YACHT-Redaktion
· 19.05.2025
Text von Joscha Seehausen
“Guck aufs Land, das hilft!“, ist einer der ersten Sätze, an den ich mich erinnere. Ich saß mit meinem Vater auf einem 470er, und die grauen Wellen vor der bretonischen Küste schüttelten uns kräftig durch. Ich war vier oder fünf Jahre alt und bereute meine Entscheidung, trotz Vorwarnung auf das Boot geklettert zu sein. Mein kleiner Magen war mit dem Auf und Ab der in die Jahre gekommenen Olympiajolle überfordert.
Neben uns kämpften sich eine Handvoll weiterer Jollen durch die Wellen. Darin saßen jugendliche Musikschülerinnen und Musikschüler aus dem Rheinland. Allesamt eingepackt in gelbe Regenjacken und orangefarbene Rettungswesten, stand auch ihnen die Angst vor dem unerschöpflichen Enthusiasmus der Gruppenleiter blassgrün im Gesicht. Einer davon war mein Vater, von Beruf Musikschullehrer und für die Betreuung der Jugendlichen zuständig. Morgens wurde musiziert, nachmittags ging es für Orchester, Big Band und Co. aufs Wasser. Bei jedem Wetter! Abends wärmte man sich bei Bier und Limo am großen Kaminfeuer wieder auf, übte Knoten und knabberte Chips.
Ort des Geschehens war das „Centre Franco Allemand“, eine Einrichtung ähnlich einer Jugendherberge, mit eigenen Jollen und Kanus. Der Rhein-Erft-Kreis hatte dieses Haus im Süden der Bretagne errichtet, um Schulklassen, Vereinen und eben auch Musikschulen einen lebendigen Austausch zwischen deutscher und französischer Kultur zu ermöglichen. Wir brachten Beethoven und Bach mit, die Franzosen schenkten uns die Liebe zur See.
Viele Jahre verbrachte ich auf diese Weise die Oster- und Herbstferien. Bis eines Tages eine hellblaue Lis-Jolle vor unserer Haustür stand. Mein Großonkel Klaus wollte das arg betagte GFK-Boot endlich loswerden – und bereitete meinem Vater damit eine große Freude.
Das Haus meiner Eltern steht in Leverkusen nicht weit weg vom Rheinufer, und so lernten wir in den darauffolgenden Jahren auf der Lis die Tücken von Rheinströmung, Berufsschifffahrt und unzuverlässigen Außenbordern kennen. Mein Bruder und ich konnten zum Mittagessen kurzerhand nach Hause gehen. Die anderen Kinder hingegen, die im Hafen herumtollten, verschwanden mittags an Bord von elterlichen Schärenkreuzern und modernen GFK-Yachten. Manchmal nahmen sie uns mit.
Die höhlenähnlichen Kajüten übten auf mich eine große Faszination aus. Dort gab es Hotdogs vom Spirituskocher. Zu Hause gab’s Gemüsebratlinge und Salat. In den gemütlichen Booten roch es nach Abenteuer, im Kinderzimmer nach Hausaufgaben. In den Bug unserer Jolle konnte man zwar auch reinklettern, wurde aber mit schlechter Luft und juckender Haut bestraft, die einem die modrigen Auftriebskörper aus Schaumstoff verschafften. Gemütlichkeit? Fehlanzeige. Eine eigene kleine Yacht, in der man Comics lesen, Kassetten hören und eben Hotdogs essen kann, das wünschte ich mir.
»Wir trugen Bach und Beethoven in die Bretagne, und die Franzosen schenkten uns die Liebe zur See.«
Der 34-jährige Kölner Joscha Seehausen ist Film- und TV-Regisseur und -Autor, unter anderem für die ZDF-Satiresendung „Heute Show“. Mit seiner Varianta 65, die er in Eigenregie refittet hat, erkundet er Binnenreviere im In- und Ausland. Mit dabei sind neben seiner Partnerin auch immer wieder mal die Eltern und Tochter. Über die Segeltörns berichtet er regelmäßig auf seinem YouTube-Kanal.
