“Einen wunderschönen guten Morgen, MRCC Bremen. Hier ist die ‚Nis Randers‘. Wir laufen aus zur Kontrollfahrt Richtung Prerow.“ Es knistert kurz im Funkgerät, dann erhält Frank Weinhold die Bestätigung von der Rettungsleitstelle See in Bremen. Weinhold ist der erste Vormann des neusten 28-Meter-Seenotrettungskreuzers der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS). Der auf den traditionsreichen Namen „Nis Randers“ getaufte SK42 wurde 2020 als sechster seiner Klasse bei der Fassmer-Werft auf Kiel gelegt und hat seinen Liegeplatz im neuen Inselhafen von Prerow bei Darßer Ort.
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Bevor Weinhold vor 18 Jahren zur DGzRS kam, ist er einige Jahre als Kapitän auf küstennahen Fischerei- und Meeresforschungsschiffen zur See gefahren. Ein großer Unterschied: „In den Logbüchern der anderen Schiffe stand vor dem Auslaufen standardmäßig ‚seeklar machen‘. Das brauchen wir hier nicht. Die ‚Nis Randers‘ ist rund um die Uhr seeklar, das ganze Jahr hindurch. Die Maschinen sind immer warm, sodass wir jederzeit direkt mit Höchstgeschwindigkeit auslaufen können.“ Wie alle Rettungseinheiten der DGzRS wurde die „Nis Randers“ als Selbstaufrichter und aus seewasserbeständigem Aluminium gebaut. In der Heckwanne führt sie ihr 8-Meter-Tochterboot mit sich, das auf See vom Mutterschiff autark agieren kann. In Anlehnung an die Ballade des Schriftstellers Otto Ernst, der die „Nis Randers“ ihren Namen zu verdanken hat, trägt das Tochterboot den Namen „Uwe“– nach dem verschollen geglaubten und dann geretteten Bruder der Titelfigur, die das Idealbild eines Seenotretters symbolisiert.
2021 wurde die „Nis Randers“ am Nothafen Darßer Ort in Dienst gestellt. Seit der Schließung des Hafens im Herbst 2023 lag sie im Versorgungshafen und Ausweichliegeplatz Barhöft bei Stralsund. Von hier aus navigiert Weinhold den Kreuzer durch die enge, betonnte Fahrrinne Richtung offene See. Das Flachwassergebiet erfordert höchste Konzentration. Nicht selten kommt es vor, dass die Crew bei ihren Kontrollfahrten Festfahrer sichtet, die Hilfe benötigen. „Die flachen Gewässer und engen Fahrrinnen sind tückisch“, erklärt Weinhold. „Durch drehenden Wind entstehen häufig Strömungen, die ähnlich wie der Gezeitenstrom das Wasser in das Boddengewässer rein- und wieder rausdrücken. Wer hier nicht richtig navigiert, läuft schnell auf Grund. Deshalb beobachten wir auch auf unseren Kontrollfahrten immer aufmerksam, wie und wo sich die Boote bewegen.“ Nach jahrelanger Erfahrung habe er das im Gefühl, wenn sich etwas Gefährliches entwickeln könnte, so Weinhold. „Manchmal genügt es, aus der Ferne zu sehen, wie ein Schiff fährt, um zu ahnen, dass an Bord etwas nicht stimmt. Und dann fahren wir da ran – lieber einmal zu oft als nicht rechtzeitig genug.“
Festfahrer und technische Hilfeleistung sind die häufigsten Einsatzgründe. Rund 60 Einsätze seien sie in diesem Jahr bereits gefahren, so Weinhold. „Und das Jahr ist noch nicht zu Ende.“ Es ist Mitte September. Noch sind viele Wassersportler unterwegs. Von der gekenterten Jolle, dem entkräfteten Kiter bis hin zum notgewasserten Flugzeug und Heißluftballon – Vormann Weinhold und seine Crew haben schon viel gesehen und erlebt. „Den letzten Einsatz hatten wir gestern Abend. Das waren drei gekenterte Kanuten, die sich an ihrem Boot festklammerten.“ Häufig sind es Passanten an Land oder andere Wassersportler, die etwas beobachten und einen Notruf absetzen. Wenn über Kanal 16 ein Notruf eingeht, übernimmt die Rettungsleitstelle See MRCC in Bremen und koordiniert die Rettung. Das Seefunkgerät an Bord der „Nis Randers“ läuft Tag und Nacht.
