Kristina Müller
· 05.01.2024
Das kleine Boot schaukelt. Der Atlantik hebt es, senkt es, hebt es, senkt es, als in der graublauen Monotonie endlich Land auftaucht. Nach 30 einsamen Tagen auf See schält sich vor dem Bug der schwankenden Hurley 18 die Karibikinsel Antigua aus dem Dunst. Ihr Skipper, der zu diesem Zeitpunkt 26-jährige Nicolas Manthos, steht mit geblümtem Sonnenhut auf dem Kopf und nacktem Oberkörper im Niedergang und strahlt in die Filmkamera, mit der er den Moment festhält: „We crossed the Atlantic!“, ruft er. Und dann, Wellen lassen die Hurley torkeln: „I like it! I will do this again!“
Tatsächlich war der junge Mann aus Stuttgart so infiziert von seiner Atlantiküberquerung im Winzling, dass er ihn auch zurück nach Europa segelte. 3.900 Seemeilen über den Nordatlantik – ein Törn, den sich viele Skipper in weitaus größeren Booten nicht zutrauen. Doch Manthos ist zu dem Zeitpunkt längst vom Ozeansegeln fasziniert – und ein Stück weit pragmatisch: „Eigentlich wollte ich das Boot in der Karibik verkaufen, aber niemand wollte es haben“, erzählt er im Gespräch mit der YACHT, gut ein halbes Jahr nach dem Ende seines großen Segelabenteuers.
Zu dem Solotrip über den Atlantik hat ihn kein Geringerer als Wilfried Erdmann inspiriert. Auf dem Dachboden seines Opas findet Manthos als Jugendlicher eine Ausgabe von „Allein gegen den Wind“, in der Erdmann von seiner Solo-Nonstop-Fahrt westwärts um die Welt berichtet. „Das hat in mir einen Gedanken geweckt“, erinnert sich Manthos, heute 28 Jahre alt. „Wie ist das, so lange allein zu sein? Kann ich das auch?“ Mit Segeln hatte er bis dahin nichts zu tun, wenngleich er die Idee immer reizvoll fand.
Manthos hob bis zu diesem Zeitpunkt lieber ab, um Abenteuer zu erleben. Er hat einen seltenen Beruf: Fluglehrer. Als Mitarbeiter einiger süddeutscher Schulen fürs Gleitschirmfliegen brachte er anderen bei, wie man durch die Luft segelt, oder nahm Interessierte im Tandemflug mit. Gleitschirm-Expeditionen führten ihn um die halbe Welt. „Ich habe schon immer gern Sachen gemacht, bei denen man nicht genau weiß, was als Nächstes passiert.“
Nun also Segeln. Ihn reizen die Parallelen zum Fliegen: „Einfach rauskommen, einfach weg von der normalen Welt sein. Man nimmt die Probleme vom Boden nicht mit. Das ist beim Segeln im Prinzip genau das Gleiche. Man legt ab und hat seine Ruhe“, weiß Manthos mittlerweile. Er liest und liest, alles, was ihm übers Solosegeln in die Hände fällt, bis er schließlich zu dem Schluss kommt, dass er nur auf eine Art herausfinden kann, ob es ihm liegt, lange allein auf dem Meer sein: durch Ausprobieren.
Nicolas Manthos wird in Stuttgart geboren, wächst dort weit entfernt von der nächsten Küste auf. Kindheit und Jugend verbringt er in den Bergen, wo er die Gleitschirmflieger beobachtet. Als Jugendlicher fängt Nicolas, Nico genannt, an zu klettern und widmet sich dem Slacklinen, jener Trendsportart, bei der Wagemutige über ein zwischen zwei Punkten gespanntes Band balancieren. Seine Freunde und ihn zieht es in die Berge zwischen Schluchten oder zum Tricksen in den Park.
Doch dann passiert ein Unfall, der junge Nicolas hat gerade seinen Schulabschluss gemacht. „Ein Metallteil ist gerissen und mir ins Gesicht geflogen“, erinnert sich der sportliche Mann mit der ruhigen Stimme. „Das war eine knappe Sache, dabei hätte ich auch draufgehen können.“ Monatelang liegt er im Krankenhaus, grübelt, denkt über das Leben nach, in dem ohnehin eine Entscheidung ansteht: studieren gehen oder eine Ausbildung anfangen? Der Outdoor-Enthusiast entscheidet sich für einen weniger vorgezeichneten Weg: „Für mich war nach diesem Unfall eigentlich nur noch wichtig, das zu machen, was mir richtig Spaß macht. Im Großen und Ganzen hat das nie aufgehört“, sagt er und lacht. Damals fängt er mit dem Gleitschirmfliegen an, zunächst genauso autodidaktisch, wie er sich Jahre später der Suche nach dem richtigen Boot für sein Segelabenteuer widmet.