Die Kindheit und damit auch die Freude am Segeln fand ein abruptes Ende, als sich das Album „Nevermind“ der Grunge-Band „Nirvana“ seinen Weg auch in mein Kinderzimmer bahnte. Alles ordinäre wurde fortan abgelehnt, statt Schot und Holzpaddel hielt ich nun einen E-Bass und einen abgebrochenen Mercedes-Stern in den Händen. Die Wochenenden verbrachte ich nicht mehr auf dem Wasser, sondern im Keller von Schulfreund Simon. Der hatte von seinem Vater ein altes Schlagzeug übernommen, und wir beschlossen, fortan eine Rockband zu sein.
20 Jahre später erhalte ich von eben diesem Simon eine Nachricht: „Segelschein für nur 400 Euro inklusive allem. Eine Woche Holland. Bock?“ Ich antworte mit „Ja, Bock!“ Auf einem westfriesischen Tümpel lernen wir den Umgang mit den reviertypischen Polyvalken, streiten uns darüber, ob ich mehr über das Segeln weiß oder der Segellehrer, probieren uns durch diverse Sorten Whiskey und bestehen beide nach feuchtfröhlicher Woche die Prüfungen für den SBF Binnen und See.
Schon kurze Zeit später keimt in mir ein alter Wunsch auf: Ich will segeln, wann immer es mir passt, ich will Hotdogs essen in einer gemütlichen Kajüte, ich will ein schwimmendes Ferienhaus für die schönsten Tage des Sommers. Kurzum: Ich will eine eigene Yacht!
Ab sofort verbringe ich die Abende im Internet auf Gebrauchtboot-Portalen. Schnell zeichnet sich ab: Entweder ich investiere viel Geld für ein halbwegs nettes Boot oder ich kaufe ein Wrack und stürze mich in ein gigantisches Refit-Projekt. Für Ersteres fehlen mir die Rücklagen, für Letzteres mangelt es eigentlich an Zeit und Know-how. Ich entscheide mich tapfer für die zweite Variante.
Nach einigen Enttäuschungen stolpere ich auf YouTube über ein Video der YACHT: „Günstige Gebrauchte – sechs Kleinkreuzer im Vergleich.“ Darin wird ein Boot besonders erwähnt: die Varianta 65 von Dehler. Sie ist das günstigste in diesem Test, wird von der Redaktion für ihre guten Segeleigenschaften gelobt, zudem ist es eine sehr leichte Konstruktion. Mit einem Mittelklassewagen trailerbar. Für mich als Kölner, weit entfernt von jeder Küste und schönen Seen, ein relevanter Aspekt. Auch weil ich nur einen Mini fahre, Anhängelast gefühlt 300 Gramm.
Ich bin schlagartig verliebt in das alte Van-de-Stadt-Design und begebe mich auf die Suche. Innerhalb kürzester Zeit klappere ich diverse Varianta-Verkäufer ab, in der Eifel, im Ruhrgebiet und im Rheinland. Ich lerne dabei viel über das Boot, seine konstruktiven Vor- und Nachteile, mögliche Modifikationen aber auch typische Schwachstellen.
Schlussendlich werde ich genau dort fündig, wo die Varianta früher gebaut wurde: im Sauerland. Unweit der einstigen Dehler-Werft entdecke ich am Möhnesee eine weiße 65er aus dem Jahr 1973. Der Trailer scheint in gutem Zustand, die Segel auch, es ist umfangreiches Zubehör vorhanden, sogar ein Elektromotor mit Batterie. Doch im Boot steht Wasser. Auch der Kiel macht nicht den besten Eindruck. Übersäht von rostigen Pocken, wirkt er schlechter gepflegt als die Unterwasserschiffe der anderen Variantas. Am Bug zeugt eine große Macke im Gelcoat von einem brutalen Blind Date von Rumpf und Steg. Wurde mit dem Boot gut umgegangen? Kaufe ich mir einen Haufen Arbeit? Ich bin unsicher.
