NachwuchsDeutsche Optis segeln am Kap Hoorn

Marc Bielefeld

 · 21.05.2024

Der Hafen von Puerto Williams. Hier warten stählerne Blauwasseryachten auf Kap Hoorn. Und Kinder auf gutes Wetter zum Optisegeln
Foto: CEDENA
Als Spende gingen vier neue Optimisten aus Deutschland auf die Reise zur südlichsten Segelschule der Welt. Nach einer dreijährigen Odyssee im Atlantik sind sie jetzt im fernen Chile angekommen

Sie sind rot, haben weiße Segel, schwimmen fröhlich durchs eiskalte Wasser und sehen noch immer nigelnagelneu aus. Vier Optimisten aus Deutschland, die nun tatsächlich angekommen sind: am anderen Ende der Welt. Das ist durchaus beachtlich, nach allem, was sie durchgemacht haben müssen, um mit den üblichen Transportmitteln dorthin zu gelangen. Wer aber erfährt, welch eine Odyssee die vier segelnden Seifenkisten hinter sich haben, der wird sogar sagen, das ist sensationell.

Die „Optis“ gehören zu jener 2,30 Meter langen und 45 Kilogramm schweren Bootsklasse, mit der schon Generationen von Kindern das Segeln erlernt haben. Die vier Bötchen, von denen hier die Rede ist, haben allerdings ein besonderes Ding gedreht: Sie haben eine Reise hinter sich, die so wohl noch keine Yacht erlebt hat. Ein Abenteuer, das zum Segelmärchen taugt.

Von Deutschland aus führte ihr furioser Törn zunächst in den Südatlantik. Danach strandeten die vier Mini-Jollen auf fernen Inseln, galten ein Jahr lang als verschollen und brachen abermals auf. Kurs: Südchile, Region Cabo de Hornos. Eine Irrfahrt ohnegleichen. Fast drei Jahre waren die Optis am Ende unterwegs, um letztlich doch noch einzutreffen. Ihr Ziel: ein wackliger Steg kurz vor Kap Hoorn – die südlichste Segelschule der Welt.

Bald wusste niemand mehr, wo sich die Jollen befinden

“Ich dachte schon, ich würde die Boote nie wiedersehen“, sagt Osvaldo Torres. „Zwischendurch wusste niemand mehr so richtig, wo die vier Optis abgeblieben waren.” Torres, 48, hat schon viel erlebt. Er ist in Chile geboren, ging als Teenager zur Marine, lebte mutterseelenallein im Leuchtturm von Kap Hoorn. Danach begann er Yachten zu segeln und wurde zu einem Experten des berüchtigten Seegebiets am Nordeingang zur Drake-Passage. Heute, gut 20 Jahre später, leitet er Expeditionen und gehört zu den wenigen Skippern, die in der stürmischen Inselwelt Chartertörns anbieten: 111-mal hat er das berühmteste Kap der Erde bereits selbst umrundet.

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Inzwischen ist Torres mit einer Deutschen verheiratet und lebt in Bielefeld. Regelmäßig aber weilt er noch immer in der fernen Kap-Region, bricht dort mit seiner Yacht auf und pflegt den Kontakt zur chilenischen Marine. Dem Land seiner Geburt ist er weiterhin eng verbunden. Die einsamen Buchten jenseits der Magellanstraße sind bis heute das Ziel seiner Träume. Doch so beeindruckend die Natur, so bescheiden fallen die Lebensbedingungen in Südamerika aus. Chile ist in weiten Teilen ein armes Land, das gilt auch für die Región de Magallanes im tiefen Süden. „Die Kinder dort haben kein Schwimmbad, kein Kino, keine Sporthalle“, sagt Torres. „Sie müssen mit dem wenigen auskommen, das es da unten gibt.“

Puerto Williams heißt der letzte Ort, bevor 500 Seemeilen weiter südlich die Antarktis beginnt. Ein vom Wind geschütteltes Dorf an der Nordküste der Insel Navarino, vor der Haustür nichts als Berge, Fjorde und der barsche Beagle-Kanal. Gerade mal 2.300 Menschen leben dort, abgenabelt von jeder Komfortzone. Einen kleinen Supermarkt gibt es, zwei Imbissbuden, eine Kirche. Ansonsten: Wildnis. Ohne jegliche Freizeitangebote und eine größere Stadt in der Nähe bleibt vor allem den Jugendlichen nicht viel. Nach der Schule hängen sie im Dorf ab, verkriechen sich, wenn es draußen wieder stürmt.