Bei dieser Recherche stößt er auf ein Buch über eine Weltumsegelung im 18-Fuß-Boot. Ein kleines, aber hochseetaugliches Schiff findet auch er passend für den Anfang – und für sein Budget. „Ich wusste ja noch gar nicht, ob Segeln mir Spaß macht. Und ein kleines Boot ist eine tolle Challenge. Ich wollte mit den Elementen verbunden sein.“ Er macht sich auf die Suche nach einer Hurley 22, einem britischen Langkieler, auf dem Segler schon lange Touren zurückgelegt haben. Doch er findet keine, dafür die Nummer kleiner, eine Hurley 18, die am Chiemsee steht und mit Trailer 3.000 Euro kosten soll. Manthos schlägt zu.
Noch ist er keine Meile in seinem Leben gesegelt, nun aber Eigner. Insgeheim hat er bereits eine Atlantiküberquerung im Hinterkopf, als er sich an den Refit und das Ausrüsten seines neuen Schiffchens namens „1/4 Life Crisis“ macht. Ein Freund hat den Namen schmunzelnd vorgeschlagen: „Du bist jetzt 26, und was du machst, klingt irgendwie nach einer Lebenskrise.“
Manthos malt das Unterwasserschiff, baut eine Pantry und eine Batterie ein, hängt einen Außenborder ans Heck und schließt ein kleines Solarpaneel an. Er kauft Seekarten und ein GPS-Gerät, verwirft den Gedanken an Astronavigation und beruhigt sich damit, dass im Ernstfall GPS-Sender im Smartphone, in seinem Satelliten-Messenger, im Ersatzhandy und im Ersatz-GPS stecken.
Das Abenteuer beginnt im Mittelmeer. Im Herbst 2020 ziehen Manthos und ein Freund, der noch schnell einen Segelschein gemacht hat, die „1/4 Life Crisis“ auf dem Trailer nach Griechenland. Es ist das ideale Testrevier für den ambitionierten Segelneuling: „Wir sind rumgecruist, haben geankert, alles war easy peasy, gemütlich und supercool!“
Auch Nachtfahrten üben sie – den Atlantik immer im Hinterkopf. Der junge Mann ist nun nicht mehr nur vom Lesen übers Segeln infiziert, sondern vom Segeln selbst.
Als Fluglehrer arbeitet er im Sommer zwei bis drei Wochen am Stück, hat dann fast ebenso lange frei. Im Winter wird nicht geflogen, er kann sich voll dem nächsten Schritt widmen: Ausrüsten für den Atlantik. Manthos spendiert seinem Bötchen eine Windsteueranlage, eine Epirb und eine Rettungsinsel, bestellt frische Segel und fertigt neues laufendes Gut aus Dyneema. Nonstop ist er mit den Gedanken bei seinem Projekt. „Ich habe ständig über mögliche Probleme nachgedacht, habe jedes Szenario durchgespielt und mir Pläne zurechtgelegt, was ich beispielsweise mache, wenn ein Backstag reißt, das Ruderblatt bricht oder der Strom ausfällt“, erzählt der Skipper. „Seit dem Bootskauf habe ich eigentlich über nichts anderes nachgedacht. Ich war völlig besessen!“
Im Juni 2021 lässt er Griechenland achteraus, passiert die Küste Italiens, die Straße von Messina, segelt dann via Sardinien und Spanien nach Gibraltar. Er segelt während seiner freien Tage im Sommer. Während er zum Arbeiten zurückreist, wartet die Hurley irgendwo in einem Hafen.
Der 1.270 Seemeilen lange Testtörn von Griechenland nach Gibraltar wird ein Erfolg. Der 1,87 Meter große Segler fühlt sich wohl in seiner Nussschale. Dennoch kommen ihm Zweifel, er reist nach Hause. „Ich hatte Bedenken, weil niemand hinter mir stand und sagte: ‚Das passt schon!‘ Ich musste die Entscheidung wirklich hundertprozentig allein treffen.“ Doch er merkt, dass er sich vorbereitet und wohl fühlt an Bord und dass ein Gedanke immer wiederkehrt: „Wenn ich jetzt nicht lossegle, werde ich mich jeden Tag ärgern.“ Ende Januar 2022 reist er zurück zum Boot, checkt alles, verproviantiert und wartet ein gutes Wetterfenster ab. „Dann bin ich losgesegelt!“
Das Wissen um Winde und Thermik ist Grundvoraussetzung für einen sicheren Gleitschirmflug. Weit über tausend hat Manthos zum Zeitpunkt seines Aufbruchs über den Atlantik schon absolviert und fühlt sich daher fit im Umgang mit dem Wetter. Lange vor seinem Törnstart beobachtet er die Passatbedingungen auf dem Atlantik und kommt zu dem Schluss, dass er stabilen Schiebewind im Dezember, Januar oder Februar antreffen würde.