Der Eigner wünscht sich für den Kleinkreuzer 4.000 Euro. Schlussendlich einigen wir uns auf 2.200 Euro. Auch, weil ich von einem Experten dazu ermutigt werde. Das Boot steht am Möhnesee zufälligerweise vor den Hallen der Henze-Werft. Ich greife zum Telefon und bitte Sven Henze um eine Einschätzung der weißen Varianta auf seinem Parkplatz. Und auch um einen Kostenvoranschlag für die Aufarbeitung des Unterwasserschiffs und die Beseitigung des Schadens am Bug. Der Werftchef wirft nach einem Blick auf den Rumpf 1.000 Euro in den Raum. Verbunden mit dem Hinweis: „Da kannste nix falsch machen. Wenn ma wat is, kannste alles selber reparieren.“
Das beruhigt. Einziges Manko: In diesem Jahr komme ich mit meiner Varianta nicht mehr aufs Wasser. Es ist bereits Oktober 2023, die Saison so gut wie vorbei. Das Boot bleibt zur Überholung in der Henze-Werft. Zwei Wochen später kommt aber bereits der Anruf: „Boot is fertig, kannste abholen!“
Zwischenzeitlich habe ich mich um einen Winterstellplatz gekümmert. Ich bin nun Mitglied im Düsseldorfer Segelclub Unterbacher See und darf daher mein Boot auf der Vereinswiese abstellen. Nach einigen Ausflügen in den örtlichen Baumarkt bin ich bereit für den Refit. Als erstes nehme ich mir die Gräting vor. Die hatte monatelang in einer Wasserlache im unabgedeckten Cockpit verbracht und droht nun, zu zerbrechen. Kurz überlege ich, diesen vergammelten Haufen Tropenholz auf den Schrott zu werfen, doch nach einer kurzen Google-Suche und einem Schock über die Kosten für eine Neuanfertigung entscheide ich, dem Rost einen Rettungsversuch zu gönnen. Ich entferne mit einem Dremel alle vermoderten Elemente, leime die gesunden Teile wieder zusammen und fülle fehlende Stellen mit Epoxidharz aus. Ein paar Spaxschrauben fixieren den äußeren Rahmen.
Zum Schluss trage ich sechs Schichten Lack auf. Das Ergebnis kann sich dank akribischen Zwischenschleifens mit feinem Korn sehen lassen. Abgesehen von der ein oder anderen Lacknase gibt es nichts zu Beanstanden. Ein erstes Erfolgserlebnis, das mir Lust auf mehr macht.
Als zweites widme ich meine Aufmerksamkeit der Motoraufhängung am Heckspiegel. Auch hier ist das Holz größtenteils verrottet. Indem ich den Block mit einer Kreissäge an allen Seiten ein wenig verjünge, kann ich das gesunde Holz retten. Erneut fülle ich Löcher mit Epoxidharz und trage innerhalb einer Woche viele dünne Lackschichten auf. Den Rost an den Metall-Elementen der Motoraufhängung werde ich mit 400er Schleifpapier und Politur unkompliziert los. So weit, so gut. Nun steht ein komplexeres Werk an.
Bei einigen Variantas hatte ich unter dem Cockpitboden große Holzkisten gesehen. Der sonst kaum nutzbare Stauraum wird damit optimal zugänglich gemacht. Jedoch ist so eine Holzkiste mindestens 120 Zentimeter lang und bedarf eines Schienensystems, damit man sie wie eine Schublade unter dem Cockpit hervorzaubern kann. Ich überlege mir eine einfache Konstruktion aus günstigen Transportrollen und lasse mir die Einzelteile für den Bau der Holzkiste im Baumarkt zusägen. Auf das schnelle Zusammenschrauben folgt einmal mehr die mühselige Lackierarbeit.
Beim Versuch, die Kiste im Boot einzubauen, erlebe ich eine herbe Enttäuschung. Sie passt nicht. Ich habe beim Maßnehmen übersehen, dass sich das Boot zum Heck hin verjüngt und der Stauraum unter dem Cockpit nach achtern hin flacher wird. Ausmessen lässt sich dieser Bereich jedoch nicht, die betreffenden Stellen tief im Rumpf sind für die Hände und Arme eines Erwachsenen unerreichbar.
Nach Augenmaß verkleinere ich also die Holzbox. Am Ende wird aus meinem klar lackierten Heimwerkerstolz ein schiefer Holz-Frankenstein. Aber: Die Kiste passt nach der Not-OP ins Boot. Und sofort dürfen Werkzeuge, Segelkleidung, Töpfe, Pfannen und eine Flasche Obstler darin einziehen.
