ProjektTobias Michelsen bringt mit “Sail United” Menschen mit Behinderung aufs Wasser

YACHT-Redaktion

 · 23.09.2025

In Großenbrode holt Tobias Michelsen Menschen mit Behinderung  aufs Wasser.
Foto: Christian Irrgang
In Großenbrode holt Tobias Michelsen Menschen mit Behinderung aufs Wasser. Obwohl er selbst an schwerer Krankheit leidet – oder gerade deshalb. Porträt eines Mannes, für den Aufgeben keine Option ist.

Text von Uli Hauser

Nenn es einen perfekten Tag. Der Wind weht aus West, lau und warm, die Sonne steht senkrecht am Himmel, in der Ferne fliegen Kormorane in Formation. Darunter liegt friedlich die Ostsee. Plötzlich schwebt eine Frau übers Wasser. Sie sitzt auf einem Surfboard, die Füße nach vorn, und hält sich durch geschicktes Balancieren in der Luft. Mit kleinsten Körperbewegungen gibt sie die Richtung vor, klatscht manchmal hinab aufs Wasser, nur um sogleich von Neuem abzuheben.

Es ist Kirsten Bruhn, eine der erfolgreichsten deutschen Athletinnen und zweifache Schwimm-Olympiasiegerin bei den Paralympics. Sie hat sichtlich Spaß, begeisternd, was sie erlebt; für einen Moment vergessen, dass sie auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Und alleine so vieles nicht mehr kann.


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Ein paar Meter neben ihr, auf einem Sportboot, das die wilde Fahrt begleitet, steht ein Mann am Steuer und lächelt selig. Er ist einmal mehr in seinem Element. Tobias Michelsen hat diesen Ausflug organisiert. Er hat Kirsten Bruhn eingeladen, die Fahrt auf einem Foilboard auszuprobieren, diesen jüngsten Freizeitspaß auf dem Wasser. Es hebt sich komplett aus dem Wasser, Tragflügel und eine an einen E-Motor angeschlossene Turbine erzeugen Auftrieb.

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„Das sieht super aus, weiter so!“, brüllt Michelsen gegen den Wind. „Rutsch ein bisschen nach vorn, dann wirds noch besser!“ Er reißt das Steuer rum und nimmt Fahrt auf, weil Bruhn ihm davon gezischt ist. Schnell ist sie ja, die sechsfache Weltmeisterin und achtfache Europameisterin.

„Das war richtig geil!“, sagt sie später über ihren Ritt. Und muss danach dann doch wieder in ihren Rollstuhl getragen werden. Wie sie es hasst; aber es geht nicht anders, seit 34 Jahren ist sie behindert, nach einem Motorradunfall. Ein Drama, das bis heute nachwirkt, weil ihre Retter schwere Fehler machten und bei richtiger Behandlung eine Behinderung hätte vermieden werden können. Bis heute kommen immer wieder Erinnerungen hoch, es ist auch viele Jahre später noch schwer, sagt sie.

Segelschule überwindet Barrieren

Ein Unfall war es auch, der Michelsens Leben veränderte. Er wollte den Mädels am Strand zeigen, wie man die Welle reitet, als er hart am Wind auf sonnencremeverschmiertem Brett ausrutschte und bei voller Fahrt kopfüber in zu flaches Wasser stürzte. Ein Knacks und ein Gedanke: Das war’s. Mit 25. Die Halswirbel gebrochen. Michelsen entging nur knapp einer Querschnittslähmung, leidet seitdem aber jeden Tag an Schmerzen. Er darf keine Lasten heben und seinen Kopf nicht zu sehr bewegen. Einige Operationen im Laufe der Jahre sind dazugekommen, ebenso weitere Unfälle und Nahtod-Erlebnisse. Michelsen spricht darüber wenig, möchte kein Aufhebens davon machen. Man weiß nicht recht, ob er sich auf diese Weise schützen will oder ob er wirklich verarbeitet hat, was geschehen ist. Irgendwann jedenfalls fasste er den trotzigen Entschluss, mit dem zurechtzukommen, was ist.

Davongekommen zu sein gibt ihm Kraft, seine Energie für andere einzusetzen, die nicht so viel Glück hatten. Er gründete eine Segelschule für Menschen mit Beeinträchtigung. In Großenbrode an der Ostsee, kurz vor Fehmarn, wo das Wasser seicht und warm ist und ideale Bedingungen herrschen für Anfänger. Ein großer Tisch vor dem Haus, um den sich seine Gäste versammeln, eine provisorische Dusche, fast immer frischer Kaffee und gute Laune. Der Blick schweift in die Ferne.

