ReportRückenwind für Inklusion im Segelsport

Ursula Meer

 · 03.07.2025

Teamgeist statt Behinderung: Beim Segeln sind viele Einschränkungen vorübergehend vergessen.
Foto: Sven Jürgensen
Inklusion hat immer mehr Rückenwind im Segelsport. Jenseits der bei Para-Wettbewerben üblichen Trennung segeln Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen gemeinsam. Ein Gewinn für alle.

Auf der Kieler Woche misst sich die Crew der J/70 „Blindfisch“ auf Bundesliganiveau in ihrer Klasse. An Bord: Menschen mit und ohne Sehbehinderungen. Beim Helga Cup auf der Hamburger Binnenalster meldet eine zweistellige Zahl von Crews aus Frauen mit und ohne Handicap, andere sitzen beim Heinz Kettler Cup gemeinsam im Boot. Leuchttürme des inklusiven Segelsports, die zeigen, dass Segeln ein Sport für alle ist.

Hinter ihnen stecken der Norddeutsche Regatta Verein und der Verein „Wir sind Wir – Inclusion in Sailing e. V.“. Dessen zweiter Vorsitzender Sven Jürgensen ist so etwas wie der Wärter dieser Leuchtturmprojekte. Von Haus aus Langstreckenläufer, ist er mit Ausdauer dabei, wenn es um seine Herzensangelegenheit geht: das Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderungen auf dem Wasser – Inklusion.


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Segeln fördert Teamgeist, Mut und Selbstvertrauen – Eigenschaften, die beim inklusiven Segeln Berührungsängste und persönliche Hürden überwinden helfen und Menschen zusammenbringen. Gemeinsam lernen sie das Segeln oder nehmen an regulären und hochkarätigen Wettkämpfen teil. Ganz nebenbei fördern sie so auch das gesellschaftliche Miteinander. „Ich glaube, inklusives Segeln muss man wirklich sichtbar machen. Deswegen sind wir auch so laut. Damit die Leute sehen: Wow, das geht!“, sagt Jürgensen.

Und sie sehen es. Inklusive Regatten und sogar vier Weltmeisterschaften in Hamburg und Rostock werden in der Segelszene und den Medien wahrgenommen und geben dem inklusiven Segeln Vortrieb. Dabei haben deutschlandweit viele Vereine den Integrationsgedanken längst in die Tat umgesetzt; ganze 51 listet der Deutsche Segler-Verband (DSV) auf seiner Website auf.

Barrieren in Köpfen aufheben

Andere planen, hadern aber bisweilen mit der passenden Herangehensweise. „Die Anfragen sind in den letzten Jahren stetig gestiegen“, sagt Elke Paatz, Beauftragte für Inklusion im Segelsport beim DSV. Sie berät Vereine ebenso wie Menschen mit Beeinträchtigungen. „Eines der größten Hindernisse liegt meistens eher im Kopf: die Berührungsängste, die Frage ‚Können wir das schaffen?‘. In erster Linie fehlen Information und Aufklärung“, weiß sie aus Erfahrung und ergänzt: „Aber wenn man dahintersteht, lassen sich mit etwas Kreativität und handwerklichem Geschick viele Hindernisse abbauen.“

»Jemandem mit kognitiven Einschränkungen das Segelvokabular beizubringen, ist nicht so leicht. Wir vereinfachen alles. Wir ‚ziehen‘ oder ‚drücken‘ dann irgendwo dran.« Hans-Jürgen Leiß. Sein Sohn Phil-Mattis kam mit dem Downsyndrom zur Welt. Er lernte das Segeln im Opti und sitzt heute regelmäßig bei den Special Olympic World Games an der Pinne.

Die Barrieren in den Köpfen aufheben will auch die Stiftung „Turning Point“. Sie bringt insbesondere Jugendliche mit geistigen oder körperlichen Einschränkungen, aber auch gesellschaftlich oder sozial Benachteiligte aufs Wasser. Jens Kroker, einer der weltweit erfolgreichsten paralympischen Segler, leitet die Stiftung. Er und sein Team stehen sowohl inklusionsinteressierten Vereinen als auch Menschen mit Beeinträchtigungen, die segeln möchten, mit Rat und Tat zur Seite.