Nun sind die Polsterbezüge dran. Ursprünglich wurden die Variantas von Dehler mit Kunstlederbezügen ausgeliefert. Im Sommer bestimmt kein angenehmes Gefühl auf der Haut. Zum Glück hatte der Voreigner die Polster mit einem Baumwollstoff neu beziehen lassen. Jedoch trifft die Farbauswahl mit einer Kombination aus lila und grün nicht ganz meinen Geschmack. Im Drogeriemarkt kaufe ich Textilfarbe für die Waschmaschine. Ganz klassisch: Marineblau. Der dunkle Farbton sollte selbst das Lila überdecken können. Und tatsächlich kommen beim zweiten Waschgang mit Farbpulver sehr ansehnliche Bezüge zum Vorschein. Kostenpunkt: 20 Euro.
Danach soll es dem Gelcoat an den Kragen gehen. An einer Stelle hat ein Knopf der Persenning sein Unwesen getrieben und ein rundes Loch geschaffen, an anderen Stellen finde ich Kratzer und Risse. Ich informiere mich über YACHT-TV über die richtige Vorgehensweise und staune über die Fähigkeiten von Refit-Fachmann „Dr. Boat“. Doch: Gelcoat anmischen und unter Luftabschluss aushärten zu lassen traue ich mir nicht zu. Eine einfach zu nutzende Gelcoat-Reparaturspachtelmasse scheint mir da praktikabler zu sein.
Kundenbewertungen bestätigen die einfache Anwendung, jedoch beschweren sich einige Käufer über die nicht ganz weiße Farbe. Da mein alter Rumpf eher beige als weiß ist, schlage ich zu. Wenige Tage später bestätigt sich meine Erwartung: Die Anwendung ist idiotensicher und geht schnell von der Hand. Die Farbe passt halbwegs, und nach schnellem Polieren ist das Ergebnis durchaus zufriedenstellend.
Zeit, sich dem Holz anzunehmen. Die Handläufe an Deck sind locker, die Schrauben scheinen nicht mehr zu greifen. Ich nehme sie ab und fülle die Löcher im GFK mit Epoxidharz aus. Zu Hause schleife ich die Handläufe ab und lackiere mit hochwertigem Zweikomponentenlack. Nach einigen Tagen befestige ich die Handläufe wieder am Deck. Und siehe da: Im ausgehärteten Epoxidharz halten die Schrauben wieder ganz wunderbar.
»Die selbst gebaute und akribisch mit vielen Lackschichten überzogene Holzbox sieht tadellos aus. Nur leider, sie passt nicht an den vorgesehenen Platz.«
Beim zweiteiligen Niedergangsschott gehe ich ähnlich vor. Ich schleife den alten, brüchigen Lack ab und lackiere die Holzbretter mit vielen Schichten neu. Das Ergebnis ist im Gegensatz zu den anfänglichen Lackierversuchen mit günstigem Baumarkt-Bootslack sofort überzeugend.
Schließlich ist der Innenraum an der Reihe. Über die letzten fünf Jahrzehnte scheint jeder Voreigner eigene Einbauten installiert und wieder entfernt zu haben. An vielen Stellen finden sich Bohrlöcher im Holz und im GFK. Mit einem Wachs-Set zur Ausbesserung von Kratzern in Parkettböden mache ich mich ans Werk. Mit Wachsblöcken in verschiedenen Farben – insbesondere in verschiedenen Braun-, Grau- und Beigetönen – sowie einem kleinen Heizstab kann man sich die benötigte Farbe perfekt anmischen.
Danach folgt die Innenraumbeleuchtung, die den Geist aufgegeben hat. Das Ganze neu zu verkabeln, lasse ich nach einem Blick hinters Sicherungspaneel lieber sein. Stattdessen kaufe ich vier LED-Akkuleuchten. Die lassen sich dimmen, sind dank Magnet abnehmbar und machen mit ihrer Holzoptik durchaus einen schiffigen Eindruck.
Die Wochen ziehen ins Land. Zeit, dem Boot einen Namen zu geben. Soll er lustig sein? Oder doch eher tiefsinnig? Meine Patentante kommt mir in den Sinn. Als Gutenachtgeschichten hatte sie meinem Bruder und mir von ihren großen Abenteuerreisen erzählt: wochenlange Kanufahrten durch Kanada und Alaska. Von Lagerfeuern in Wäldern, weit entfernt von der Zivilisation, samt angsteinflößenden Begegnungen mit Grizzlybären und schrägen Einsiedlern. Niemand steht für mich so sehr für Abenteuerlust und Entdeckerfreude wie Tante Ella. Ein perfekter Name für mein Boot.