Die Stammbesatzung besteht aus neun fest angestellten Seenotrettern, von denen immer vier für 14 Tage am Stück Wache haben. Das bedeutet: Vier Leute arbeiten, leben und schlafen zwei Wochen an Bord. Diese Männer-WG auf Zeit sei schon sehr „intensiv“, so Weinhold. „Das funktioniert nur, wenn sich jeder einbringt und auch mal zurücknimmt. Aber wenn die Chemie stimmt, dann macht das auch richtig Spaß. Das ist ein bisschen wie Familie und Zuhause. Ich schlafe häufiger in meiner Koje hier an Bord als in meinem Bett an Land. Denn wenn ich bei der Familie bin, bin ich auch mal unterwegs. Hier bin ich 14 Tage ans Schiff gebunden.“ Im ersten Moment klingt der 14-Tage-Schichtrhythmus nach einem großen Opfer in Sachen Freizeit und Familienzeit. Doch für mehrere Crew-Mitglieder an Bord der „Nis Randers“ war genau dieses System sogar ein Grund für ihre Bewerbung. Maschinist Frank Kasüske war früher zwölf Wochen am Stück unterwegs. Und auch für seinen Kollegen Olaf David war der 14-Tage-Wechsel ein Anreiz, sich bei der DGzRS zu bewerben. Nach seiner Zeit bei der Marine und seinem Studium zum nautischen Schiffsoffizier entschied er sich bewusst dagegen, zur See zu fahren, um mehr bei seiner Frau zu sein.
Der Tag beginnt um 7.30 Uhr mit einem gemeinsamen Frühstück und der Dienstbesprechung. „Wir machen das Wetter und melden das an die Leitstelle in Bremen. Dann klären wir, wer was zu tun hat, ob wir eine Kontrollfahrt planen, was gewartet, geprüft, geübt werden muss“, so Weinhold. Regelmäßig steht auch die Ausbildung der Freiwilligen auf dem Plan. Aber auch alltägliche Dinge müssen geklärt werden: Wer geht einkaufen, wer kocht, wer putzt die Kombüse? „Natürlich ist nicht immer alles Friede, Freude, Eierkuchen. Aber dann reden wir darüber“, sagt Weinhold. Auch die Einsätze werden im Nachgang besprochen. Vor allem jene, die nicht zur Routine gehören. „Einsätze, bei denen Menschen zu Schaden kommen, können schon an die Nieren gehen. Dann spricht man darüber. Allein schon, weil man aus jedem Fall noch etwas lernen kann.“ Die größte Herausforderung sei, immer wachsam zu sein und schnell auf spezielle Situationen zu reagieren. „Man kann nicht vorhersehen, was einen da draußen erwartet“, so Weinhold. „Die einzige Vorbereitung ist üben, üben, üben.“ Bei den zwei bis drei Kontrollfahrten pro Woche geht es in erster Linie darum, die technischen Anlagen und Arbeitsgeräte zu überprüfen. Häufig nutzen die Seenotretter aber auch herausfordernde Wetterlagen, um zu üben. „Man spitzt die Ohren, wenn ein Gewitter aufzieht“, so Weinhold. Der Slogan „Sie fahren raus, wenn andere reinkommen“ gilt nicht nur für die Einsatzfahrten. Immer bei Schönwetterlagen zu trainieren bringe nichts, wenn die Bedingungen im Ernstfall nun mal meistens anders sind. Gerade wenn man meine, alles gesehen und gemacht zu haben, werde es gefährlich, so Weinhold. „Ich sage immer, das ist wie bei Katzen. Katzen spielen, um später richtig jagen zu können. Und das machen wir jetzt auch. Bitte festhalten!“
Mit diesen Worten drückt der Vormann den Gashebel bis zum Anschlag nach vorn. Die „Nis Randers“ verlässt die betonnte Fahrrinne und nimmt Kurs auf den westlich gelegenen Inselhafen Prerow – der einzige Hafen auf dem langen Weg von Warnemünde nach Hiddensee und Rügen. Besonders bei Südwestwind kann der Rückweg gefährlich sein. Vor Darßer Ort liegt einer der größten Schiffsfriedhöfe der Ostsee. Der Station kommt auch deshalb eine entscheidende Bedeutung zu, weil sie sich in unmittelbarer Nähe zur Kadetrinne befindet, die mit über 60.000 Durchfahrten pro Jahr als einer der am stärksten befahrenen Seewege Europas gilt. Am Horizont hat sich eine dunkle Gewitterfront aufgebaut. Die von der Seite kommende Welle lässt den Kreuzer ordentlich rollen und die Gischt bis an die Scheiben des Deckshauses hochschlagen. Weinhold wendet sich an seinen Kollegen: „Guckst du mal bitte, ob die Möwenschleudern sich drehen?“ – und meint damit die großen, weißen Rotationsblätter der Radaranlage, einem essenziellen Werkzeug bei der Suche nach Vermissten auf See.