Für den Empfang von Wetterdaten hat er einen Kurzwellenempfänger und einen InReach-Satellitennotfallsender an Bord. Auf dem Weg nach Westen nutzt er aber nichts davon. „Ich hatte so viel Proviant eingepackt und wusste, selbst wenn es super flautig wird, reicht das. Mit den Passatwinden kann man nicht so viel falsch machen“, so Manthos, „und ausweichen kann ich mit dem kleinen Boot sowieso nicht. Ich hätte es genommen, wie es kommt.“
Die Rechnung geht auf. Konstante 20 Knoten aus Nordnordost schieben die „1/4 Life Crisis“ über 600 Seemeilen nach Lanzarote. Hundert Meilen loggt die Hurley pro Tag, alles wie geplant. Ein paar Gleitschirmflüge gönnt sich der Profi auf Lanzarote – der große Flügel findet neben Proviant für 60 Tage und reichlich Büchern auch noch Platz an Bord –, dann bleibt Europa endgültig achteraus, und Manthos nimmt Kurs auf die Karibik.
Welche Insel er dort ansteuern will, ist beim Ablegen noch gar nicht klar. Doch der Zufall hilft dem sympathischen Süddeutschen. Mitten auf dem Atlantik erreicht ihn die Nachricht eines Kumpels über sein InReach. Dessen Vater ist Segler und kennt den Besitzer des Yachtclubs auf Antigua. Der „Typ mit dem Miniboot“ ist daher hochwillkommen an der vornehmen karibischen Adresse.
Beim einzigen ernsthaften Problem der Überfahrt hilft Manthos dagegen nicht der Zufall, sondern seine akribische Vorbereitung: Das Vorstag reißt. Es ist der einzige Draht, den er vor der Abfahrt nicht durch Dyneema ersetzt hat. Doch Ersatz ist bereits vorbereitet, am Masttopp angeschlagen und schnell geriggt.
Manthos genießt das aufs pure Segeln reduzierte Leben. Er findet seinen Rhythmus. Morgens setzt er Tee auf, frühstückt, kontrolliert das Boot und bringt, falls nötig, Sachen in Ordnung. Er kocht und backt frisch, „ganz normal“, sagt er, nur eben ohne Kühlschrank. Allein ein Korkenzieher fehlt ihm – er merkt es, als er zur Halbzeit eine Flasche Rotwein öffnen will. Zum Schlafen legt er seine knapp ein Meter neunzig quer über die Vorschiffskoje, lehnt an der Bordwand und keilt sich zwischen einen Sack mit wasserdichten Klamotten. Zum Zeitvertreib liest er gut 20 Bücher während des Törns. Als die ausgelesen sind, folgen sämtliche Anleitungen, die er auf dem Handy gespeichert hat: von Mastprofilen, Autopiloten, Beschlägen oder übers Riggen.
In sein Bötchen entwickelt er absolutes Vertrauen. Bis auf einige Leckagen – bei zu viel Lage dringt Wasser über die Backskisten ins Boot – gibt es keine größeren Probleme. „Ich habe mich nie unwohl oder unsicher gefühlt“, resümiert Manthos. „Ich habe die Windsteueranlage eingestellt, und dann fährt man halt gemütlich da runter. Das Boot war eine gute Wahl!“
Auf die Frage, die ihn antreibt, findet er im Laufe der Reise eine Antwort. Ja, er kann mit sich allein auf dem Ozean sein. „Klar hat man auch mal einen schlechten Tag und fragt sich: ‚Was mache ich hier?‘“, sagt er rückblickend. Auch wird ihm ein wenig langweilig – ein bisschen mehr trimmen, ein bisschen mehr Gas geben können wäre schön. Dennoch stellt sich nach drei Wochen das Gefühl ein, noch einmal so lange segeln zu können. Nach 30 Tagen kommt Antigua in Sicht, und Manthos weiß: Das war erst der Anfang.