Simon meldet sich mal wieder: „Lust auf ein Bier?“ – „Klar!“ Wir treffen uns in einem Kölner Brauhaus. Mit dabei zwei alte Freunde. Simon wird bald zum ersten mal Vater. Wir stoßen darauf an. Allerdings würde er gerne noch mal so richtig einen draufmachen. Am liebsten in Hamburg. So wie früher! Der Vorschlag trifft auf breite Zustimmung. Auch ich werde bald zum ersten mal Vater. Ein paar Monate nach Simon. Ich spreche eine Idee aus, die ich sofort bereue: „Wir können ja mit meinem Boot nach Hamburg. Es gibt vier Schlafplätze, und besser als von der Elbe aus kann man die Stadt nicht bewundern.“
Die nicht mehr zählbaren Biere lösen einen Sturm der Begeisterung aus, und schon ist die Sache abgemacht: Mit dem Boot auf dem Anhänger nach Hamburg, ein bisschen segeln, noch mal richtig feiern und wieder zurück. Doch ist das überhaupt realistisch? Das Boot ist noch gar nicht fertig. Egal, die Kalender sind gezückt, wir einigen uns auf einen Termin im März. „Da können wir alle. Super“, ruft Simon. „Und das ist ja auch schon in sechs Wochen – Prost!“
Erst am nächsten Morgen werden mir die Konsequenzen klar. Ich brauche für die Elbe ein Kennzeichen, ergo einen internationalen Bootsschein. Schlimmer noch, ich habe meine Varianta noch nie gesegelt! Ob der alte Sechs-PS-Außenborder reicht, um uns gegen den Strom zu schieben, weiß ich nicht. Und selbst den Mast habe ich noch nie gestellt, ich kenne den Zustand des Riggs nicht und weiß nicht mal, wie man auf der Varianta die Segel setzt, geschweige denn trimmt.
Ich schalte meinen Vater ein. Der freut sich, helfen zu dürfen. Gemeinsam mit ihm proben meine Kneipen-Crew und ich auf dem Trockenen, wie der Mast gestellt und gelegt wird. Wir setzen sogar testweise die Segel und versuchen, uns über die Funktionen der einzelnen Beschläge, Klemmen und Blöcke klar zu werden. Nach drei Stunden haben wir das Gefühl, alles durchschaut zu haben.
Während der verbleibenden Tage bis zur Abfahrt erledige ich letzte Arbeiten am Boot. Den splitternden Holzfurnierboden in der Kajüte reiße ich raus. Er wird ersetzt durch ein Teakholz-Imitat aus EVA-Schaum. Das sieht gut aus, aber schon beim Aufkleben des weichen Materials wird klar, die schwammähnliche Oberfläche zieht Dreck magisch an. Trotzdem entscheide ich mich dazu, die Deckel der beiden Backskisten ebenfalls mit EVA-Schaum zu bekleben. Mein schwimmender Joghurtbecher wirkt sofort schiffiger. Wie sich das Material bei Nässe oder auch intensiver UV-Strahlung behauptet, wird sich zeigen. Im schlimmsten Fall beklebe ich die kleinen Flächen jedes Jahr aufs Neue. Kostenpunkt für einen halben Quadratmeter: verschmerzbare 35 Euro.
In der Nische, die eigentlich fürs Chemieklo vorgesehen ist, installiere ich eine leistungsstarke Powerbank mit eingebautem Wechselrichter für 230 Volt. Daran schließe ich eine Kaffeemaschine an. Wer fleißig bastelt, braucht Koffein. An Deck finden zwei flexible Solarpaneele Platz mit jeweils 100 Watt Leistung. Durch das Ankerpiek ziehe ich die Verkabelung in den Innenraum. Das erübrigt eine Bohrung durchs Deck. Im Innenraum befestige ich schließlich noch zwei selbst geschreinerte Regale für Seekarten, Fernglas und Co. Dann stelle ich nach einem Blick auf meine To-do-Liste fest: Alles ist erledigt!