Seine Gäste kommen aus aller Welt, um ein bisschen Freude zu erleben an einem Ort, den man getrost als barrierefrei bezeichnen kann: das Meer. Hier kann man segeln lernen und surfen, kiten und auf einem Brett paddeln. Kinder kommen mit ihren Eltern, Erzieher mit ihren Schülern. Manche mit, andere ohne Handicap. Auf dem Wasser sind sie alle gleich.

Das ist für manche eine so umwerfende Erfahrung, dass es sie immer wieder hierher zieht. Hier kann das Leben einfach mal herrlich unkompliziert sein. Wie es auch die Gespräche am Tisch sind. Wo man ohne Scheu darüber reden darf, was Behinderung mit einem macht. Wie das ist, nichts sehen zu können oder nur ein Bein zu haben. Das hier ist auch eine Art Lebensschule – über den Umgang mit Verlust und Trauer, Hoffnung und Gewissheit.

Stärke in der Schwäche finden

Es sind Menschen, die sich hier versammeln, mit unglaublichen Schicksalen und einem noch größeren Willen. Kriegsversehrte kommen her, Männer und Frauen mit posttraumatischen Störungen oder mit Krankheiten wie Parkinson und Multipler Sklerose. Oft muss Tobias Michelsen schlucken, weil kaum zu ertragen ist, was andere ertragen müssen.

Wie dieses Mädchen, neun Jahre alt, nach drei Chemotherapien und ohne Haare bitte noch einmal aufs Meer wollte, bevor sie Monate später sterben sollte. Und so schön lachen konnte sie. Michelsen und seine ehrenamtlichen Helfer bereiteten der Todkranken einen unvergesslichen Tag.

Solche Erlebnisse sind es, die diese Segelschule so einzigartig machen, als Sehnsuchtsort für Menschen, die Stärke in der Schwäche finden. In einer Zeit, in der alles perfekt sein soll. Die Krankheit verdammt und Menschen einteilt. Tobias Michelsen hingegen weigert sich, in Kategorien zu denken. In Behinderung. In Autismus. Skoliose. Trisomie. Körperlich behindert. Geistig behindert. Lebenswert. Oder nicht.

Er ist von bewundernswerter Selbstsicherheit im Umgang mit denen, die als behindert gelten. Dankbarkeit ist die Energie, die den gelernten Kameramann antreibt. Zufrieden zu sein mit dem, was noch ist. Dieses Gefühl will Michelsen weitergeben. Deshalb lässt er Blinde Drachen lenken, hievt Gelähmte auf den Katamaran und nimmt sich geduldig alle Zeit der Welt, einem Jungen den Neoprenanzug anzuziehen. Die Freude der anderen wühlt ihn auf.

Verein “Sail United” mit prominenter Unterstützung

Weil dies alles nicht möglich ist ohne Hilfe von Unterstützern, hat Michelsen in seinem gemeinnützigen Verein Sail United Spitzensportler um sich versammelt. Segelsportlegenden wie den Vorwind-Spezialisten Alexander Hagen zum Beispiel oder eben andere Weltmeister wie Kirsten Bruhn. Weniger, um mit ihren Erfolgen zu prahlen, eher damit ihre Geschichten Mut machen auf Abenteuer und Verwandlung. Auf schönes Neues. Großes.

Sie kommen nach Großenbrode und können anschließend andere aus eigenem Erleben ermuntern, Dinge zu wagen, die sie vielleicht nicht für möglich halten. Nur allzu oft erleben behinderte Menschen, was nicht geht. Hier aber geht: fast alles.

„Ich segele seit Jahren auf Booten, für die man eigentlich zwei Hände benötigt“, sagt Sail-United-Vorsitzender Heiko Kröger. „Wenn ich dann an Land komme, staunen die Leute, weil sie sehen, dass ich alles nur mit der rechten Hand mache.“ Kröger, der 2001 und 2023 „Weltmeister Over all“ wurde auf einer Regattabahn, wo Behinderte und Nichtbehinderte miteinander konkurrierten, muss seit der Geburt ohne linken Unterarm zurechtkommen.

