontan rauszufahren, wie ich es mache.“ So treibt ihr Enthusiasmus die selbstständige Architektin spontan vom Schreibtisch an Bord, wenn Wind und Tide passen. Lieber arbeitet sie nachts nach, was sie am Tag nicht geschafft hat.
Auch Freunde und Familie müssen mitunter zurückstecken. „Ein bisschen egoistisch muss man schon sein, um das so durchzuziehen. Wenn man wirklich segeln will, darf man sich nicht abhalten lassen von manchem, was so los ist im Leben.“ Das Einhandsegeln ist die logische Konsequenz. „Ich erinnere mich noch gut an das Gefühl, als ich das erste Mal allein nach Wangerooge gesegelt bin: als wäre man König von Deutschland.“
Wenn man wirklich segeln will, darf man sich nicht abhalten lassen von manchem, was so los ist im Leben.“
Schon ein Jahr später, 2018, meldet Marlene Brudek zum Silverrudder. Als Vorbereitung auf die Nachtfahrt geht sie abends mit der letzten Schleuse in Hooksiel hinaus auf die Jade und fährt die ganze Nacht zwischen dem Arngaster Leuchtturm und Schillig rauf und runter, um das Handling, die Instrumente und die Sicht bei Nacht zu üben.
Segelt im Urlaubsmodus rund Fünen, erkundet mögliche Häfen zur Ansteuerung im Notfall und bei Nacht – um schließlich doch nicht zur Challenge of the Seas antreten zu dürfen, weil es zu windig wird für ihre kleine Sunbeam 21.1.
Vor der zweiten Teilnahme 2019 dreht sie eine weitere Runde um die Insel. „Die Strecke gut zu kennen gibt Sicherheit.“ Endlich darf sie starten, doch die leichte „Sommertag“ mit ihrem Klappschwert treibt bei Schwachwind und Gegenstrom bei Fynshav wie eine Badeente immer wieder zurück, sooft sie auch aufkreuzt.
„Die Sunbeam war ein hübsches Boot, hatte aber zu wenig Ballast und war auch für die Nordsee nicht tauglich“, erzählt Marlene. Zweimal bricht im Heimatrevier das Ruder. Sie lässt eins aus Karbon bauen, entscheidet sich schließlich aber für den grundlegenden Tausch gegen ihre First 27.
„Schon allein wegen des Silverrudder musste ein anderes Boot her“, erzählt sie mit einem Augenzwinkern. „Ich habe mir 2020 vorgenommen: Selbst wenn es Backsteine hagelt, fahre ich da jetzt rum!“ Der Hagel bleibt aus, stattdessen zwingt die große Flaute sie wie viele andere Teilnehmer zur Aufgabe. Erst im Jahr darauf soll sie endlich mit dem Finisher-Shirt das „teuerste T ‐Shirt meines Lebens“ in Händen halten.
Doch 2022 und 2023 wird die Garderobe um zwei weitere aufgestockt. Silverrudder-Organisator Philip Cossen weiß diesen Einsatz zu schätzen: „Marlene ist eine treue Silverrudder-Liebhaberin und ein geschätztes Mitglied der Silverrudder- Familie. Sie segelt auf einem Niveau, das für alle Teilnehmer, Männer und Frauen gleichermaßen, eine Inspiration ist. Sie kommt mit mehr Seemeilen unter dem Kiel zu der Veranstaltung als die meisten anderen Segler, und ihre Vorbereitung ist hochprofessionell.“
Will man extra erwähnt werden, weil man als Frau segelt?“
Sie gehört zu den stets sehr wenigen Frauen, die die Challenge annehmen, und hat Fünen als bisher schnellste von ihnen in 23:50 Stunden umrundet. Größere Aufmerksamkeit finden diese Leistungen selten, jedoch fragt sie selbst treffend: „Will man extra erwähnt werden, weil man als Frau segelt?“ Vielleicht drückt die Frage den Wunsch aus, die gefühlten Unterschiede zwischen Männern und Frauen beim Segeln nicht weiter zu zementieren. Denn auch Marlene Brudek erlebt trotz aller Erfolge bis heute, dass „männliche Segler den Vertrauensvorschuss, den sie sich untereinander geben, Frauen oft nicht zugestehen“.
Oder im schlimmsten Fall gleich das Ruder ihres Bootes übernehmen, so geschehen beim Start der Zubringerregatta der Nordseewoche in Cuxhaven. „Ich steuere, du kannst ja vielleicht später mal ans Ruder, wenn es weniger kritisch ist“, bestimmt ein selbstbewusster Gast an Bord ihrer „Heartbeat“ – und rammt kurz darauf das Startboot, peinlich dokumentiert von Fotos auf den Titelseiten der Lokalzeitungen.
