Sonnig ist es, doch ein beißend kalter Ostwind rötet Gesichter, lässt die Knöchel an schraubenden Fingern weiß hervortreten und selbst die schweren Arbeits-Schwimmpontons auf kleinen Wellen schaukeln. „Einfach weiterarbeiten, nicht aufhören“, ist Michaels Rezept gegen die Kälte. Er ist einer von gut 15 Mitgliedern des Yacht-Clubs Großenbrode (YCG), die an diesem Samstag Anfang März an ihrer Steganlage arbeiten. Die verheerende Ostsee-Sturmflut im vergangenen Oktober hatte auch dem Vereinshafen am Großenbroder Binnensee stark zugesetzt. Der Wiederaufbau erfolgt seither in Eigenregie durch die Mitglieder. Den ganzen Winter über werkeln sie schon trotz Wind und Wetter in jeder freien Minute.
Wie heute. Die einen bringen auf Schwerlastrollen Bongossi-Holzbohlen heran, andere klettern behände auf die Pontons, demontieren alte Platten und Hölzer und schrauben neue an. Dazwischen fährt Thomas schwungvoll das zum Arbeitsboot umfunktionierte Jugenddingi hin und her und bringt, was gebraucht wird. „Dabei weiß ich noch gar nicht, wofür ich das mache – ich habe gar kein Boot mehr“, sagt er schulterzuckend. Seine Luffe wurde im Sturm von den Wellen angehoben und landete im freien Fall auf einem Dalben, der sie quer von Backbord nach Steuerbord durchbohrte. Andere Eigner mussten vom Vereinshaus aus zusehen, wie ihre Schiffe auf Tiefe gingen. Standen hilflos da, als sich der Bretterbelag ihres Südstegs vollständig von seinem Untergrund trennte und mitsamt den Booten wie ein Floß über die Wellen auf Drift ging.
Landauf, landab stellten Szenen wie diese die Segler und Hafenbetreiber vor große Herausforderungen. Und die hinterlassenen Schäden tun das bis heute. Beim YCG begegnet man dem Desaster seit Tag eins nach der Katastrophe mit Plan und Tat. Statt sorgenvoll zu grübeln, sammelten die Männer und Frauen Trümmerteile ein, halfen bei der Bergung der Havaristen und schichteten tagelang einen langen Wall von Seegras um das Freilager, das die Wellen tonnenweise in das Hafenbecken, an die Sorgleinen und den Ufersaum geschleudert hatten.
Im ersten Stock des Vereinsheims steckte derweil ein aus Reihen der Mitglieder rekrutiertes Planungsteam aus Bauingenieuren, Maschinenbauern, einem Statiker und einer Vermessungsingenieurin eine Woche lang die Köpfe zusammen und plante die Bauschritte und das Material für die Neukonstruktion des Hafens. Zwischendurch begutachteten sie die Reste ihrer Stege, fanden Fundamente, die sich als haltbar erwiesen, Dübel, die erneuert werden mussten, und manche Schraube, die auf einen minimalen Durchmesser korrodiert war. Ein Mitglied ist Professor und lässt im Institut seiner Uni eigens Wettermodelle für die Region berechnen. Sie kommen zu dem Schluss, dass das, was im Oktober 2023 als Jahrhundertereignis tituliert wurde, höchstwahrscheinlich kein solches bleiben wird.
Alle Planungen richten sich folglich auf ein Worst-Case Szenario aus: die Stege höher, die Poller stabiler und mit längeren Fingern, an denen auch dickere Festmacher Halt finden. Die neue Anlage soll das Doppelte der Kräfte aushalten wie die alte. „Wir wussten auch im Oktober, dass es böse wird, aber nicht, wie böse, dafür sind heute die Vorhersagen nicht ausreichend exakt“, berichtet Lars Kremp, der Vorsitzende des Yacht-Clubs Großenbrode. „Viele von uns sind während der Sturmflut zum Hafen gekommen, um im Notfall einzugreifen. Aber als die Mole, die unseren Binnensee von der Ostsee trennt und die uns immer das Gefühl gab, dass wir hier sicher und geschützt liegen, einfach von den Wellen überrollt wurde, war der Hafen plötzlich Brandungszone.“ Betreten lebensgefährlich, zusehen bitter. Das soll möglichst in Zukunft nicht mehr passieren.