Der kleine Anleger ist zu einem Ort des sozialen Miteinanders geworden

Seit 2014 jedoch gibt es einen Treffpunkt, der wie eine Oase im Nirgendwo fungiert: Der Club Escuela de Deportes Náuticos (Cedena), gelegen in der Provinz Antártica Chilena, ist die einzige Wassersportschule in ganz Chile, wo Kinder kostenlos segeln lernen können – unabhängig vom Einkommen der Eltern. Für viele ein Lichtblick. Über 500 Jugendliche zwischen sieben und 17 Jahren haben sich hier schon aufs Wasser gewagt. In alten Kajaks, geflickten Neoprenanzügen und betagten Jollen. Und obwohl die kleine Segelschule viel zu wenig Boote hat und jeden Tampen dreimal umdrehen muss, spielt sie im entlegenen Puerto Williams inzwischen eine wichtige Rolle. Der kleine Anleger ist zu einem Ort des sozialen Miteinanders geworden. Zu einer Anlaufstelle für mittellose Kids, die sich nach Perspektiven sehnen.

Osvaldo Torres, selbst in einfachen Verhältnissen aufgewachsen, stammt aus einem kärglichen Bergdorf Chiles. Ein Mann, der heute nicht nur ein dekorierter Segler ist, sondern der auch die Jugend in seinem Land nicht vergisst. Seit ihrer Gründung unterstützt Torres darum die Segelschule in Puerto Williams und engagiert sich für die junge Generation. Er springt ein, wenn er vor Ort ist. Hilft, wo er kann. So lancierte er 2021 auch einen Spendenaufruf in Deutschland. Gesucht: neue Optimisten für die Kids im fernen Feuerland, um die Schule endlich ein bisschen besser auszustatten. Die Aktion brachte genug Geld, um vier neue Optis zu organisieren. Osvaldo Torres kümmerte sich persönlich darum, holte drei Boote an der Ostsee ab, dazu einen Optimisten, den der Kapitän und Schiffs­ingenieur Peter Nibbe aus Buxtehude gespendet hatte. Nun stand allerdings noch eine weitere Aufgabe bevor: Die vier Optis mussten irgendwie in den tiefen Süden Chiles gelangen.

Keine Stürme kommen der Reise schon bald in die Quere, keine Eisberge, keine Havarie. Sondern: Corona!

Kein Pappenstiel: Wir reden über eine Strecke von fast 8.000 Seemeilen, einmal über die halbe Erdkugel. Zudem gibt es weder regelmäßige Schiffsverbindungen nach Puerto Williams noch liegt ein nennenswerter Flughafen in der Nähe. Kurzum: Der Transport würde eine logistische Herausforderung werden. Doch dann nahm seinen Lauf, was man getrost eine ziemlich verrückte Reise über alle Meere nennen könnte. Im Juli 2021 veröffentlicht die YACHT eine Meldung: Gesucht wird Unterstützung, um die Optis Richtung Kap Hoorn verschicken zu können. Prompt meldet sich die Reederei Harren & Partner mit Sitz in Bremen. Man wüsste da vielleicht eine Lösung. Das Unternehmen hat unter anderem das Kreuzfahrtschiff „Hanse Explorer“ unter sich, und die fast 50 Meter lange Expeditionsyacht soll noch vor Weihnachten von Bremerhaven aus über den Atlantik aufbrechen. Ziel: Antarktis – mit einem Stopp im südchilenischen Punta Arenas.

Es passt wie die Faust aufs Auge. Obendrein sagt die Reederei zu, auch noch die Transportkosten zu übernehmen. Es geht schließlich um eine gute Sache, ums Segeln. Und so brechen die vier Optis schon im Dezember 2021 auf. Im Laderaum der „Hanse Explorer“ nehmen sie, ordentlich verpackt, Kurs auf die offene See – steil nach Süden über den Großen Teich. Allein: Keine Stürme kommen der Reise schon bald in die Quere, keine Eisberge, keine Havarie. Sondern: Corona! Während der Pandemie machen auf einmal viele Häfen dicht. Weltweit werden Fahrten gestoppt, Terminals gesperrt, Grenzen abgeriegelt. Schiffe irren umher, liegen auf Reede oder stehen unter Quarantäne.