Im hinteren Bereich sitzt Maschinist Frank Kasüske an den Monitoren und behält die Maschine im Blick. „Die Maschine“, das sind in diesem Fall zwei je 2.000 PS starke MTU-Antriebsanlagen, welche die 120 Tonnen auf 24 Knoten Höchstgeschwindigkeit beschleunigen. Maschinen waren schon immer Kasüskes Ding. Auf der „Nis Randers“ hat er es mit der neusten Technik und viel Elektronik zu tun. Doch die wichtigsten Arbeitsschritte sind im Grunde die gleichen wie auf jedem anderen Schiff. Mehrmals am Tag checkt er Öl, Wasserstände, hält Ausschau nach Leckagen, achtet auf außergewöhnliche Geräusche. Der Computer sagt ihm, was laut Wartungsintervall als Nächstes ansteht. „Es gibt immer etwas zu tun. Langweilig wird es nie.“ Vor allem, weil zwar jeder seinen Aufgabenbereich hat, aber im Einsatz alles beherrschen muss. Die Ausbildung bei der DGzRS ist deshalb breit aufgestellt. „Als Kapitän hatte ich zwar schon mein Patent und eine medizinische Grundausbildung“, erzählt Frank Weinhold. „Aber als Seenotretter braucht es mehr. Ein Haufen Lehrgänge kamen da auf mich zu. Überleben und Sicherheit auf See, Englisch, Medizin, Rettungswagen fahren. Jeder von uns kann Tochterboot und Kreuzer steuern und medizinische Hilfe leisten.“
Auf die medizinische Erstversorgung an Bord wurde bei der neuen 28-Meter-Klasse ein besonderes Augenmerk gelegt. Anstatt in der Messe werden die Geretteten im Bordhospital versorgt, das wie ein Landrettungswagen ausgestattet ist. Auf dem Weg dorthin passiert man im Niedergang die „Galerie der Spender“: Auf 140 silbernen Aluminium-Tafeln wird hier den Spendern gedankt, die den Bau des Schiffes ermöglicht haben. Ab einer Spende von 5.000 Euro fährt der eigene Name bei jedem Einsatz mit. Entgegen der Tradition wurde der Name des neuen Kreuzers bereits vor der Taufe verkündet. Die folgende außergewöhnlich große Spendenbereitschaft erklärte DGzRS-Vorsitzer Gerhard Harder damit, dass der Name „Nis Randers“ wie kaum ein zweiter für die freiwillige, selbstlose Bereitschaft der Seenotretter zum oft gefahrenvollen Einsatz auf Nord- und Ostsee steht.
Nach gut anderthalbstündiger Fahrt nähert sich die „Nis Randers“ ihrem zukünftigen neuen Ausgangshafen. Der Inselhafen Prerow liegt am Kopf einer 700 Meter langen Seebrücke. Hier liegen die Seenotretter zentraler und sind schneller vor Ort als im 50 Kilometer weiter östlichen Barhöft, wo sie erst noch die enge Fahrrinne hinter sich bringen müssen. Bei Extremwetterlagen ist der Hafen allerdings vor allem mit Havaristen im Schlepp sehr schwierig anzulaufen. In diesen Fällen, zum Bunkern und für den Crew-Wechsel werden sie deshalb auch künftig ihren Ausweichliegeplatz in Barhöft behalten. Fragt man Frank Weinhold nach seinen Beweggründen, den Großteil seines Lebens der Seenotrettung zu widmen, liegt die Antwort seiner Ansicht nach auf der Hand: „Um anderen Menschen zu helfen.“