Kleine Wellen der grünblauen Ostsee umspielen schäumend den weißen Strand von Binz auf Rügen. Urlauber strecken die Beine aus und halten die Gesichter in die Frühlingssonne bei einem Kaffee an der Promenade; Kinder toben im Sand. Ein Tag im April, wie geschaffen für die Vorfreude auf Sommer und weitere Urlaubspläne. Auf Zukunft. Zugleich aber tritt genau hier heute jemand seine letzte Reise an.
Am Ende der langen Seebrücke wartet das Ausflugsschiff „Binz“. Im Salon steht eine Urne mit einem Blumenkranz in fröhlichen Farben auf einem Podest, umgeben von einem dicken Tampen und einer schwarzen Trauerschleife, „Ein letztes Ahoi“. Die Dekoration ist bewusst schlicht gehalten, ließe sich aber ebenso wie ein mögliches Rahmenprogramm aus Musik und Reden je nach Wunsch der Hinterbliebenen gestalten, berichten Kapitän Lang und seine Besatzung, während sie letzte Vorbereitungen für die Begrüßung der Trauergäste treffen: etwa 15 Personen, Freunde, Nachbarn und Heidi, die Mutter von Dirk aus Berlin, der gut vier Monate zuvor im nasskalten Dezember verstorben ist. „Die Beisetzung haben wir bewusst in den Frühling verlegt. Wir haben uns schönes Wetter und nicht diese winterliche Tristesse oder gar Sturm gewünscht“, erzählt ein Freund von Dirk.
Der Wunsch geht in Erfüllung, unter einem strahlend blauen Himmel bei mäßiger, wenn auch kalter Brise. Dafür mussten alle damit leben, dass sich der endgültige Abschied verschob und Monate in einer Art schwebendem Trauerzustand vergingen. Viele Angehörige entscheiden sich daher für eine zeitnahe Beisetzung. So finden Seebestattungen sommers wie winters statt. „Es kommt sehr selten vor“, berichtet Kapitän Lang, „aber manchmal müssen wir wetterbedingt eine Beisetzung verschieben.“ Das könne, so Lang weiter, für die Angehörigen schon belastend sein und einen zusätzlichen Organisationsaufwand mit sich bringen – erst recht wenn die Angehörigen aus weiter entfernten Orten anreisen.
„Wir haben heute die Leinen losgeworfen zu Dirks letzter Reise“, begrüßt der Kapitän die Trauergäste, die vor der Urne innegehalten und dann im Salon Platz genommen haben. Kurz erläutert der Mann in Uniform den weiteren Ablauf : Etwa zweieinhalb Meilen gehe es hinaus gen Osten zum Beisetzungsort in der Prorer Wiek. Einige Minuten bevor die Urne der See übergeben werde, gebe man Bescheid. Bis dahin zögen sich Kapitän und Crew zurück.
Die Schiffsmotoren brummen, an der Bordwand rauscht das Wasser. Leise unterhalten sich die Gäste, hier und da wird geweint, aber auch gelacht bei der Erinnerung an Dirk. Die Sonne und der frische Wind locken einige auf das Vorschiff. Die Blicke schweifen entlang der grün-weißen hohen Küste beiderseits der Bucht und übers mit kleinen Schaumkronen überzogene Meer voraus. Ein schöner Anblick und doch auch der auf den Ort des letzten Abschieds.
„Das Leben, so sagen Seeleute, ist eine große Reise“, spricht der Kapitän, „und der letzte Ort ist der Heimathafen.“ Wir haben ihn erreicht, die Maschinen stoppen. Die Gäste gehen hinauf, reihen sich draußen auf der Kapitänsnock und dem Achterdeck. Nur ein paar engste Angehörige folgen dem Kapitän, der langsamen Schritts die Urne zum Eingang des Schiffs trägt. Die schwere Tür ist offen, außen an der Gangway ist ein Gitter befestigt, über das er nun die Urne mit dem Blumenkranz langsam hinablässt, ehe er nach einer Gedenkminute die Schiffsglocke in vier Doppelschlägen erklingen lässt : acht Glasen zum Ende einer Wache, die heute den Übergang vom Leben zum Tod symbolisieren. Später wird der Kapitän einen Eintrag ins Logbuch vornehmen mit der Position, an der die Urne dem Meer übergeben wurde.
