Joshua Slocum wird 1844 als fünftes von insgesamt elf Geschwisterkindern im kanadischen Nova Scotia geboren. Mit acht, nach nur zwei Jahren an der Schule, zieht die Familie nach Brier Island, weil die Erträge ihrer Farm nicht zum Leben reichen. Die Insel liegt am Eingang der Bay of Fundy. Die Bewohner leben von dem, was das Meer ihnen gibt. Die Häuser sind größtenteils aus Holz gebaut, das von den Schiffen stammt, die an der felsigen Küste aufliefen und strandeten. Slocums Vater ist ein Tyrann und schleift den jungen Joshua regelmäßig zum Gottesdienst in die Baptistenkirche. Ansonsten schuftet der Junge in der väterlichen Werkstatt, wo sie Lederstiefel für die lokalen Fischer herstellen.
Slocum hasst das Stiefelhandwerk, entwickelt aber schnell eine Faszination für die Schiffe, die er durch die dreckigen Werkstattfenster beobachten kann. Heimlich schnitzt er an einem Modellschiff, bis sein Vater es findet und in einem Tobsuchtsanfall zerstört. Joshua lechzt nach einem Seemannsleben voller Abenteuer und unternimmt mehrere Fluchtversuche. Mit 14 Jahren heuert er als Koch auf einem Fischerei-Schoner an, muss aber bald wieder den Heimweg antreten.
1860 stirbt Slocums geliebte Mutter infolge der Geburt des elften Kindes, worauf der 16-jährige Slocum endgültig Brier Island verlässt und auf einem Holzfrachter anheuert, der ihn nach Dublin bringt. Es folgen zwei Lehrjahre an Bord eines britischen Handelsschiffes, in denen Slocum in Windeseile alle Ränge durchläuft, um mit 18 Jahren das Patent zum Zweiten Offizier in den Händen zu halten.
In dieser Zeit ist der Seehandel unter Segeln auf seinem Höhepunkt. In den Häfen Nordamerikas tummeln sich die prächtigen Großsegler, um Waren aus aller Herren Ländern zu löschen und wieder Exportgüter zu laden. Slocum hat seine Berufung gefunden, nicht ahnend, dass dieser Boom 20 Jahre später schon wieder vorbei sein würde.
Dem Tod blickt Slocum erstmals auf dem Atlantik ins Gesicht, als er beim Segelbergen von einer Bö getroffen wird und aus dem Mast fällt. Mit Glück überlebt er den Sturz, behält als ewiges Andenken daran jedoch eine Narbe über dem linken Auge. Im Laufe der Jahre wird er dem sicher geglaubten Tod noch öfter entkommen, seinem Schutzengel gibt er daher sogar einen Namen: „Slocum’s luck“.
Dabei ist der Schützling das perfekte Beispiel für einen Mann, der sein Glück selbst in die Hand nimmt und zielgerichtet die Karriere vorantreibt. „Ich wurde in der Brise geboren und habe das Meer studiert wie nur wenige und dabei alles andere vernachlässigt“, schreibt er später in seinem Buch.
Slocum ist besessen von der See und fühlt sich zutiefst mit ihr verbunden. In den 1860er und 1870er Jahren besegelt er den Atlantik, die Karibik, den Pazifik und das Südchinesische Meer. 1869 bekommt er sein erstes Kommando auf einem Küstenschoner, kurz darauf befehligt er schon die Bark „Washington“, mit der er auf Langfahrt geht.
Ein Jahr später verschlägt es ihn nach Australien, wo er auf einem Ball seiner zweiten großen Liebe begegnet: Virgina Albertina Walker. Obwohl nur drei Wochen an Land, gelingt ihm das Kunststück, sich zu verlieben, mit ihr auszugehen und schließlich um ihre Hand anzuhalten.
Sie sagt nicht nur „Ja“, sondern ist auch willens, ein Leben als Seemannsfrau zu führen. Einen Tag nach der Hochzeit lichten sie zusammen den Anker. Ihr erster Sohn Victor sowie sechs weitere Kinder werden alle unterwegs auf hoher See oder in fernen Häfen an Bord geboren.
Im Jahr 1881 wird Slocum das Kommando über den Clipper „Northern Light“ übertragen. Er befindet sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere: finanziell erfolgreich, hoch respektiert, fünfmal um die Welt gesegelt. Im Alter von 40 Jahren bekommt er zudem die Möglichkeit, sich bei dem schnellen Clipper einzukaufen.
