Wenn Claes Hultling an der Pinne seines Folkebootes „Våga“ sitzt und durch das Stockholmer Archipel segelt, wirkt alles ganz selbstverständlich. Gemütlich lehnt der 72-Jährige am hohen Süll, sein rechter Arm liegt entspannt auf der Kante. Das Wasser plätschert sanft am geklinkerten Rumpf. Hultling und sein Folkeboot, sie sind eine Einheit, das ist auf den ersten Blick zu merken.
Dass ihre Zweisamkeit etwas Außergewöhnliches ist, wird erst deutlich, wenn die „Våga“ an den heimischen Steg zurückkehrt. Denn dort wartet ein Rollstuhl auf ihren Skipper. Claes Hultling ist querschnittsgelähmt. Vor 41 Jahren brach er sich bei einem Sprung ins flache Wasser das Genick. Das war im Mai 1984, drei Wochen vor seiner Hochzeit. Seitdem ist er von der Brust an abwärts gelähmt. Selbst seinen Oberkörper kann Hultling kaum bewegen; während er einen Arm gut nutzen kann, ist der andere nur eingeschränkt beweglich.
„Auf einer normalen Yacht wäre ich zu hundert Prozent behindert. Das würde mich frustrieren“, sagt der gehandicapte Segler, und ergänzt, dass es aber durchaus möglich sei, ein Boot auf seine Bedürfnisse anzupassen. Ein Beispiel dafür ist seine „Våga“. Der Eigner beschreibt sie als bootgewordenes Ideal – ein wahres Sammelsurium an Spezialanfertigungen, das alles bietet, was ein querschnittsgelähmter Mensch benötigt. Neben einer festen Toilette und einer Heißwasserdusche verfügt das Boot über einen 12-PS-Dieselmotor, ein Kühlaggregat, eine Heizung und einen Gaskocher. Damit steht das über sieben Meter lange Boot einer 38-Fuß-Blauwasseryacht in nichts nach.
Darüber hinaus fallen die zahlreichen Umrüstungen an Deck ins Auge. Da sind die drei elektrischen Winschen an Steuerbord, der massive Bügel über dem Niedergang, der T-förmige „Park Avenue“-Baum sowie der armdicke Fockbaum auf dem Vordeck. Auch, dass sämtliche Fallen, Schoten und Strecker ins Cockpit geleitet werden, sind Anpassungen, die bei einem Klassiker wie diesem eher unüblich erscheinen. Für Claes Hultling sind sie jedoch unverzichtbar. Mit ihnen kann er sein Boot sogar einhand segeln.
Zusätzlich sind überall Haltegriffe montiert, und anstelle einer Treppenstufe gibt es ein schräges Brett, über das man ins Innere rutschen kann. Alle Kanten sind abgerundet, und die wichtigsten Dinge, einschließlich seines Rollstuhls, lassen sich in den vielen Backskisten und Schapps verstauen. Alles maximal eine Armlänge entfernt.
Das Boot ist ein Unikum und genau auf Hultlings Bedürfnisse zugeschnitten. Wo andere Yachten ihm Grenzen setzen würden, eröffnet ihm sein modifiziertes Folkeboot Freiheiten, die ohne es undenkbar wären – etwa die Einhandtörns in den Stockholmer Schären. Auch mit seiner Familie hat er hier schon zahlreiche Sommerreisen unternommen. Oder er schleppte das Boot mit einem Anhänger nach Kroatien, um auf dem Adriatischen Meer zu segeln. „Weil es dort im Frühling einfach schon schön warm ist“, sagt er, als wäre die über 2.000 Kilometer lange Fahrt das Selbstverständlichste der Welt.
Hultling prägt sein Tatendrang und die ihm eigene Art, Dinge einfach zu machen. Gespräche werden von seiner Bescheidenheit dominiert. Sie ist ehrlich und authentisch – Hindernisse überwindet er, ohne viel darüber zu reden.
»Wenn ein Boot so angepasst ist, dass alles mit den Händen bedient werden kann, spielt es keine Rolle, ob man seine Beine nutzen kann oder nicht.«
Das wird besonders deutlich, wenn man auf die Zeit nach seinem Unfall zurückblickt: Nur zwei Wochen nach dem Erwachen aus dem Koma holt er seine Hochzeit nach, und wenige Monate später kehrt der Mediziner an seinen Arbeitsplatz zurück. Seitdem arbeitet er in Vollzeit, ist heute Professor für Neurobiologie am Karolinska Institut in Stockholm und leitet dort die medizinische Abteilung, die mehr als 1.500 Patienten betreut – ein Viertel aller Fälle in Schweden.
Hultling gilt als einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Rehabilitationsmedizin. Er ist Mitbegründer der Spinalis Stiftung, die sich für eine bessere Lebensqualität Betroffener einsetzt. Für sein Engagement wurde er bereits mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit der Ehrenmedaille des schwedischen Königs und als Unternehmer des Jahres. All das erfährt man aus den zahlreichen Fernseh- und Zeitungsberichten, die es über den gebürtigen Stockholmer mittlerweile gibt. Doch er selbst spricht nur selten darüber. Viel lieber erzählt er von seiner großen Leidenschaft: dem Segeln.