Drei Ehrenrunden dreht das Schiff um den Blumenkranz. Schemenhaft ist darunter im Gegenlicht der Sonne die Urne zu erkennen, ehe sie langsam auf den Meeregrund hinabsinkt. Sie ist aus organischem Material wie Zellulose oder Salz gefertigt und wird sich spätestens nach drei Tagen auflösen.
In dem vom Schiff gefahrenen Kreisrund entsteht auf der Wasseroberfläche, was Seeleute einen „Ententeich“ nennen: jenseits der kreisförmigen Kurslinie eine etwas kabbelige See, darin eine beinahe glatte, auf der der Wind nur ein leichtes Kräuseln erzeugt. Lange können die Trauergäste den tänzelnden Kranz betrachten, der für eine flüchtige Weile den letzten Ort markiert, Blütenblätter ins Meer werfen und des Verstorbenen gedenken. Das Schiffstyphon gibt einen langen Abschiedston von sich, und dann steuert die „Binz“ wieder die Seebrücke an.
Aus den Lautsprechern tönt „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein“. Es ist jenes Lied, das sich der zeitlebens reisefreudige Dirk für seinen Abschied gewünscht hatte. An Bord wird über das Danach sinniert. Vielleicht war dieser Liedwunsch verbunden mit einer Vorstellung: Wer zu Wasser wird, kann auch aufsteigen, mit den Wolken ziehen an jeden Ort der Welt? Hinabregnen und mit Wellen und Strom weiterziehen? Es ist eine von vielen tröstlichen Ideen, die seit jeher mit der See als letzter Ruhestätte verbunden sind. Das Meer, aus dem einst alles Leben entstand, kann auch jenseits religiöser Einstellungen Spiegel eines unendlichen Lebens sein: des Kreislaufs von Werden und Vergehen, der Wiederkehr der Gezeiten, die wie eine stetige Umarmung wirken.
Der Tod ist das Ende aller Entscheidungen. Die gilt es idealerweise im Vorfeld zu treffen, so gern der Gedanke daran auch verdrängt wird. Einer Seebestattung geht immer die Einäscherung voraus, die heute weit häufiger praktiziert wird als die früher übliche Erdbestattung; laut der Gütegemeinschaft Feuerbestattung werden etwa 80 Prozent der Verstorbenen in Deutschland kremiert.
Der Bundesverband Deutscher Bestatter schätzt die Anzahl der Bestattungen in Nord- und Ostsee derzeit auf bis zu 20.000 im Jahr. „Und die Nachfrage steigt!“, berichtet Jule Harten, die bei der Weißen Flotte in Stralsund die Seebestattungen betreut. „In den letzten vier Jahren hat sich die Anzahl bei uns fast verdreifacht, sodass wir mittlerweile im Schnitt täglich eine Seebestattung fahren.“ Die Schiffe der Weißen Flotte wie auch die „Binz“ der Reederei Adler, auf der wir dabei sind, sind von Haus aus Ausflugsschiffe, die Beisetzungen Sonderfahrten. Andere Reedereien fahren in langer Tradition oder aufgrund der großen Nachfrage ausschließlich Seebestattungen an den Küsten von Nord- und Ostsee und auf Wunsch auch auf den Weltmeeren.
Früher gab es auf Schiffen keine Kühlmöglichkeiten, sodass Verstorbene auf See beigesetzt werden mussten, immer versehen mit allen maritimen Ehren. Zumeist waren es die Leichname von Seeleuten, die dem Meer übergeben wurden. Heute steht die Seebestattung jedem offen. Als ihr Initiator in der gegenwärtigen Form gilt der heute über 90-jährige Kapitän Horst Hahn. Ursprünglich Seefahrer und später Bestatter in Hamburg, kombinierte er in den 1970er-Jahren seine fachlichen Expertisen und machte die Seebestattung all jenen zugänglich, die das Meer liebten oder ihm verbunden waren. Dennoch, so alltäglich und etabliert sie ist – insbesondere rechtlich ist die Seebestattung nach wie vor nicht selbstverständlich.
Das Bestattungswesen fällt in Deutschland unter die Zuständigkeit der Bundesländer, entsprechend unterschiedlich sind die Regelungen. Grundsätzlich besteht hierzulande die sogenannte Friedhofspflicht; für die Beisetzung auf See bedarf es einer behördlichen Ausnahmegenehmigung. Zwar werten die meisten Bundesländer die Seebestattung inzwischen standardmäßig als zulässige Ausnahme, sodass es keiner gesonderten Genehmigung bedarf. Baden-Württemberg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sehen jedoch explizit die Beantragung einer Ausnahmegenehmigung vor.