Aber der Zenit der Handelsschifffahrt unter Segeln ist da längst erreicht. Eine dunkle Wolke breitet sich über dem Seehandel aus: die Dampfschifffahrt. Überall werden moderne Schiffe vom Stapel gelassen, um die Großsegler schrittweise zu ersetzen. Für Joshua Slocum aber sind es „dreckige, stinkende Dampfschiffe!“.
Eine Weltumsegelung mit der „Northern Light“ wird Slocums letzte große Reise mit einem Handelsschiff und scheint mit einem Fluch belegt zu sein. Erst hat der Kapitän mit meuternden Matrosen zu kämpfen, dann entkommen sie in der Sundastraße nur knapp einem Vulkanausbruch. Vor der Küste Südafrikas bricht während eines Sturms schließlich der Ruderkopf, und es muss ein Großteil der wertvollen Ladung über Bord geworfen werden, damit das Schiff nicht kentert.
Die Slocums verkaufen ihre Anteile an der „Northern Light“ und erwerben dafür die kleinere Bark „Aquidneck“, mit der sie nach Südamerika aufbrechen, um Handelsgüter zwischen Nord- und Südamerika zu transportieren. Doch während sie 1884 vor Buenos Aires ankern, stirbt Virgina Walker an Herzversagen. Vom ersten Tag ihrer Ehe an hatte sie Joshua Slocum auf all seinen Seereisen begleitet, 13 Jahre lang. Nun wird sie an Land beigesetzt. Sein Vater sei darauf „wie ein Schiff mit einem kaputten Ruder weitergefahren“, beschreibt der älteste Sohn Victor später diese Zeit.
Slocum kehrt nach Nordamerika zurück und heiratet eine 24-jährige Cousine aus Nova Scotia. Eine Zweckehe, die unter keinem guten Stern steht. Während einer Überfahrt nach Brasilien verliert er seine ganze Fracht inklusive teurer Pianos. Da die Cholera grassiert, kommt es auf der Ilha Grande, einer Insel vor Rio de Janeiro, zu einem langen Quarantäne-Stopp, währenddessen die gesamte Besatzung desertiert und sich mit dem Beiboot davonmacht.
Die nächsten zwei Jahre pendelt Slocum zwischen Brasilien, Argentinien und Uruguay, um Mate-Tee, Rinder oder Alfalfa zu transportieren. In der brasilianischen Baja de Paranaguá läuft die „Aquidneck“ im Dezember 1887 auf eine Sandbank und kann nicht gerettet werden. Zwar kommt niemand zu Schaden, aber mangels Versicherung ist es auch ein finanzieller Schiffbruch für die Slocums.
In der Not beschließt der gestrandete Kapitän, ein neues Schiff zu bauen, um sich und seine Familie wieder nach Hause segeln zu können. Einige Werkzeuge und Hölzer kann er von dem Wrack bergen, der Rest wird aus tropischen Hölzern zusammengezimmert. Sohn Victor unterstützt tatkräftig beim Bootsbau, während „Madame“ die Segel näht. So entsteht in sechsmonatiger Bauzeit ein 35 Fuß langes Schiff, dessen ungewöhnliches Design auf einem Cape Ann Dory und einem japanischen Sampan mit Dschunken-Rigg beruht.
Das Husarenstück gelingt: Nach insgesamt 53 Tagen auf See und 5.510 Meilen im Kielwasser erreicht die „Libertade“ Cape Romain in South Carolina. Über den noch nicht fertiggestellten Atlantic Intracoastal Waterway, eine Küstenwasserstraße bestehend aus Kanälen, Flüssen und Buchten, erreichen die Slocums 1889 schließlich Boston. Seine zweite Frau hat nach den Strapazen des Schiffbruchs und der abenteuerlichen Rückreise genug vom Segeln und geht für immer an Land. Die Kinder nimmt sie mit.
Innerhalb weniger Jahre hat Slocum alles verloren: Frau, Zuhause, Vermögen, Familie und Beruf. Die Welt um ihn herum verändert sich zudem rasant. Elektrische Straßenbahnen ersetzen Pferdewagen, Eisenbahn und Dampfschiffe verdrängen die Segelschiffe. Slocum versucht sich anzupassen und begibt sich auf eine skurril anmutende Mission: die Überführung eines Panzerschiffs von New York nach Brasilien. Doch die „Destroyer“ ist für die Hafenverteidigung konzipiert und hält den Belastungen auf hoher See nicht stand. Die Nietnähte halten nicht dicht, und die Besatzung kann das Schiff nur durch ständiges Pumpen über Wasser halten.