Das war schon lange vor seinem Unfall ein wesentlicher Teil von ihm. Früh entdeckte er den Stockholmer Schärengarten per Boot. Mit Freunden kümmerte er sich um einen alten Achter mit dem Baujahr 1927. Nach seinem Unfall änderten sich naturgemäß die Ansprüche, und Hultling wechselte zu den damals noch recht neuen 2.4mR-Yachten. Die vom schwedischen Designer Peter Norlin mitgeprägte Klasse gilt als besonders geeignet für Menschen mit Handicaps. Grund dafür ist das Handling, das sehr individuell gestaltet werden kann. So können die Boote sowohl mit Fußpedalen als auch mit einem Steuerknüppel bedient werden. Außerdem sind Leinenführung und Schoten individuell anpassbar, sodass Menschen ohne, mit leichten oder aber schweren Beeinträchtigungen miteinander segeln können.
Mit diesem Boot bereiste Hultling die Welt und segelte vor Küstenstädten wie Barcelona, Dubai, Abu Dhabi oder Melbourne. Und, während die Regattafelder Ende der Achtzigerjahre noch klein waren, änderte sich das in den Folgejahren maßgeblich, nicht zuletzt dank seines Engagements. Schon früh setzte sich der Enthusiast dafür ein, dass die Klasse zu einer paralympischen Disziplin aufstieg. Dafür organisierte Hultling etwa internationale Regatten und setzte sich weltweit bei Vereinen und Verbänden für die sogenannten Minizwölfer ein.
„Ich arbeitete hart und segelte viel – zwei bis drei Stunden täglich, an 200 Tagen im Jahr“, sagte er. Zur Jahrtausendwende wurde sein Einsatz schließlich belohnt und das Segeln offiziell ins Programm der paralympischen Spiele aufgenommen. Hultling aber war mittendrin und vertrat das schwedische Nationalteam der 2.4mR-Klasse.
Doch Hultling warf sich nicht nur für das paralympische Segeln ins Zeug. Sein Tatendrang und seine Leidenschaft finden Ausdruck in einem weiteren Herzensprojekt: 1987 gründete er zusammen mit Pelle Gedda und Björn Wahlström die spendenfinanzierte Stiftung „Skota Hem“, was übersetzt so viel bedeutet wie „nach Hause holen“.
Seit Beginn liegt der kleine Anleger in Saltsjöbaden, einem wohlhabenden Vorort von Stockholm. Eingebettet zwischen dem Grand Hotel zur Rechten und dem Königlich Schwedischen Yachtclub zur Linken, finden sich hier etwa 25 Boote für inklusives Segeln, darunter 2.4mR-Yachten, RS Venture- und Sonar-Boote. Jährlich gehen bis zu 500 Menschen mit Beeinträchtigungen mit diesen Booten aufs Wasser. Ziel der Stiftung ist es, Menschen mit Beeinträchtigungen das Segeln näherzubringen und neue Leidenschaften und Lebensmut zu wecken. Denn für viele Betroffene bricht mit der Diagnose die bisherige Welt zusammen. Denn es sind häufig Menschen, die den Nervenkitzel suchen, erklärt Hultling. Sie sind begeisterte Mountainbiker, Motorradfahrer oder Skifahrer, und mit dem Verlust der Mobilität verlieren viele auch ihren Lebenssinn.
Er kenne einige, die sich nach solchen Unfällen das Leben nehmen wollten. Segeln, sagt er, könne dabei helfen, aus diesem Tief herauszukommen. „Wenn sie bei 25 Knoten in Lee sitzen und das Boot durch die Wellen pflügt, schießt das Adrenalin wieder durch ihre Körper – das ist faszinierend.“
Ein Boot kann Beeinträchtigungen in den Hintergrund treten lassen, meint Tova Ostling. Die junge Schwedin ist Teil von „Skota Hem“ und hilft dort, wo Barrieren für querschnittsgelähmte Teilnehmer manchmal schwer zu überwinden sind – etwa beim Verlassen des Bootes oder beim Setzen und Bergen der Segel. Sie ist überzeugt: „Wenn ein Boot so angepasst ist, dass alles mit den Händen bedient werden kann, spielt es keine Rolle mehr, ob man seine Beine nutzen kann oder nicht.“
»Auf einem Boot zu sein, ist das eine, aber aktiv mitsegeln ist etwas anderes. Dafür braucht es nur wenige Anpassungen, alles andere kommt von allein.«
Ähnlich sieht es Hultlings Sohn Emil, der die Segelleidenschaft seines Vaters teilt und ihn auf Touren in die Schären begleitet. „Beim Segeln mit Beeinträchtigungen muss man ein Problemlöser sein. Doch genau das ist Teil des Segelns; es hängt nicht immer mit der Beeinträchtigung zusammen“, sagt er. Wichtiger sei es, nicht nur die Hürden wahrzunehmen, sondern die Möglichkeiten, die das Segeln bietet.