Ein weiterer seiner Steuerfehler lässt draußen vor Helgoland den riesigen Genacker ins Wasser rauschen. Das Fliegengewicht Marlene kämpft weit über den Seezaun gelehnt mit dem Tuch voller Wasser, von Wellen überspült. Das AIS-Seenotsignal in ihrer Weste löst aus und bringt eine unnötige Rettungsaktion zur See und in der Luft ins Rollen. „Ich bin ja immer noch gutmütig und versuche aus jeder Situation etwas zu machen. Aber auf Helgoland habe ich ihm den Weg zur Fähre gewiesen.“
Nicht immer legen Mitsegler derart plakative Selbstüberschätzung an den Tag, „aber ich habe oft erlebt, dass die Männer per se denken, dass sie mir nun endlich etwas beibringen können, selbst auf meinem eigenen Boot“. Frauen seien oft selbstkritischer; wenn einem immer jemand das Gefühl gebe, etwas falsch zu machen, werde das seglerische Fortkommen gebremst. „Man baut ab in der Sache, gibt aus der Hand. Viel alleine zu segeln hingegen stärkt das Selbstbewusstsein“, ist ihre Erfahrung.
Oder mit ihren guten Segelbuddies aus dem Hooksieler Heimatrevier, mit denen sie gelegentlich bei Regatten aus ihrem oder anderen Booten alles rausholt – auf Augenhöhe. „Das sind richtig gute Segler, aber sie würden mir niemals ungefragt einen Rat geben. Das ist für mich echte Seemannschaft.“
Gern wird dann auch gefachsimpelt über das Boot und mögliche Verbesserungen. So sind auch ihre „Heartbeat“ und ihre Ausrüstung kompromisslos auf Sicherheit, Performance und eine Einhandtauglichkeit getrimmt, die waghalsige Klettereien vermeiden lässt.
Momente, in denen kurz der Atem stockt, lassen sich dennoch nicht immer vermeiden. Wie jene beim Round Denmark Race, als zuerst mit der Brennstoffzelle das Gros des Bordstroms versagt, dann nacheinander zwei Falle brechen und das Segel ins Wasser rauscht, in einer Nacht so dunkel, dass Wasser und Himmel nicht zu unterscheiden sind, als führe man in eine schwarze Scheibe.
Echte Angst aber hat sie bisher beim Segeln noch nicht erlebt und möchte es auch nicht. So holt sie aus ihrer kleinen Rennziege raus, was geht, aber nie um den Preis der Sicherheit und schon gar nicht jenseits dessen, was Spaß macht. Für den braucht es indes weder Komfort noch Bequemlichkeit. Ihre „Heartbeat“ rangiert mit der minimalen Wohnausstattung Eimer, Minikocher und Isomatte ganz dicht am unteren Ende der Skala. Den Royal Yacht Master hat Marlene Brudek im Dezember im Solent absolviert, um sich nicht während der Saison der Segelzeit auf dem eigenen Boot zu berauben.
Bei Törns mit größeren Crews können der Sportlerin Phasen des Nichtstuns lang werden und die Spannungskurve unter das gewünschte Maß rutschen lassen. Kaum einmal sieht man sie mit leeren Händen über den Steg gehen. Ob nun kleiner Tagesausritt, Wochenendausflug nach Wangerooge, kleine oder große Regatta: das Boot wird den erwarteten Verhältnissen entsprechend mit Tuch und Zubehör ausgestattet, alles andere wird im Auto verstaut. Selbst die Brennstoffzelle darf nur auf längeren Törns mitreisen.
Lohn all dessen, was manch andere Segler als übertrieben bezeichnen, sind dann die Momente im Racemodus auf den Bahnen, wenn ihr Bootsname Programm wird und die akribische Vorbereitung schnelles, reibungsarmes Agieren ermöglicht.
Beim MidsummerSail wurden die durchgängigen 100 Prozent Regattamodus abgelöst durch eine neue Erfahrung. „Ich musste regelmäßig ruhen und meine Energie gut einteilen, vielleicht mal den Code Zero etwas länger fahren, wenn schon Zeit für den Gennacker gewesen wäre.“ Oberste Priorität hat das Erreichen der magischen gelben Tonne ohne Bruch.
Weit draußen im Bottnischen Meerbusen, als nahe Mittsommer Tag und Nacht kaum voneinander zu unterscheiden sind und der Bordrhythmus den des Alltags an Land endgültig ablöst, stellt sich ein neues Segel-Erleben ein: „Ich habe komplett das Gefühl für Raum und Zeit verloren, wie in einer Kapsel. Es gab kein Davor und kein Danach. Alles war ruhig, entspannt, schön“, erzählt sie mit so leuchtenden Augen, dass fraglos noch mehr solcher Erfahrungen auf ihrer To-do-Liste stehen.
„Klar! Der erste Moment, wenn man etwas neu macht, wenn die Lernkurve steil ist, macht so richtig Spaß. Aber gerade flacht sie etwas ab, das ist nicht gut.“ Ideen zur Reaktivierung hat sie schon: Vielleicht ein größeres Boot, mit dem sich neue, größere Challenges bewältigen lassen, oder auf einem Ocean Racer doublehand über den Atlantik. „Es kann sein, dass das gar nichts für mich ist, aber ob es das ist, weiß ich erst durchs Machen.“