Im Vereinssaal im Erdgeschoss mussten dekorative Vereinsstander und Pokale rot-weißem Flatterband an Lampenschirmen weichen. Heute trifft hier Kantine auf Werkzeugarsenal. Hinter dem Tresen wird Gemüse geputzt und Teig geknetet. An den Fenstern hängen großformatige Konstruktionspläne und Bauanleitungen, darunter summt leise eine Batterie von Akkus für die zahlreichen Schrauber, Bohrer und andere Werkzeuge. Arbeitslisten und Einsatzpläne liegen auf dem Tisch daneben, kistenweise Arbeitshandschuhe warten auf ihren Einsatz. „Die Zeit der weißen Hosen und goldgeknöpften Sakkos ist vorbei, wir sind jetzt in der Epoche Latzhose angelangt“, kommentiert Kremp den neuen Zustand augenzwinkernd. Er leitet das Großprojekt mit Geduld und stiller Größe.
Beim gemeinsamen Mittagessen erzählen die Vereinsmitglieder abwechselnd über die Sturmnacht und die viele Arbeit, die sie danach zusammen gestemmt haben. Kremp hört zu, setzt mitunter selbst zu einem Satz an, um dann doch zu schweigen, wenn jemand anderes etwas sagen möchte. Das hier ist nicht seine Show, es ist seine Aufgabe.
Gleich nach dem Unwetter hat sich der hochgewachsene Mann im ersten Stock des Vereinsgebäudes, dem eigentlichen Vorstandszimmer, ein Bett in Überlänge gezimmert und Quartier bezogen. Nur einmal hat er seinen ehrenamtlichen Dauerarbeitsplatz für zwei Wochen wegen eines beruflichen Auftrags verlassen, ein anderes Mal führten Lieferverzögerungen zu ein paar Tagen Baupause. Ansonsten ist er seit gut fünf Monaten fast rund um die Uhr im Einsatz. „Am meisten habe ich mit den Bestellungen zu tun und mit der Koordination derer, die mitarbeiten“, erzählt er.
Im Hauptberuf war Kremp Supply Chain Manager bei einem großen Flugzeugbauer. Daher hat er Routine in der koordinierten Materialbeschaffung, ist kreativ, wenn das Material zum Weitermachen fehlt. Mindestens zwölf Telefonate führt er allein wegen der Einsatzplanung jeden Tag, und ebenso viele Mails beantwortet er, hinzu kommen die Fragen der Helfer, die im Vorbeigehen einen Rat oder ein „Go“ jenseits des eigentlich Geplanten brauchen. Täglich schickt er allen Mitgliedern einen Statusbericht mit Fotos von den Fortschritten.
Zu sehen, wie rasch die Arbeiten voranschreiten – nur zwölf Tage hat beispielsweise der Bau des Oststegs gedauert –, soll jene motivieren, die tatkräftig mit anpacken, und wohl auch den wenigen zu denken geben, die noch nicht so recht Hand anlegen wollten oder konnten. Jeden Morgen um acht teilt Kremp beim gemeinsamen Frühstück mit ruhiger Stimme Aufgaben ein und gibt Sicherheitsanweisungen für den Fall, dass jemand sich verletzt oder ins kalte Wasser fällt. Bisher blieb es bei drei ausgereichten Heftpflastern und einem schadlos überstandenen Sturz ins Wasser, das soll so bleiben.
Die Gesichter, in die er blickt, sind immer andere. Die Männer und Frauen kommen aus Hamburg nach Großenbrode herbeigefahren oder aus weiter Entfernung, dem Sauerland oder Tönisvorst, einer gar aus Spanien. Wer eine lange Anreise hat, kann auch gleich länger bleiben. Drei Ferienwohnungen, deren Eigentümer dem Verein angehören, werden dann zu temporären WGs. Viele derer, die da gemeinsam werkeln, wohnen und essen, kannten sich vorher nicht sonderlich gut. Jetzt schaffen sie nicht nur einen neuen Hafen, sondern nebenbei auch eine neue Vereinsdynamik. „Wir kennen uns jetzt. Nicht nur mit Namen. Das wird in Zukunft ein ganz anderes Vereinsleben sein. Gerade die gemeinsamen Mahlzeiten sind dafür sehr wertvoll“, sagt Kremp und erntet zustimmendes Nicken. Nur einmal fragt jemand, was das ganze Essen den Verein denn wohl koste. Die Antwort sind strenge Blicke und weitere Fragen damit vom Tisch.