Hierbei kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Beim Segeln werden Betroffene mit Herausforderungen konfrontiert, die sie gemeinsam mit anderen zu bewältigen lernen. „Es ist, als würde man Kindern Mathematik beibringen“, sagt Claes Hultling. Statt die Lösungen zu verraten, müsse man die Methoden zeigen, mit denen sie eigenständig ihre Ziele erreichen können.
Die Barrieren des Segelns zu überwinden, bedeutet, Freiheiten zurückzugewinnen. Weltweit gibt es immer mehr Angebote für Menschen mit Beeinträchtigungen. Doch im Segelsport bleiben ihnen bislang einige Bereiche verschlossen – etwa das Fahrtensegeln. Das zu ändern, ist Hultlings neuestes Projekt. Dabei will er die äußeren Ausläufer der Stockholmer Schären auch für Menschen mit Beeinträchtigungen zugänglich machen. 2023 startete Hultling deshalb das Projekt „Lova“, was so viel wie „anluven“ bedeutet.
In wechselnden Gruppen segeln bis zu zehn Rollstuhlfahrer gemeinsam mit zehn Betreuern auf verschiedenen Booten zusammen mehrere Tage lang in den Stockholmer Schären. Vor allem Neueinsteiger können sich in mehreren Etappen mit Übernachtungen an das Leben an Bord gewöhnen. Eine wichtige Rolle spiele für viele vor allem der Zugang zu Toiletten, sagt Hultling. Denn Menschen ohne Beeinträchtigungen können schnell hinter einem Felsen verschwinden. Für Rollstuhlfahrer gilt das nicht: Einige von ihnen haben mit Inkontinenz zu kämpfen, für andere ist eine Toilettenroutine einfach wichtig für das individuelle Wohlbefinden. Deshalb wird die Flotte von einem Motorboot begleitet, dass sowohl Dusche als auch eine Toilette an Bord hat. „Für viele ist das der entscheidende Faktor“, so Hultling.
Einer, der sich seit Jahren für „Skota Hem“ und „Lova“ engagiert, ist Peter Fahlström, von der Stockholm Parasail Society (SPSS). „Ich habe noch nie einen Teilnehmer getroffen, der nach einer „Lova“-Fahrt sagte: ‚Das ist nichts für mich‘.“ Vor über zwanzig Jahren erlitt auch Fahlström eine Genickverletzung bei einem Schwimmunfall. Durch das Segeln hat er neuen Lebensmut gewonnen. Diese Erfahrung will er jetzt an andere weitergeben. „Unser Ziel ist nicht, die Leute zu überzeugen, sondern möglichst vielen den Zugang zu ermöglichen“, sagt Fahlström. „Auf einem Boot zu sein, ist das eine“, erklärt er, „aber aktiv mitzusegeln ist ein ganz anderes Erlebnis. Und dafür braucht es nur wenige Anpassungen am Boot“, so Fahlström. „ Alles andere kommt ganz von allein.“
Wenn es nach Claes Hultling geht, sollen die Segelprojekte weiter wachsen. Er möchte Boote, die für Menschen mit Beeinträchtigungen geeignet sind, nicht nur in Stockholm einsetzen. Auch in anderen schwedischen Städten, wie Malmö oder Göteborg, sollen sie liegen und günstig von Familien gechartert werden können. So könnten mehr Menschen mit Beeinträchtigungen die schwedischen Schären vom Segelboot aus erleben. Hultling: „Ein Arzt kann Medikamente oder Ausrüstung verschreiben. Echte Rehabilitation muss der Betroffene selbst erreichen.“
Die genaue Anzahl der Folkeboote weltweit ist unklar, doch Schätzungen gehen von 5.000 bis 6.000 Exemplaren aus. Dennoch gibt es wahrscheinlich kein Folkeboot, das der „Våga“ gleichkommt. Claes Hultling kaufte das Boot 1992 und ließ es im Einklang mit den Klassenregeln nach und nach umbauen. Heute ist es ein Sammelsurium an Spezialanfertigungen, das perfekt auf die Bedürfnisse des querschnittsgelähmten Eigners abgestimmt ist.
Seit 2023 wird das Projekt „Lova“ jährlich angeboten. Mehrere Stiftungen, darunter Spinalis, Skota Hem und die Stockholm Parasail Society, unterstützen die Initiative. Das Projekt richtet sich an Menschen mit Rückenmarksverletzungen.
Mit Unterstützung von Segellehrern und medizinisch geschulten Betreuern segeln die Teilnehmer in die entlegenen Gebiete der Stockholmer Schären, die ansonsten schwer zugänglich sind. Ziel ist es, das Archipel für alle zugänglich zu machen. Die Reise ist in vier verschiedene Etappen unterteilt, die sich in der Anzahl und Art der Übernachtungen unterscheiden. Dies ermöglicht es Unentschlossenen, sich vorsichtig heranzutasten. Weitere Informationen zu dem Projekt finden Sie unter: spinalis.se/segling