Zurück in den Vereinigten Staaten, kommt der desillusionierte Slocum zufällig in den Genuss einer Lesung von Herman Melville, der, angetrieben vom Geist der industriellen Revolution, eine neue Abenteuerlust entfacht. Das fällt bei Slocum auf fruchtbaren Boden. Wenn keine Frachtsegler mehr gebraucht werden, warum dann nicht in einem kleineren Boot allein um die Welt segeln, um diese Abenteuer anschließend in Buchform zu verkaufen?
Es ist das Jahr 1892, viele Großsegler sind bereits entmastet und zu Kohle-Kähnen umgebaut, ihre ausgedienten Kapitäne beginnen den vorzeitigen Ruhestand im Sailors’ Snug Harbor, einem Seemannsheim in New York. Nicht so Joshua Slocum. Dessen Leben nimmt in diesem Jahr eine neue Wendung. Ein befreundeter Walfang-Kapitän bietet ihm einen 100 Jahre alten, seinen Worten nach „überholungsbedürftigen“ Austernfischer an.
Tatsächlich ist die „Spray“ in einem erbärmlichen Zustand und muss von Grund auf saniert werden. Sie steht nahe der Walfang-Hauptstadt New Bedford an Land, durch ihre Planken wächst ein Baum. Slocum macht sich ungeachtet der Witzeleien vorbeikommender Walfänger ans Werk und haucht der „Spray“ mit jeder neuen Planke und jedem Spant neues Leben ein. Den Bug verstärkt er doppelt, um auch im Eis bestehen zu können. 13 Monate baut er an seinem Schiff und gibt genau 553,62 US-Dollar für Material aus.
Dann ist Slocums Budget verbraucht. Die Reparatur seines Chronometers kann er sich nicht mehr leisten. Für einen Dollar ersteht er eine gebrauchte Blechuhr, sie ist der einzige Zeitmesser während seiner gesamten Solofahrt. Slocum vollbringt es dank exzellenter Fähigkeiten, damit astronomisch zu navigieren, bei der Küstennavigation in der Karibik muss er sich gar auf Gefühl und Erinnerung verlassen, denn eine Ziege frisst seine einzige Seekarte auf.
Am 24. April 1895 geht der Kapitän ankerauf und segelt über die Azoren nach Gibraltar, wo er von der britischen Marine feierlich empfangen wird. Um der Piraterie in Mittelmeer und Rotem Meer zu entgehen, geht es wieder über den Atlantik nach Brasilen und weiter Richtung Kap Hoorn. Der Panamakanal, der unzähligen späteren Weltumseglern den bequemen Weg in den Pazifik ermöglichen wird, ist noch im Bau.
Auf See kämpft Slocum mit der größten Widrigkeit des Einhandsegelns, der Einsamkeit. Er ruft lautstarke Kommandos an eingebildete Matrosen, aber seine Stimme kommt ihm seltsam hohl vor auf dem endlosen Ozean.
Die größte Herausforderung jedoch wird die Passage der stürmischen Magellanstraße in Südpatagonien. Zwei Monate lang kämpft sich die „Spray“ durch diese berüchtigte Meerenge mit ihren verschlungenen Seitenarmen, scharfen Riffen und Inseln. Absolute Windstille kann im Nu in einen Hagelsturm umschlagen. Einen nächtlichen Angriff der Feuerlandindianer will der listige Nordamerikaner mit an Deck ausgelegten Reißzwecken abgewehrt haben.
Den Pazifik bezwingt Slocum mit Stationen auf den Juan-Fernández-Inseln und Samoa. Von Sydney aus segelt er mit neuen Tüchern nach Cocos Keeling Island im Indischen Ozean, ein Ritt von 2.700 Seemeilen, den er in 23 Tagen absolviert und dabei nach eigener Aussage insgesamt weniger als drei Stunden am Ruder stand.