Fest auf dem Programm stehen dabei inklusive, jeweils dreitägige Segelkurse, treffend „Wendekurse“ genannt. Die haben gerade beim Essener Turn- und Fechtclub (ETUF) 64 junge Leute für das Segeln begeistert und die Inklusion fester im Verein verankert. Thomas Mai, zweiter Vorsitzender der ETUF-Segelriege, ist sich sicher: „Das ist nicht die letzte Veranstaltung dieser Art, die wir als Verein durchführen. Die Begeisterung und das gewonnene Selbstvertrauen der Teilnehmer nach ihren Erlebnissen auf dem Wasser lassen uns gar keine andere Wahl.“

„Eines der größten Hindernisse liegt meistens eher im Kopf: die Berührungsängste, die Frage ‚Können wir das schaffen?‘. Da fehlen in erster Linie Information und Aufklärung. Aber wenn man dahintersteht, lassen sich alle Dinge, die danach kommen, lösen. Man fängt in der Regel nicht groß an, sondern klein und nutzt die Dinge, die im Verein ohnehin vorhanden sind. Mit etwas Kreativität und handwerklichem Geschick lassen sich auf den Booten und auch an Land viele Hindernisse abbauen.“ Elke Paatz berät für den Deutschen Segler-Verband Vereine und Interessierte zur Inklusion im Segelsport.

Inklusion ist Ergänzung zu Para- oder Special-Sport

Wie Jens Kroker setzen sich mit Siegmund Mainka und Heiko Kröger weitere Paralympics-Goldgewinner teils schon seit Jahrzehnten für inklusives Segeln ein: Mainka beim Verein „Wir sind Wir“ und Kröger als Berater für Vereine, die inklusives Segeln in das Clubleben integrieren wollen. Kröger segelt in der 2.4mR-Klasse sowohl Para-Wettfahrten als auch solche für „Gesunde“ und sammelte dabei eine beachtliche Anzahl an Medaillen. Damit hat er Zeichen gesetzt. „Es war fast unbekannt, dass Menschen mit Behinderungen den Segelsport ausüben und sogar gegen Segler ohne Behinderungen bei Regatten antreten können“, stellt er in der Rückschau fest.

Was heute „Inklusion“ heißt, begreift sich dabei als Ergänzung, nicht als Ersatz für den Para- oder Special-Sport. Denn die Art des Segelns muss auch zu den Menschen passen. Der Wilhelmshavener Phil-Mattis Leiß etwa ist überzeugter Special-Olympics-Segler. Er kam mit dem Downsyndrom zur Welt und segelt regelmäßig um die Medaillen bei den Wettkämpfen für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung.

„Das hat durchaus Vorteile “, erzählt sein Vater Hans-Jürgen, denn bei den Special Olympics würden die Sportler individuell eingeordnet, den unterschiedlichen Graden geistiger Beeinträchtigung am Tag des Wettkampfs entsprechend. „Dadurch, dass sie verschiedene Stufen fahren, können sie ganz andere Erfolgserlebnisse haben“, hebt er hervor.

Facettenreiche Inklusion als Energiebombe

Menschen können auf viele Arten beeinträchtigt sein: im sozialen oder gesellschaftlichen Status, in der Sinneswahrnehmung, durch Krankheit oder in den körperlichen oder kognitiven Fähigkeiten. Entsprechend facettenreich ist die Inklusion; sie lässt sich nicht mit einer festgelegten Liste abarbeiten. Sie entsteht – im Gegenteil – oft aus der individuellen Situation.

„Inklusivsegeln ist eine der besten Sachen, die ich bisher gemacht habe. Es ermöglicht allen Leuten zu segeln – nicht nur Menschen mit Beeinträchtigungen. Wir inkludieren auch die Nichtbehinderten bei uns. Wenn wir nichtbehinderte Familienangehörige haben, dann können wir zu Papa, Tochter, Frau, Bruder sagen: Komm, wir segeln.“ Siegmund Mainka, Gold- und Silbermedaillengewinner im Dreier-Kielboot bei den Paralympischen Spielen.

So auch bei Christina, die beim Helga Cup mit den „MammaSEAtas“ in einer Crew von Frauen mit Brustkrebs segelt. Sie hat die Behandlung gerade hinter sich und trainiert nun auf einer J/70, gemeinsam mit anderen Frauen, die teils noch mitten in Chemo oder Bestrahlung stecken. Die Krankheit hat ihren Ehrgeiz verschoben: „Es ist nicht wichtig, erfolgreich an der Regatta mitzusegeln. Es ist wichtig, die Energie aufzusaugen, die dort herrscht, sich lebendig zu fühlen, am Leben teilzuhaben!“