Für gewöhnlich wird diese vom Bestattungsunternehmen eingeholt. Auch der Frist, innerhalb derer eine Urne beigesetzt werden muss, sind Grenzen gesetzt. Sie variiert je nach Bundesland zwischen einem und sechs Monaten. Nicht immer also kann ein Wunschtermin gewählt werden. Für den Fall, dass eine Bestattung aus zeitlichen oder anderen Gründen ohne Angehörige stattfinden soll, bieten die Reedereien auch sogenannte stille Beisetzungen an: Kapitän und Crew fahren allein hinaus und übergeben die Urne an der vorgesehenen Position dem Meer.
Vielerorts bedarf es auch noch einer Willenserklärung des oder der Verstorbenen zur Seebestattung. Liegt sie schriftlich vor, erleichtert das den Prozess erheblich und vermeidet mögliche Komplikationen. Andernfalls müssen nahe Angehörige glaubhaft machen, dass die Beisetzung auf See explizit gewünscht war oder zumindest dem vermuteten Willen der Verstorbenen entsprochen hätte.
Auch die Orte, an denen im Küstenmeer Urnen beigesetzt werden, werden von den Anrainer-Bundesländern bestimmt, die zudem die Lizenzen für die Beisetzungen an den festgelegten Positionen an die Reedereien vergeben. Dabei handelt es sich keineswegs, wie auf mancher Website von Bestattungsunternehmen angegeben, um „Seefriedhöfe, auf denen weder das Fischen noch die Sportschifffahrt erlaubt ist“.
Enge rechtliche Regelungen, festgelegte Orte und seemännische Tradition schränken ein, was als die letzte große Freiheit gedacht sein mag. Nicht immer sind sie deckungsgleich mit den Wünschen der Verstorbenen. „Einmal hielt ich hier an der Tür eine Urne, um sie dem Ritual entsprechend der See zu übergeben“, erzählt Kapitän Lang am Ausgang der „Binz“ stehend, „da nahm sie mir der Mann der Verstorbenen aus der Hand und warf sie in hohem Bogen ins Wasser!“ Es sei der Wunsch seiner Frau gewesen, das Schiff könne nun ohne weiteres Tamtam in den Hafen zurückkehren.
Derlei auf individuellen Wünschen beruhende Handlungen bewegen sich immerhin noch im Rahmen des gesetzlich Erlaubten. Kniffliger wird es, wenn ein letzter Wille oder auch die Vorstellungen von Angehörigen und Freunden über den finalen Verbleib der Asche nicht mit den gesetzlichen Regelungen übereinstimmen.
Man muss sich nicht sehr lange umhören, um Geschichten zu finden, denen die Nutzung eines rechtlichen Schlupflochs vorausging. Wie die vom Vater, der zu Lebzeiten leidenschaftlicher Segler war und dessen Asche nach der Kremierung in den Niederlanden vom Sohn mit dem eigenen Boot zu den Isles of Scilly gebracht und dort ins Meer gestreut wurde. Oder die Geschichte vom motorbootfahrenden Mitglied einer Motorradgang, dessen Freunde mit Hang zum Wikingertum ihm das Projektil einer .45er Magnum und eine Axt mitgaben, als sie seine Urne nachts mit von Fackeln beleuchteten Booten der Ostsee, eigentlich aber nach Walhalla übergaben. Oder die vom Wassersportclub, der bei einer Geschwaderfahrt die Asche eines Kameraden in die Elbe streute.
Diesen immer mal wieder praktizierten Individualismus ermöglichen rechtliche Regelungen in Nachbarländern, die die Aufbewahrung der Asche zu Hause, ihr Verstreuen in der Natur oder auch Beisetzungen in Flüssen erlauben. So können Verstorbene unter anderem in der Schweiz oder den Niederlanden eingeäschert und die Asche nach Deutschland zurückgebracht werden. Niederländische Krematorien etwa werben ohne Umschweife damit, dass bei ihnen die Urne nach einer gesetzlich vorgesehenen Aufbewahrungsfrist von vier Wochen den Hinterbliebenen ausgehändigt werden kann. Ein Reimport nach Deutschland unterliegt dann streng genommen ab der Grenze wieder deutschem Recht und damit der Friedhofspflicht. Ein Verstoß dagegen kann als Ordnungswidrigkeit geahndet werden – sofern er bekannt wird.