Wie – und ob – die Hurley wieder nach Europa kommen soll, darüber hatte sich der Atlantik-Aspirant vor der Abfahrt nicht allzu viele Gedanken gemacht. Er hatte überlegt, sie in der Karibik zu verkaufen, ein größeres Boot zu erwerben und damit zurückzusegeln. Aber niemand will die Mini-Yacht haben. Dafür erntet er im Antigua Yacht Club ungläubige Blicke und hört mehrfach die erstaunte Frage, wo er mit dem kleinen Boot denn herkomme.
Schnell setzt sich die Idee fest, die Hurley dann eben doch auf eigenem Kiel zurückzubringen – „auch wenn es noch weniger Referenzen für so ein Projekt gab und ich noch mehr auf mich und mein Risikomanagement angewiesen war“.
Zunächst aber muss Manthos zurück in die Heimat. In Europa beginnt der Frühsommer und damit die Flugsaison. An einer Boje des Yachtclubs darf sein Boot so lange gratis liegen. Erst Weihnachten ist er zurück und bereitet alles für den Törn nach Hause vor. Das Boot kommt aus dem Wasser, er erneuert die Püttinge, kontrolliert die Ruderanlage und verkauft den Außenborder, den er ohnehin kaum nutzt und der ihn als „totes Gewicht“ am Heck nur stört. Am 2. Mai 2023 legt er wieder ab, Kurs Nordost.
Beim Betrachten der kurzweiligen Youtube-Videos seiner Reise kann man die Härten des Törns zurück nur erahnen: erst tagelange Flaute infolge eines im Weg liegenden Azorenhochs, dann Amwind-Knüppelei. „Ich hatte kaum Westwind, entweder Süd- oder Nord- oder ziemlich starken Ostwind. Das war nass, unangenehm und brutal fürs Boot.“ Zum ersten Mal zweifelt Manthos an der Hurley. „Ich dachte: ‚Verdammt, hoffentlich hält alles.‘“ Ein Freund an Land versorgt ihn über das InReach mit Wetterinfos. Statt wie geplant Horta anzulaufen, weicht er vor einem Tief zur westlichsten Azoreninsel Flores aus und versteckt sich dort. Dann endlich setzt der ersehnte Südwestwind ein. Manthos legt Kurs Frankreich an, und die Hurley erreicht mit 120 Seemeilen das Spitzen-Etmal der Reise. „Das war ein Traum zum Segeln!“ Acht Wochen nach Abfahrt in der Karibik liegt Lorient im Morgengrauen vor ihm.
Warum ausgerechnet Lorient? Diesmal hat der Segelneuling, der mal eben den Atlantik in beide Richtungen in einem bemerkenswert kleinen Boot überquert hat, das Ziel nicht zufällig ausgewählt. Es ist Teil seiner neuen, großen Idee, die ihn seit der Ankunft in der Karibik nicht mehr loslässt. „Allein segeln macht mir Spaß, und ich hatte meine persönliche Grenze noch nicht erreicht. Ich wollte weiter, ungemütlicher, schneller. Daher wollte ich in diesem Offshore-Mekka in Frankreich ankommen“, erklärt Manthos. Dort will er sich nach einem Boot für sein nächstes Segelprojekt umschauen: Es soll ihn einhand und nonstop um die Welt bringen, aber auch schnell – Ziel ist ein neuer Geschwindigkeitsrekord für 40-Fuß-Yachten.
Nicolas Manthos ist nicht der Typ, der eine Regatta braucht, um sich zu pushen. Er will die Weltumsegelung wie schon die Atlantiküberquerung allein machen. „Das Spezielle war für mich das Abenteuer mit diesem kleinen Boot und die Freiheit, das machen zu können, was ich will, ohne irgendeinen Zeitplan“, sagt er rückblickend.
Zwei Jahre lang will er sich voll auf sein neues Projekt konzentrieren, im November 2025 soll der Mammut-Törn dann starten. Das Boot dafür, eine gebrauchte Class 40, hat er 2023 gekauft, das Budget, das er brauchen wird, kalkuliert, die Hurley annonciert, seinen Job gekündigt.
Ab Februar, wenn seine „Oneworld“ – ein Rogers-Design, das für den Franzosen Tanguy de Lamotte gebaut wurde – in St.-Malo zu Wasser gelassen wird, will er aktiv auf Sponsorensuche gehen. Noch ist Nico Manthos keine Meile mit seinem neuen Boot gesegelt, geschweige denn mit einer anderen Class 40 oder einem vergleichbaren Racer. Das stört ihn nicht. „Die Idee wächst seit zwei Jahren, und jetzt geht’s los“, freut er sich. „Außerdem habe ich einen Deal mit der Verkäuferin gemacht; sie wird mit mir ein paar Tage aufs Wasser gehen und mir alles zeigen.“ Er kann es kaum erwarten.