Unter dem Applaus von Hunderten Gästen nehmen Claudia, Karl-Heinz und Tochter Isabel in der Nordseehalle beinahe ungläubig ihren Preis entgegen. Sie haben den dritten Platz ersegelt beim Capitell Cup Rund Helgoland! Doch nicht nur das: Sie sind auf eigenem Kiel zum ersten Mal auf Elbe und Nordsee gesegelt. Haben Helgoland erreicht und umrundet.
Das ist alles andere als selbstverständlich für die Eigner einer Hallberg Rassy 372, erklärte Ostseesegler mit Liegeplatz in Neustadt. „Ich war ganz geschockt, dass wir den Preis gewonnen haben! Wir sind einfach so gesegelt wie immer“, sagt Karl-Heinz.
Das konnten sie auch, liefen sie doch gemeinsam mit einem Dutzend anderer Boote außerhalb der Wertung der übrigen Regatten bei der traditionsreichen Nordseewoche. „DSV-Geschwaderfahrt“ heißt das neue Format, dem sie sich angeschlossen haben. Ein Törn von Kiel-Schilksee nach Helgoland und zurück, begleitet von einem Boot mit DSV-Crew. „Betreutes Segeln“ nennt DSV-Präsidentin Mona Küppers es – mehr aus Versehen – bei ihrer Laudatio zur Preisverleihung und nimmt den Begriff auch gleich entschuldigend zurück. Dabei haben die letzten Tage gezeigt, dass er im besten Sinne zutrifft.
Für viele begann der Törn ins Unbekannte schon in Kiel-Holtenau. Die riesige Schleuse und der dahinterliegende Nord-Ostsee-Kanal (NOK) mit seinen eigenen Befahrensregelungen erfordern schon ein wenig Vorbereitung. Die aber wird dem Geschwader im Wesentlichen von der Crew des DSV abgenommen. Rainer Tatenhorst, Abteilungsleiter Fahrtensegeln des Verbands, erklärt allabendlich, welche navigatorischen Besonderheiten auf sie warten, andere helfen unsicheren Crews bei ihren Manövern.
Am sonnigen Montagabend vor Pfingsten grillen alle gemeinsam im Hafen des Regatta-Vereins Rendsburg. Hinter ihnen liegen mit der ersten Schleuse und Kanalfahrt zwei erfolgreich abzuhakende Punkte von vielen auf der Liste seglerischen Neulands. Es ist die erste gesellige Gelegenheit für die Crews, sich näher kennenzulernen. Paare sind sie, Familien oder Freunde, allesamt mehr oder weniger segelerfahren. Unsicherheiten bezüglich dessen, was sie erwartet, bestehen dennoch. Sie dürfen ungeniert benannt werden, die Atmosphäre ist geprägt von Hilfsbereitschaft, die Teilnehmer erfrischend uneitel.
Wind und Wetter sind ein Thema, die Vorhersagen nicht allzu berauschend für die erste Fahrt über die offene Nordsee. Die Flottille rangiert zwischen einer Bavaria 32 und einer sportlichen Xp 44, geskippert vom ehemaligen DSV-Präsidenten Andy Lochbrunner.
Mit in der Runde ist auch Karl „Kalle“ Dehler mit seiner D38c „Sporthotel“. Am nächsten Abend soll mit der „Kick“ noch eine vereinsgeführte Dubois 40, eine echte, wenn auch alte, Regattayacht, hinzukommen. Erwartbar, dass das Geschwader nach dem Passieren des NOK nicht immer in Sichtweite voneinander segeln wird. Manche Crew hält sich denn auch offen, ob sie wirklich nach Helgoland rübermacht, und tastet sich Etappe für Etappe weiter.
Am Folgetag geht es zunächst nach Brunsbüttel mit einer entspannten, sonnigen Kanalfahrt. Nacheinander machen die Boote am Abend im kleinen Hafen neben der Schleuse fest. Päckchen bilden sich, der Standard in den nächsten Tagen.
Beim abendlichen Briefing erläutert Rainer Tatenhorst die Etappe des Folgetages. Die gut 15 Meilen nach Cuxhaven sind für die meisten auch die ersten im Tidenrevier. Und so gibt es viel Neues zu beachten: vom Gezeitenverlauf auf der Elbe über die daraus resultierende Abfahrtszeit am Morgen bis hin zum korrekten Fahrverhalten auf dem viel befahrenen Fluss. Die Erläuterungen ersparen den Crews viel eigene Recherche und Planung.
In der Schleuse am nächsten Morgen zeigt sich Teamgeist. Die Stege haben nur Ringe zum Festmachen und liegen zudem sehr tief. Einige steigen beherzt hinab und helfen den anderen. Sie später wieder an Bord zu hieven, erfordert wiederum helfende Hände.
Scheinbar gelangweilt betrachtet ein Schleusenwärter das Spektakel, bis er bei der Ausfahrt seinen Einsatz hat: „Das geht auch schneller!“, ruft er den Yachten hinterher, doch hinter breitem Grinsen offenbart sich raue Herzlichkeit. Willkommen an der Nordsee!