„Es geht so unglaublich viel“, sagt er, „ von dem kaum einer weiß, dass es funktioniert.“ Kröger ist nach mehreren Törns davon überzeugt, dass beispielsweise blinde Menschen sehr viel schneller segeln lernen. „Sie fühlen das Boot besser und spüren jede noch so leichte Windbewegung früher als Sehende.“

Behinderung kann Bereicherung sein

Solches Staunen und das feine Miteinander sind auch Ansporn für Freunde, Eltern und Geschwister, selbstverständlicher mit Beeinträchtigungen umzugehen. Mehr zu wagen und weniger zu klagen: Wenn man so will, ist dies die Mission der hier vereinten Wassersportler – sail united. Um all jenen etwas entgegenzusetzen, die immer nur ihre Sorgen und Ängste vorbringen. Und diesem schrecklichen Satz, sich mal bloß nicht zu überschätzen. Innerlich stärker zu sein, als es das äußere Selbst glauben macht, darum geht es.

„Eine Behinderung kann auch eine Bereicherung sein“, sagt Stephan Engelhardt. Er sitzt an der Pinne und strahlt. Der Jurist hat lange gesucht, wo er ohne großen Aufwand mit seiner Beeinträchtigung Urlaub auf dem Wasser machen kann. Seit Geburt blind, kam er nach Großenbrode. Das Joggen mit einem Freund oder das Skifahren mit einem Studenten, der mit einem Lautsprecher auf dem Rücken vorfährt und ihm Kommandos und Orientierung gibt, das kannte er. Nicht aber dieses irre Gefühl, auf einem Board zu stehen und über dem Wasser zu schweben.

Hier an der Ostsee kann er es probieren. So spannend, vom Boot aus zu sehen, wie einer wie er sich in steter Dunkelheit zurechtfindet. Erst im Sitzen, dann aufrecht. Mit den Hände hält er sich an einer langen Stange fest, die am Boot befestigt ist, und nach wenigen Versuchen schon braust Engelhardt davon. Furchtlos übers offene Meer und immer schneller werdend gleitet er über die Wellen. Wenn das Wasser keine Schranken hat, dann hier.

Natürlich muss Tobias Michelsen im Begleitboot aufpassen, dass sein Schnell-Surfer nicht unversehens gegen ein im Glitzerwasser dümpelndes Segelschiff brettert. Oder ihm selbst und dem Boot gefährlich nahe kommt. Aber Engelhardt bewältigt die Herausforderung mit Bravour und freut sich später, endlich einmal ohne Hindernisse unterwegs gewesen zu sein. Keine Poller, keine Fahrräder, keine Menschen auf dem Bürgersteig, in die er öfter mal hineinläuft und sich dann immer entschuldigt; stattdessen beinahe grenzenlose Weite und das Gefühl von Freiheit. Platz in alle Richtungen und das Gefühl, selbst bestimmen zu können, wie schnell er wo langfährt.

„Das ist Unabhängigkeit!“, sagt Engelhardt, die er an Land mitunter vermisst. Dort muss er immer erst Trainingspartner finden, die sein Tempo mithalten können. Gar nicht so einfach; er war mal Vizeeuropameister über 100 Meter Schmetterling und läuft den Halbmarathon unter 1 Stunde 40. „Bei Tobias ist nicht die Frage, ob etwas funktioniert, sondern wie“, bringt er es auf den Punkt. „Geht nicht gibt’s nicht für ihn.“

“Sail United” soll ausgeweitet werden

Hier am Meer vergisst Tobias Michelsen seine eigenen Schmerzen, die in den Gelenken, gleichzeitig und immerfort, Polyarthrose. Ausgehend von den beiden Wirbelsäulenfrakturen, die er bisher überlebt hat, ohne auf einen Rollstuhl angewiesen zu sein.

Umso mehr treibt ihn ein Wunsch um: Er möchte Rolli-Fahrern weitere Erlebnisse ermöglichen, große Fahrten auf hoher See. Aufbrechen zu neuen Abenteuern und den ersten Hochseekatamaran Deutschlands bauen, auf dem man die Meere durchpflügen kann. Das wäre was. Mit problemlosen Zugängen zu allen Decks und der Möglichkeit, auch im Rollstuhl sitzend das Steuer zu übernehmen.

Michelsen sammelt dafür bereits Geld und sucht Sponsoren. Ermutigt von dem, was er bis jetzt schon erreicht hat, will er die Grenzen weiter verschieben. Und seinen Traum zum Maßstab seines Handels machen: Das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen.

Mehr zum Projekt “Sail United”

Der mehrfach ausgezeichnete Verein freut sich über Spenden und weitere ehrenamtliche Helfer. Die Arbeit und auch der Freizeitspaß mit beeinträchtigten Menschen erfordert viele Mittel. Tobias Michelsen und seine Mitstreiter verdienen jede Unterstützung. Spendenkonto: Sail United e. V., IBAN DE94 2305 0101 0160 3468 96 bei der Sparkasse zu Lübeck.

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