Während erste amerikanische Zeitungen berichten, Slocum sei auf See verschollen, diskutiert der in Südafrika mit dem Gründer der Burenrepublik Paul Kruger über die Form der Erde. Kruger ist der Auffassung, die Erde sei eine Scheibe. Doch Slocum beweist einmal mehr das Gegenteil. Nach Passage des Kaps der Guten Hoffnung segelt er den Atlantik wieder hoch und beendet seine Erdumrundung.
Joshua Slocum läuft am 27. Juni 1898 im Hafen von Newport auf Rhode Island ein und schließt nach insgesamt 46.000 Seemeilen die erste Einhand-Weltumsegelung der Geschichte ab. Aufgrund des Spanisch-Amerikanischen Krieges rutscht Slocums Errungenschaft auf die letzten Seiten der Zeitungen, doch mit Hilfe seines Buches „Sailing Alone Around the World“, das 1900 erscheint, kann er die ganze Welt an seiner sensationellen Leistung teilhaben lassen.
Das Werk wird ein gewaltiger Erfolg, mehrfach nachgedruckt und in viele Sprachen übersetzt. Der Schulabbrecher hatte nicht nur eine beeindruckende Kapitänskarriere hingelegt, sondern auch einen Klassiker geschrieben, der bis heute gelesen wird und unzählige Segler und Abenteuerlustige inspiriert. Akkurat, nüchtern und mit Selbstironie geschrieben.
Nun, im Alter von 56 Jahren, wird Slocum Opfer seines eigenen Erfolges. Er hatte als erster Mensch allein die Welt mit einem Segelschiff umrundet – aber was soll darauf folgen? 1901 wird Slocum eingeladen, die „Spray“ nach Buffalo im Staat New York zu verholen, um sie auf der Weltausstellung zu präsentieren. Dafür treidelt er sein Schiff per Pferd durch den Erie Canal, der die Großen Seen mit dem Atlantik verbindet.
In der bis dato größten Weltausstellung liegt das Boot in den nachempfundenen Kanälen Venedigs, flankiert von elektrischen Türmen und einem Eskimo-Dorf. Mit Buffalo Bill, der mit seiner Wild-West-Show auftritt, tauscht Slocum Heldentaten und Seemannsgarn aus. Auch US-Präsident William McKinley besucht die Show und unterschreibt im Logbuch der „Spray“. Eine Stunde später wird der Staatschef von einem Anarchisten erschossen. Bei der Vereidigung des neuen Präsidenten Theodore Roosevelt ist Slocum anwesend und wird ein guter Freund des abenteuerlustigen Mannes.
Nach der Messe verholt Slocum sein Schiff nach Martha’s Vineyard, wo es vor Anker geht. Damals eine verschlafene Farmer-und-Fischer-Gemeinschaft, heute ein Refugium der Oberschicht. Er probiert sich im Anbau von Hopfen, aber der Versuch, sesshaft zu werden, will nicht so recht gelingen. Kein Jahr soll vergehen, bevor der Kapitän wieder ankerauf geht und Kurs auf die Bahamas nimmt, auf Jamaika und die Cayman Islands. Die „Spray“ ist mittlerweile genauso vom Wetter gezeichnet wie ihr Skipper.
1908 erzählt Joshua Slocum seinem Freund Präsident Roosevelt vom Plan, nach Südamerika zu segeln, um den Orinoco und den Amazonas zu erkunden. Am 14. November 1909 verlässt er Martha’s Vineyard und wird danach nie mehr gesehen. Vielleicht ist sein Schiff im Sturm gesunken, vielleicht ist er über Bord gegangen, vielleicht wurde Slocum aber auch ausgerechnet von einem der von ihm so verhassten Dampfschiffe überfahren – es wurden Hinweise gefunden, dass ein karibischer Postdampfer das Schicksal des alten Seebären besiegelt haben könnte. 1924 wird Joshua Slocum offiziell für auf See verschollen und tot erklärt.
Viel wurde schon immer darüber sinniert, welchen Anteil sein Schiff am Erfolg des Einhandpioniers Joshua Slocum hatte. Er selbst beschreibt die „Spray“ als ausgewogen und so kursstabil, dass er sie nur selten steuern musste. Dieser Umstand hat immer wieder für Nachbauten gesorgt, deren Seeverhalten dem von Slocum geschilderten selten vollends entsprach. Das legt die Vermutung nahe, dass sein Erfolg maßgeblich dem seemännischen Geschick des Einhandseglers zuzuschreiben ist.