Das Großprojekt hat auch die Entscheidungswege deutlich verkürzt. Die Küche, in der täglich frisch gekocht und gebacken wird, wurde erweitert und ein Geschirrspüler eingebaut, alte Nachtspeicheröfen durch eine Wärmepumpe ersetzt. Die üblichen Anträge, Diskussionen und Beschlüsse wichen der Notwendigkeit, eine brauchbare Infrastruktur für die Baustelle bereitzustellen. Die zeigt sich auch in der Werkstatt und dem Magazin, wo in säuberlich beschrifteten Fächern unzählige Schrauben und Muttern, Gewindestangen und Unterlegscheiben aller Arten lagern.
Peter ist einer der Rentner, die fast täglich dabei sind. Er sorgt heute für Ordnung im Magazin, teilt Material aus und sortiert des Abends den Inhalt der Mischkisten wieder in die passenden Fächer. „Immer wieder aufräumen ist wichtig, damit man nicht zu viel Zeit mit dem Suchen verbringt und einen Überblick über den Bestand behält“, erzählt er. Die Halle, in der er steht, dient eigentlich als Lager für die Jugendboote; die im Oktober kurzerhand in ein rasch aufgebautes Zelt nebenan verlagert wurden, an dessen Spanngurten jetzt der Wind zerrt. In einem weiteren neuen Zelt steht massiveres Gerät wie eine Tischkreissäge oder ein Standbohrer, professionell mit Kraftstrom versorgt.
Am Rand des Freilagers, in dem die Boote in einem für die Jahreszeit selten unberührten Zustand auf Zuwendung warten müssen, wird das alte Material sortiert nach dem, was sich wiederverwenden oder weiterverkaufen lässt, und dem, was entsorgt werden muss. Auch das Büro im ersten Stock des Vereinsheims hält mit einem neuen Drucker, PC und Feldbetten für Helfer heute weit mehr als einen bezaubernden Ausblick auf die Ostsee bereit. Über die knarzende Treppe kommt Olaf hinauf, „mein Backoffice“, wie Lars Kremp den Ingenieur nennt.
Der hat große Bauprojekte geleitet und ist jetzt zu aller Glück im Ruhestand. Für die großen Materiallieferungen reicht er Zeichnungen und Stücklisten weiter an die Lieferanten und muss auch schon mal drängeln, damit Nachschub kommt. „Manchmal, wenn ich abends den Lagebericht gesehen habe, dachte ich: ‚Da fälscht doch einer die Fotos!‘“ Schneller als geplant geht die Neukonstruktion voran, jeden Tag vom frühen Morgen bis in den Abend, egal wie das Wetter ist.
Seit der Sturmflut haben die 150 Mitglieder 7.000 Stunden gearbeitet. Ein paar werden noch hinzukommen müssen, bis die letzten Stege fertig sind. Doch dann wird der Hafen mehr der ihre sein denn je.
Lars Kremp ist der Vorsitzende des Yacht-Clubs Großenbrode – und seit der Sturmflut so etwas wie der Geschäftsführer einer kleinen, sehr effizienten Firma.
Lars Kremp: Zufällig stand schon einige Wochen vorher die Sanierung unseres Nordstegs an. Nach einem recht hohen Kostenvoranschlag haben wir es zunächst in Eigenregie versucht – mit Erfolg. Wir waren also am 21. Oktober zuversichtlich, dass wir das Projekt stemmen können. Die Realität hat diese optimistischen Erwartungen dann sogar noch übertroffen. Letztlich hatten wir aber auch kaum eine andere Wahl. Der Hafen ist Eigentum des Vereins – das Land, die Gebäude und auch die Wasserfläche mit den Stegen. Das ist hier in Großenbrode an der Küste selten und war jahrzehntelang ein Riesenvorteil, weil wir die Liegegebühren niedrig halten können und nicht für alles, was wir tun möchten, eine Genehmigung der Gemeinde brauchen. Mit der Sturmflut wurde daraus aber auch eine riesengroße Aufgabe für uns.