Für manche Gruppen erfordern inklusive Segelangebote nicht viel mehr als das Engagement der Vereinsmitglieder und vielleicht ein paar Spenden für Fahrtkosten und Verpflegung. Das Segeln mit geistig behinderten Menschen kann schon wesentlich mehr Betreuungsaufwand mit sich bringen. „Jemandem mit kognitiven Einschränkungen das Segelvokabular beizubringen, ist nicht so leicht“, sagt etwa Hans-Jürgen Leiß. „Wir vereinfachen alles. Wir ‚ziehen‘ oder ‚drücken‘ beispielsweise irgendwo dran.“

Jedes Boot kann inklusiv gesegelt werden

Immer sind Einfühlungsvermögen und das Wissen um den richtigen Umgang mit der Beeinträchtigung gefragt. „Man sollte deswegen aber keine Berührungsängste haben“, empfiehlt Elke Paatz. Einmal ins Fettnäpfchen zu treten, mache nichts aus, „solange man miteinander spricht und Missverständnisse ausräumt“.

„Es bedeutet mir ganz viel, wie wir uns gegenseitig ermutigen und Anerkennung schenken! Es ist nicht wichtig, erfolgreich bei der Regatta mitzusegeln. Es ist wichtig, die Energie aufzusaugen, die dort herrscht, sich lebendig zu fühlen, am Leben teilzuhaben und dankbar jeden Moment in sich aufzusaugen!“ Christina segelt gemeinsam mit vier anderen von Brustkrebs betroffenen Frauen eine J/70 beim Helga Cup.

Wenn Menschen mit körperlichen Handicaps segeln wollen, ist eher Materialeinsatz gefragt. Mancher Verein scheut die Kosten für ein behindertentaugliches Boot und ein barrierefreies Clubgelände. Jedoch: Jedes Boot kann inklusiv gesegelt werden, wenn auch nicht jedes Boot für jede Art von Einschränkungen geeignet ist.

Heiko Kröger räumt Bedenken bezüglich Kosten und Aufwand aus. Von Geburt an fehlt ihm der linke Unterarm; im 2.4mR kein Problem. Neuerdings aber segelt er auch eine anspruchsvollere OK-Jolle. „Ich will ein Zeichen setzen, dass es nicht unbedingt nötig ist, spezielle Boote anzuschaffen“, erklärt er, „denn damit nimmt man den Vereinen womöglich das Kapital für die restliche Jugendarbeit.“ Inklusion 2.0 nennt er sein Plädoyer dafür, beim Aufwand einen Gang zurückzuschalten und einfach erst mal zu beginnen.

Kröger erklärt den Vereinen, was sie brauchen – vor allem aber, was sie nicht brauchen. „Anstelle eines aufwendigen Umbaus des Clubgeländes kann man schon mit einer Motorradrampe eine Barrierefreiheit schaffen“, empfiehlt er. Mit einem fest eingebauten Klotz und Auftriebskörpern ließe sich ein Zugvogel behindertengerecht umrüsten.

So kann trotz einer anfänglichen Scheu vor diffusen Hürden mit wenig Aufwand ein erfolgreiches Projekt entstehen – vorausgesetzt, die Menschen finden zueinander. „Menschen mit Beeinträchtigungen wissen oft gar nicht, dass sie segeln könnten“, erzählt Elke Paatz. Alljährlich ist der DSV daher auch auf einer Rehabilitationsmesse vertreten. Dort stehen dann staunende Menschen vor dem mitgebrachten Boot und erfahren, dass sie trotz einer Behinderung segeln könnten. Und wie sie das können: Adaptionen an Booten können viele Beeinträchtigungen so weit ausgleichen, dass sie an Bord keine Rolle spielen. Manches, was im Alltag als Einschränkung erscheint, kann an Bord auch vorteilhaft sein. Etwa wenn die Sinne eines Seglers mit minimaler Sehfähigkeit derart geschärft sind, dass er jede kleine Windänderung spürt.

„Ich glaube, inklusives Segeln muss man wirklich sichtbar machen. Deswegen sind wir auch so laut. Damit Leute sehen: Wow, das geht! Vielleicht bleiben von zehn, die einen Kurs machen oder Schnuppersegeln, nur zwei oder drei dabei. Aber das ist ja auch im normalen Sport so.“ Sven Jürgensen, Initiator des Helga Cup und Stimme des Vereins „Wir sind Wir – Inclusion in Sailing e. V.“

Inklusives Segeln an Einrichtungen gekoppelt

Am einfachsten ist der Aufbau eines inklusiven Angebots, wenn die Inklusion ein Gesicht hat: „Wenn ein Verein weiß, wir machen das für unseren Kollegen, der eine Einschränkung hat, dann fällt es leichter. Oder wenn jemand direkt vor der Tür steht und sagt: ‚Ich möchte so gern segeln.‘“, weiß Elke Paatz aus Erfahrung.