Die Kosten der verschiedenen Formen der Beisetzung wie Erd- oder Feuerbestattung, Friedhof oder Begräbniswald können gravierende Unterschiede aufweisen – für die Hinterbliebenen eine oft nicht unerhebliche Frage. Für eine Seebestattung muss keine Grabstelle erworben werden, und auch die Kosten für deren spätere Pflege entfallen. Sie zählt damit zu den kostengünstigeren Beisetzungsformen. Dennoch fällt vielen Menschen die Entscheidung für das Meer als letzte Ruhestätte schwer, weil die Hinterbliebenen einen festen Ort brauchen, ein Grab, einen Baum, den sie aufsuchen und an dem sie trauern können. Doch auch das ist möglich nach einer Seebestattung.
An Land gibt es vielerorts Gedenkstellen: eine Bank, ausgerichtet auf die Beisetzungsposition. Namensplaketten. Blumenvasen. Angehörige erhalten auch eine Urkunde, in der die Position der Beisetzung vermerkt ist. Sportbootfahrer können sie so jederzeit auf eigenem Kiel ansteuern.
Viele Reedereien bieten außerdem regelmäßig im Frühjahr oder zum Totensonntag Gedenkfahrten an. „Je nach Schiff können wir 80 bis 200 Personen mitnehmen. Die Angehörigen verbinden das gern mit einem gemeinsamen Familienurlaub hier bei uns an der Küste“, berichtet Jule Harten von der Weißen Flotte. „Am Beisetzungsort kann dann die Wasseroberfläche zu einem regelrechten Blumenmeer werden.“ Oft liegen die Bestattungsorte auch auf Fähr- oder Ausflugslinien. So beobachtet Kapitän Lang gelegentlich, dass Menschen mit Blumen in den Händen zu einer Ausflugsfahrt auf die „Binz“ kommen. Er weiß dann: Das sind Hinterbliebene, die den Beisetzungsort noch einmal besuchen möchten. „Ich halte dann an der entsprechenden Position kurz an, damit sie die Blumen werfen können und ein paar Gedenkminuten haben“, erzählt er nach dem Festmachen.
Dirks Freunde und Familie verlassen das Schiff über die Gangway und gehen langsam über die Seebrücke zurück an Land. „Das war ein runder Abschluss. Irgendwie richtig schön“, stellt einer der Freunde fest und ergänzt etwas verlegen: „Wenn man das in diesem Zusammenhang sagen darf.“ Alle nicken, man darf das so sagen. An der Promenade angelangt, deutet eine Freundin von Dirks Mutter zurück über die Brücke hinaus auf die See: „Schau, Heidi, nun musst du dich einfach nur hier hinstellen, um ganz nah bei Dirk zu sein.“
Die Planung übernimmt üblicherweise ein Bestattungsunternehmen, das zunächst die Einäscherung organisiert. Auf Wunsch findet zuvor eine Trauerfeier oder ein Gottesdienst statt – so haben Angehörige die Möglichkeit zum Abschied, auch wenn sie an der späteren Seebestattung nicht teilnehmen können. Die Urne wird bis zur Beisetzung beim Bestatter aufbewahrt und später zur Küste überführt. Die eigentliche Seebestattung folgt einem schlichten maritimen Brauch: An Bord spricht der Kapitän einige Worte des Abschieds, ehe er die Urne dem Meer übergibt. Es folgt eine stille Gedenkminute, danach erklingen traditionell acht Glockenschläge. Zum Abschluss fährt das Schiff eine Ehrenrunde um die Beisetzungsposition.
Der Hafen für die Beisetzung kann als letzter Wille festgelegt oder von den Angehörigen bestimmt werden. Meist wird ein bevorzugter Hafen an Nord oder Ostsee gewählt, zu dem eine persönliche Verbindung besteht. Oft kooperieren Bestatter mit festen Reedereien. Bei der Auswahl des Schiffs spielen neben emotionalen auch praktische Erwägungen eine Rolle: Die Schiffe unterscheiden sich bezüglich Anzahl der Gäste (15 bis 200 Personen sind möglich), Barrierefreiheit und des Platzes auf dem Schiff, von dem aus die Urne beigesetzt wird. Auch die gute Erreichbarkeit der Beisetzungsstelle ist für Angehörige häufig ein wichtiger Aspekt.
Stille Seebestattungen, bei denen die Urne ohne Angehörige beigesetzt wird, kosten ab ca. 1.600 Euro, begleitete Abschiede mit Angehörigen an Bord ab ca. 2.400 Euro. Zusätzliche Wünsche wie Trauerredner, Blumen oder Catering werden gesondert berechnet.