Schon am Tag nach dem Desaster haben wir darum gebeten, dass jedes Boot eine Woche Arbeitszeit investiert, zusätzlich zu den ohnehin vorgesehenen zwölf Arbeitsstunden im Jahr. Die meisten machen das möglich, manche müssen wir auch in einem persönlichen Gespräch davon überzeugen. Nicht, dass jemand unwillig wäre; aber wer beispielsweise eine Firma leitet, ist nicht unbedingt abkömmlich. Letztlich packen aber alle mit an – das ist auch das Motto, das auf unserem täglichen Lagebericht steht: Ohne alle geht’s nicht.
Wir haben in unserem Verein sehr motivierte Fachkräfte, viele aus klassischen Lehrberufen im Handwerk. Einige von ihnen sitzen bedingt durch die Karriere nur noch im Büro. Die haben solche Lust, mal wieder in ihrem alten Lehrberuf zu arbeiten und jeden Tag zu sehen, was sie geschafft haben! Selbst bei dem oft sehr unangenehmen Wetter haben die unglaublich viel geschafft und sich gegenseitig motiviert. Die Arbeit kam schnell in einen Flow. Die einen haben Balken und Platten getragen, andere Stahlträger getreidelt.
Die Elektriker haben wochenlang die Stromkästen neu eingerichtet, und ein Klempnermeister lässt die ganze Wasserinstallation dahinterher wachsen – wie eine große Firma, die für alles Fachkräfte hat. Auch die, die nicht oder nicht mehr draußen an der Baustelle mitarbeiten können, setzen sich ein. Ein paar Rentner sind seit Monaten im Einsatz, koordinieren mit oder kümmern sich ums Magazin, und immer findet sich jemand für die Arbeiten in der Küche. Selbst ehemalige Mitglieder helfen oder spenden für den Wiederaufbau.
Tatsächlich kommen trotz der vielen Eigenleistungen schon hohe Kosten für das Material zusammen. Jede GFK-Stabmatte kostet 120 Euro, für Wasser und Strom haben wir 200 Meter neue Längen verbaut, und allein das Innenleben eines einzigen Stromkastens kostet 40.000 Euro. Wie die meisten Vereine erhalten auch wir Mittel aus der Sportförderung, aber die sind ja zweckgebunden und gedeckelt. Wir müssen also selbst dafür aufkommen, haben aber das Glück, dass wir Geld angespart haben für die Sanierung eines Teils unserer Stege. Dadurch sind wir mit einer Rücklage an die Reparaturen gegangen, die uns erst mal sehr geholfen hat.
Bis heute mussten wir kein Geld aufnehmen. Nun ist bald Jahreshauptversammlung, dann können wir den Mitgliedern sagen, was in diesem Jahr noch auf uns zukommt. Die weiteren Kosten müssen dann voraussichtlich über Umlagen finanziert werden.
Das ist für uns auch eine neue Aufgabe: dass wir den Hafen auf künftige Stürme vorbereiten. In Zukunft werden wir vom 1. November bis zum 1. April ähnlich vorgehen wie in den Tidehäfen und das meiste abbauen. Wir gehen grundsätzlich davon aus, dass derartige Wetterphänomene häufiger werden, und stellen uns darauf auch im Sommer ein, nicht allein mit den stabileren und höheren Stegen, sondern auch organisatorisch.
Wir werden so etwas wie eine schnelle Eingreiftruppe bilden, eine Telefonliste mit 20 Leuten, die schnell verfügbar sind. Die haben dann die Aufgabe, die Stromkästen einzusammeln und die Boote zu sichern. Welche Schäden herausgerissene Klampen verursachen können, haben alle gesehen. Die Boote in unserem Hafen werden deshalb in Zukunft bei drohenden Stürmen an ihrem stabilsten Punkt mit einer Rundschlinge aus festem Nylon um den Mast gesichert. Manch ein Eigner findet das vielleicht übertrieben, aber das ist mir egal. Wenn nichts passiert, bin ich auch froh. Aber wenn ein Sturm schon vorhergesagt wird, dann tu ich mal so, als ob es schlimm wird, und bereite unseren Hafen und die Boote darauf vor. Und dann sehen wir ja.