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Heiko Kröger geht noch einen Schritt weiter und rät: „Versucht, das Thema Inklusion auch in Richtung der Älteren zu denken, mit den Jugendlichen zusammen.“ Denn barrierefreie Anlagen oder adaptierte Boote tragen dazu bei, dass die Mitglieder länger segeln.

Inklusive Angebote können aber auch mithilfe anderer Einrichtungen initiiert werden, etwa mit der Behindertenhilfe, Behindertenschulen, -werkstätten oder -wohnheimen. Das haben auch Sven Jürgensen und seine Hamburger Mitstreiter getan. So segeln neuerdings einmal wöchentlich auch Kinder mit schwersten Behinderungen aus einer nahe gelegenen Schule auf der Binnenalster.

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Das brachte zunächst einigen Erklärungsbedarf mit sich – und blieb auch nicht gänzlich unwidersprochen. „Manche Eltern hatten Angst, dass den Kindern auf dem Wasser etwas passieren könne“, erzählt Sven Jürgensen. Die Lehrerin aber überredete sie. „Und eines dieser Mädchen“, so Jürgensen weiter, „sagte mitten auf dem Wasser im Segelkurs zu unserem Trainer Kalle: ‚Das ist das Schönste, was ich jemals in meinem Leben gemacht habe!‘“

Rat und Hilfe für den Start

  • Auf den Webseiten des Deutschen Segler-Verbandes gibt es viele Erfahrungsberichte und eine Liste aller DSV-Vereine, die das inklusive Segeln anbieten. Persönliche Beratung durch die Inklusionsbeauftragte. Mehr Informationen: dsv.org
  • Heiko Kröger berät Vereine und hat das Handbuch „Adaptives Segeln – Inklusion im und mit dem Segelsport“ verfasst, das online gratis erhältlich ist. Mehr Informationen: heiko-kroeger.de
  • Die Bente 24 „Henk de Mol“ ist rollstuhlgerecht. Mitsegelgelegenheiten gibt es etwa bei der Sail Bremerhaven und der Kieler Woche.
  • Mit dem „Index für Inklusion im und durch Sport“ stellt der Deutsche Behindertensportverband gratis eine sehr detaillierte Handreichung zum gesamten Thema Inklusion im Sport bereit. Mehr Informationen: dbs-npc.de
  • Die Stiftung Turning Point fördert Vereine dabei, inklusives Segeln anzubieten und kommt zu Projekttagen, um sie dabei zu beraten. Mehr Informationen: turningpoint-stiftung.com
  • Der Norddeutsche Regatta Verein bietet Menschen mit Beeinträchtigungen Gelegenheit zum Segeln auf der Hamburger Binnenalster. Mehr Informationen: nrv.de

Förderungen für inklusives Segeln

Von der lokalen Ebene bis zu Bundesmitteln gibt es viele Fördermöglichkeiten. Nicht zu unterschätzen sind dabei die emotionalen Bindungen und die Sichtbarkeit, die bei einer Förderung vor Ort entsteht! Sie können die oft aufwendige Antragstellung und Berichterstattung bei größeren Institutionen wie Ministerien oder Landesämtern oft sinnvoll ergänzen, bestenfalls sogar ersetzen. Mögliche Förderer:

  • Spender und Sponsoren aus dem Vereinsumfeld
  • Serviceclubs wie Rotarier oder Lions
  • örtliche Sparkassen und ihre Stiftungen
  • Aktion Mensch: Sie hat ein eigenes Förderprogramm. Auf ihrer Website gibt es auch eine Liste weiterer Förderer des inklusiven Sports. Mehr Informationen: aktion-mensch.de
  • Stiftungen: Der Bundesverband Deutscher Stiftungen stellt auf seiner Website Datenbanken mit mehr als 12.700 Stiftungen, Förderprofilen und Links bereit. Tipp: Bei der Suche nach Fördermitteln außer „Inklusion“ auch andere Begriffe verwenden, beispielsweise „Kinder- und Jugendhilfe“, „Behinderte“, „Sport“. Mehr Informationen: stiftungssuche.de
  • Landes- und Bundesmittel zur Sport-, Behinderten-oder auch der Kinder- und Jugendförderung.

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