Die spielt schon hinter dem Schleusentor mit einer steifen, kalten Brise erste Klischees aus. Die Bavaria 32 „Lisa“ fährt als kleinstes Boot der Flotte hoch am Wind den anderen Booten hinterher. An Bord sind mit Enno, Wolfgang und Stephan drei Freunde, die seit gut 25 Jahren regelmäßig gemeinsam Yachten am Mittelmeer chartern. Sie haben den noch vagen Plan, in den nächsten Jahren auf eigenem Kiel England zu umrunden oder an der Pantaenius Rund Skagen Regatta teilzunehmen. Ab heute werden dafür erste Erfahrungen gesammelt.
Der Ebbstrom auf der Elbe lässt die Geschwindigkeit der kleinen „Lisa“ für wenige Sekunden über zehn Knoten springen und sich dann bei flotten sieben bis acht einpendeln. Der kurze Schlag nach Cuxhaven erscheint als fast zu kurzes Vergnügen, bis später am Vormittag Böen von 7 Beaufort die Boote des Geschwaders binnen Sekunden in arge Schieflage bringen. Schnell wird allenthalben auf minimale Tuchgröße gerefft, und manch eine Crew wird später in Cuxhaven erzählen, wie diese Wetterkapriolen den Respekt vor dem Törn nach Helgoland noch einmal erhöht haben.
Untermalt vom Klang kräftiger Schauer auf einem Zeltdach erklärt Tatenhorst abends den Kurs dorthin. Der ist wenig spektakulär, wäre da nicht die Wettervorhersage! Südwestwind mit kräftigen Böen und Schauern am Donnerstag. Starkwind am Pfingstmontag, dem Tag der geplanten Rückreise. Einer Crew ist das zu unsicher, sie steigt aus.
Donnerstag früh machen die übrigen Crews klar zum Ablegen. Nur einer schiebt stattdessen Hafenkarren mit leeren Kanistern über den Steg zu seinem Boot. „Tausend Mal habe ich meiner Familie gesagt, dass sie darauf achten sollen“, erklärt der Skipper, „und nun habe ich selbst Wasser in den Dieseltank gefüllt!“
Dass für ihn die Fahrt an dieser Stelle nicht beendet ist, verdankt er der schnellen Hilfe des DSV-Teams. Es vermittelt den Kontakt zur Werft, die leere Kanister bereitstellt und den wässrigen Diesel entgegennimmt. Gemeinsam werden Kanister an und von Bord spediert, bis auch dieses Boot startklar ist.
In Rauschefahrt gleitet Kalle Dehlers „Sporthotel“ elbabwärts. Er hat schon reichlich Seemeilen auf Hochseeregatten im Kielwasser gelassen. Und nun betreutes Segeln? „Als Segelrentner muss ich mir ja nichts mehr beweisen“, sagt Dehler zwinkernd. „Wir können das hier ganz entspannt angehen.“
Nun ja, beinahe – an den meisten Geschwaderbooten zieht die „Sporthotel“ vorbei; das Dehler’sche Familienmotto „Fahrt schon mal vor, wir warten dann auf euch“ scheint sich zu bestätigen. Nur die betagte, aber immer noch flotte Rennyacht „Kick“ ist nicht einzuholen und macht als erste auf Helgoland fest.
Nach und nach laufen die anderen Boote ein, zeitgleich entladen sich dunkle Wolken mit kräftigen Schauern und Sturmböen. Trotz waagerecht peitschendem Regen stehen die Crews auf allen Booten bereit und helfen. Leinen werden gereicht, Fender justiert und Wanten weggedrückt, bis der Spuk vorbei ist.
In den Folgetagen stehen eine Fahrt zur Düne und eine Inselführung über Unter- und Oberland auf dem Programm. Dort oben resümiert Enno von der „Lisa“: „Für mich war das seglerisch alles Neuland. Die Häfen kannte ich vom Segeln nicht, ebenso wenig die Gezeiten. Die Lernkurve aus diesen fünf Tagen ist ziemlich steil.“ Immerhin, so ergänzt er, sei der Törn zwar organisiert, „aber wir haben hier ja auch eine ganze Menge selbst gemacht. Und nur dadurch sammelt man Erfahrungen.“
Unten im Hafen nimmt die Nordseewoche Fahrt auf. Die Boote der Zubringerregatten füllen das Hafenbecken, abends wird gefeiert. Ein Hochseeregatta-Getümmel, in das sich die Teilnehmer der Geschwaderfahrt auf eigene Faust wohl kaum begeben hätten. Doch so ersegeln sie sich am Pfingstsonntag bei sportlichen 18 bis 25 Knoten Wind sogar Ränge.
Vor allem aber bleibende Erinnerungen: in einer Acht erst um die Insel mit ihrer roten Steilküste und der markanten „Langen Anna“, dann um Düne. Zwischendurch reihen sie sich ein in die Felder der anderen Yachten auf den Bahnen. Herzschlagmomente, die anfängliche Sorgen vergessen lassen.
So schreibt es ihnen auch Rainer Tatenhorst zum Ende des Törns: „Ihr seid alle Pioniere, und jeder hat so auf seine Weise gewonnen. Die Geschwaderfahrt war ein Experiment und wird dank eurer Teilnahme und Begeisterung sicherlich eine Institution innerhalb des DSV.“
In zwei Jahren findet der nächste gemeinsame Törn statt.