Ursula Meer
· 01.07.2025
Gestern, am 30. Juni, um 13:45 Uhr erreichte Jazz Turner nach 28 Tagen auf See ihr Ziel im Hafen von Brighton. Die 26-jährige Ingenieurin aus Seaford in East Sussex hat damit als erste Rollstuhlfahrerin Großbritannien und Irland allein, ohne Unterstützung und nonstop umsegelt. Mit ihrer 27 Fuß Albin Vega namens „Fear“ legte Turner rund 2.400 Seemeilen zurück und sammelte dabei Spenden für das Projekt „Sailability“, mit dem die Vereine der Royal Yachting Association (RYA) der Menschen mit Behinderungen das Segeln ermöglichen.
„Diese Reise soll zeigen, dass mit ein wenig Vorstellungskraft und viel harter Arbeit dem, was erreicht werden kann, keine Grenzen gesetzt sind“, sagte Turner zum Beginn ihres Projekts. Ihre nun erfolgreich beendete Reise hätte indes wohl auch Segler ohne Beeinträchtigungen an ihre Grenzen gebracht.
Im September 2024 kauft Turner die Albin Vega 27 und nennt sie „Fear“. Der Name wird die beiden Enden dessen bezeichnen, was das Projekt mit ihrer Verfassung macht, denn die vier Buchstaben von „Fear“, also Angst, stehen für „Face everything and rise“. Stell dich allem und wachse daran; oft wird sich Turner diesen Satz gesagt haben.
Ein Törn um das Vereinigte Königreich und Irland hat erwartbar Starkwind und Sturm, kabbelige Gezeitensee und solche mit Wellenbergen im Gepäck, Regen obendrein. Doch diese navigatorischen Herausforderungen sind nicht ihre größten. Turner lebt mit dem Ehlers-Danlos-Syndrom, einer genetischen Erkrankung, die zu Gelenkinstabilität, Ohnmachtsanfällen und Krämpfen führt, begleitet von starken Schmerzen. Ihre Lebenserwartung ist sehr begrenzt. An Land ist sie auf einen Rollstuhl angewiesen und kann nur begrenzte Mengen an Nahrung und Flüssigkeit zu sich nehmen. "Das Segeln ist der einfache Teil", erklärt Turner. "Die Herausforderung liegt darin, meine Gesundheit, Ernährung und mein Wohlbefinden zu managen."
Ein wenig zweifelt sie selbst schon vor dem Törn an dessen Durchführbarkeit. „Allein an diesen Punkt zu kommen, war ein Marathon“, schreibt sie Ende Mai in ihrem Instagram-Profil, wenige Tage, bevor sie für einen knappen Monat die Leinen loswerfen soll.
Sie wagt den Törn, muss aber schon am dritten Tag in Falmouth vor Anker gehen, um an sich selbst und dem Boot zu arbeiten. Erst am siebten Tag geht die Reise weiter. Sie kämpft sich um das südliche England und die Westküste Irlands hinauf, oft begleitet von schwerem Wetter. Mit leuchtenden Augen unter dem dicken Rand ihrer Wollmütze und einem strahlenden Lächeln sitzt sie an der Pinne, wenn Sonnenschein die Stimmung hebt und wärmt.
Meistens aber kommt es dicke. Dann offenbart sie schonungslos, wie wenig glamourös der Segelsport ist, wenn der Körper von blauen Flecken übersät ist und die Haut in salziger Umgebung rissig wird, tagelang aus mehreren Schichten klammer Kleidung nicht herauskommt und die Müdigkeit omnipräsent wird. Wenn es nur noch darum geht, zu funktionieren und vorwärtszukommen. Erst als sie mit der verlassenen Insel Saint Kilda in den äußeren Schottischen Hebriden den Punkt erreicht hat, der die Hälfte ihrer Reise markiert, glaubt sie wirklich daran, dass ihr Ziel erreichbar ist.
Doch Andy, ihr Autopilot, versagt auf Amwindkursen den Dienst. Um dann vorwärtszukommen, muss sie an die Pinne. Stundenlang, in Regen und kühlem Wind. Alles wird klamm. Geplagt von starken Schmerzen, muss sie sich zwingen, etwas zu essen und zu trinken. „Ich bin müde, nass, mir ist kalt. Hungrig und voller Schmerzen“, schreibt sie am 21. Tag ihrer Reise, das Ziel schon fast in Griffweite. „Ich will mich immer als die toughe, starke, mutige Person zeigen. Manchmal denke ich, dass es das ist, was Menschen in mir sehen wollen. Aber das wäre eine Lüge“, gesteht sie. „Gerade jetzt fühle ich mich geschlagen, zerstört und kann nicht aufhören zu weinen. Aber das ist okay. Denn ganz gleich was und wie, ich mache weiter.“ Meile für Meile, Welle für Welle und Atemzug für Atemzug ist das Mantra, das sie aufsagt und -schreibt und das sie bei der Sache hält.
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Nur einen Tag vor ihrer geplanten Ankunft versetzt sie die Erschöpfung nach Tagen auf der Kreuz und an der Pinne in einen unbeabsichtigten Tiefschlaf, aus dem es selbst mit dem Wecker und schließlich dem piependen Echolot kein Erwachen gibt, bis die „Fear“ vor Folkestone auf Grund sitzt. Die britischen Seenotretter und die Küstenwache kommen zur Hilfe, aber so kurz vor dem Ziel will Turner nicht aufgeben. „Unassisted“, also ohne Hilfe, ist Teil ihrer Challenge. Die Helfer bleiben auf Standby in der Nähe. Fear fällt trocken und legt sich auf die Seite, ohne gravierende Schäden davonzutragen. Bei Niedrigwasser kriecht Turner, den Anker geschultert, über grün-glitschige Felsen, um das Boot zu sichern und „Fear“ bei Hochwasser freizubekommen. Einen Tag später erwartet sie der Jubel ihrer Freunde, Follower und Sponsoren, als sie in Brighton festmacht.
30.000 Pfund für das Project „Sailability“ lautete das Ziel der Spendenkampagne, die Turner anlässlich ihrer Reise gestartet hat. Dieses Ziel wurde deutlich übertroffen: Bis zu ihrer Rückkehr kamen gut 50.000 Pfund zusammen. "Jedes Mal, wenn ich aufgeben wollte, musste ich nur auf den Spendenstand schauen, um mich daran zu erinnern, warum ich das tue", erklärt sie. Mit dem Geld möchte “Sailability” adaptierte Hansa-Jollen für behinderte Segler kaufen.
Denn trotz ihrer gesundheitlichen Einschränkungen hat Turner auch schon vor der jüngsten Reise Erfolge im Segelsport erzielt, wurde in der RS Venture Connect unter anderem 2024 Erste bei den Para Nordic Champs und dem Swiss Cup und vertritt das Vereinte Königreich im Para World Sailing Committee. So sollte ihre nun erfolgreich beendete Rekordfahrt einerseits ein Zeichen setzen für die Rückkehr des Segelsports auf die paralympische Bühne. Vor allem aber sollte es Menschen mit Behinderungen nun zeigen, dass beim Segeln allen Hindernissen zum Trotz viel mehr möglich ist als vielleicht zunächst gedacht. Mehr noch: "Dieses Projekt, Project Fear, hat mich weit über meine Diagnose hinaus am Leben erhalten", beschreibt Turner die positive Wirkung ihres Projekts. Was aber als nächstes kommen solle, habe sie nie geplant, „weil ich nicht wirklich erwartet habe, dass ich so weit kommen würde.“