Ich bin sehr zufrieden mit meinem Werk. Aus dem alten Kahn ist ein richtig gemütliches Boot geworden. Per Post kommt einige Tage später der Bootsschein vom ADAC, und damit steht nun auch das für die Elbe benötigte Kennzeichen fest. Ich klebe die Lettern auf den Bug und komme dabei auf eine, wie sich später herausstellt, ziemlich blöde Idee: Mit einer Lochsäge bohre ich ein Loch in den Cockpitboden. Da hinein setze ich einen Tankeinfüllstutzen aus Edelstahl. Auf diese Weise kann man im Cockpit einen Tisch aufbauen, das Tischbein steckt man einfach in den Einfüllstutzen. Wenn man den Tisch nicht braucht, lässt sich der Stutzen mit dem Deckel verschließen. So dringt kein Wasser ins Boot. Mit Sikaflex und Butylband dichte ich das Loch im Boden ab. Die Halterung wackelt ein wenig. Aber das wird schon, denke ich mir. Spätestens das Sikaflex wird alles fixieren.
Am Morgen des 16. März 2024 brechen wir mit dem Boot auf dem Trailer in Richtung Hamburg auf. Die Hansestadt begrüßt uns nach fünf Stunden Autofahrt mit frühlingshaften Temperaturen und strahlendem Sonnenschein. Ideale Bedingungen für eine Jungfernfahrt. In Finkenwerder im Rüschkanal, westlich der Innenstadt, lassen wir das 21 Fuß kurze Boot über eine Sliprampe zu Wasser. Kurz darauf geht es hinaus auf die Elbe.
Seite an Seite mit großen Containerschiffen ist uns anfänglich noch ein wenig mulmig zumute. Aber: „Ella“ schwimmt, der alte Außenborder läuft, und die Elbe entpuppt sich als viel weniger bedrohlich als befürchtet. Wir segeln mit achterlichem Wind, die Flut schiebt zusätzlich mit. Der Motor verstummt, und nur unter der ausgerollten Genua gleiten wir dahin.
»Tief in mir spüre ich den kleinen Jungen, der ich einmal war, und dessen Traum sich soeben erfüllt hat. Einzig die Hotdogs fehlen noch.«
Im warmen Licht des Sonnenuntergangs passieren wir die Hamburger Wahrzeichen: den Michel, den Fischmarkt, die riesigen Schwimmdocks, die Landungsbrücken. Kurz darauf steuern wir in den City Sporthafen. Wir bekommen einen Liegeplatz zugewiesen und blicken später durch die zerkratzen Fenster der 50 Jahre alten Variante auf die noch recht junge Elbphilharmonie. Ganz tief in mir spüre ich den kleinen Jungen, der ich einmal war, und dass ich seinen Traum erfüllt habe. Das ist mein Boot. Wir haben gerade ein richtiges Abenteuer erlebt. Wir sitzen in einer warmen, gemütlichen Kajüte. Einzig die Hotdogs fehlen. Egal, ich bin überglücklich.
Kleiner Wermutstropfen am nächsten Tag: Das doppelt abgedichtete Loch im Cockpitboden ist nicht dicht. Mehrere Liter Wasser bahnen sich ihren Weg ins Innere und sammeln sich in meiner selbst konstruierten Frankenstein-Kiste. Ausgerechnet dort, am vermeintlich trockensten Ort, lag mein extrem teures Laptop. Es überlebt die Reise nach Hamburg nicht. Später stellt ein Mitarbeiter im Computerladen nach dem Aufschrauben des Gehäuses erstaunt fest, dass er derart extrem korrodierte Platinen nie zuvor gesehen habe.
Nach der gelungenen Hamburg Tour setze ich das Refit-Projekt fort. Zur Saison 2025 gönne ich meiner Varianta eine neue Genua 1 sowie ein Großsegel. Die Kojen werden mit neuen Matratzen ausgestattet. Die 50 Jahre alten Vorgänger waren mittlerweile steinhart geworden. Nun sitzt, schläft und lümmelt es sich in meiner Varianta deutlich gemütlicher. Zudem plärren jetzt aus dem noch originalen Sony-Radio von 1973, für das Dehler seinerzeit eigens eine spezielle Befestigung in der Varianta verbaut hatte, die Stimmen der drei Fragezeichen. Was hätte ich als Kind dafür gegeben, meine Wochenenden auf diesem Boot zu verbringen!
Apropos Kindheit: Sowohl Kumpel Simon als auch ich sind Väter gesunder Kinder geworden. Meine fünf Monate nach der Hamburg-Tour geborene Tochter heißt genauso wie die Varianta und wie meine alte, einst so abenteuerlustige Patentante: Ella.