Lost in UK, tief im Südatlantik

Auch für die „Hanse Explorer“ steht keineswegs mehr fest, ob sie Chile überhaupt noch anlaufen kann. Das Schiff fährt weiter Richtung Antarktis – mit einem einzig möglichen Stopp auf den Falklandinseln. Hier darf die „Hanse Explorer“ kurz einlaufen und einen Teil der Fracht abladen. Hendrik Meyer von Harren & Partner erinnert sich: „Der Kapitän und der vor Ort ansässige Agent kümmerten sich um die Entladung, auch die vier Optis wurden von Bord gebracht. Sie sollten ja nach Chile und nicht in die Antarktis. Außerdem wusste damals niemand, wie alles weitergehen würde. Während der Pandemie herrschte auch auf den Meeren Chaos.“

Nun waren die vier roten Optimisten also gestrandet: Sie lagerten in einem von drei rostigen Schwimmcontainern, vertäut an einem maroden Ponton mitten im Hafenbecken von Port Stanley. Position: lost in UK, tief im Südatlantik. Bald wusste niemand mehr recht, wo sich die Jollen überhaupt befanden. Waren sie womöglich mit einem anderen Schiff unterwegs nach Chile? Hatte der Agent sie sonst wohin verschickt? Oder waren sie gar wieder auf dem Rückweg nach Europa? Die Kommunikation stockte, die Welt steckte in der Pandemie fest – und die Optis vermutlich in Argentinien.

Osvaldo Torres erreichte erst nach Monaten eine Nachricht, dass die Boote wahrscheinlich noch auf den Falklandinseln seien. „Si Señor, vier große Holzkisten, keine Sorge, wir kümmern uns.“ Danach vergingen abermals Monate. Ohne eine Wasserstandsmeldung. Nun, die Welt hatte gerade andere Sorgen, als vier Optis nach Kap Hoorn zu schaffen. Ein ganzes Jahr verging – dann aber bewegte sich etwas: Das Hurtigruten-Kreuzfahrtschiff „Nordnorge“ sollte bald die Falklandinseln ansteuern und danach Punta Arenas anlaufen. Und war bereit, die vier gespendeten Optimisten mitzunehmen.

Die armen Optis hängen abermals fest im chilenischen Zoll

Es kam einem Wunder gleich: Osvaldo Torres hatte bis jetzt ja keinerlei Nachricht erhalten, dass es weitergehen sollte. Die Optis waren zu Geisterschiffen geworden. Umso verblüffter schaut Torres, als Anfang 2023 in Bielefeld das Telefon klingelt. Ein Mann aus Chile ist dran: „Punta Arenas hier. Wir haben Fracht bekommen, angeblich vier Optimisten!“ Der Herr am anderen Ende des Globus ist vom Zoll. Osvaldo Torres atmet auf. „Todo bien!“ Die verschollenen Boote sind endlich in Feuerland! Nur gut 300 Seemeilen sind es jetzt noch von Punta Arenas bis Puerto Williams. Und das sollte machbar sein.

Was Torres jedoch noch nicht weiß: Eine weitere Ewigkeit wird es dauern, bis auch diese Reise weitergehen kann. Denn die armen Optis hängen abermals fest. Der chilenische Zoll hatte vorab zwar entsprechende Papiere erhalten – allerdings auch alle Zeit der Welt, den Fall zu bearbeiten. Die Beamten wollten alles wissen: Was sind das für kleine Boote? Woher kommen sie? Wie teuer sind sie? Für wen? Welchem Zweck dienen sie? Und überhaupt: Ob Torres sie auch nicht in Chile verkaufen will? Segeln gilt hier schließlich als Luxus, und da steht der Verdacht nach einer kleinen Geschäftemacherei schnell im Raum. Torres verlor fast die Nerven. Dutzende Mails musste er schreiben, telefonieren und zahllose Dokumente einreichen, bevor der chilenische Zoll die Optis nach langem Diskutieren freigab. Bis die Boote endlich auf die nächste Passage gehen konnten, verstrich jede Menge Zeit – fast ein weiteres Jahr!

Mitte November 2023 traten die vier tapferen Jollen ihre finale Etappe an

Blick auf den Kalender: Der zeigte inzwischen Mitte November 2023. Und Torres? Der weilte nun selbst in Chile! Die Pandemie vorbei, hatte er an der Westküste soeben eine neue Yacht für seine Kap-Hoorn-Törns erstanden und plante, demnächst selbst von Valparaíso aus loszusegeln. Kurs Süden, Kurs Beagle-Kanal. Es war fast wie in einem überspannten Drehbuch: Wer würde wohl zuerst in Puerto Williams ankommen – er oder die durch die Weltgeschichte streunenden Optis?

Torres hat zum Glück Bekannte im Süden Chiles, darunter Freunde bei der Firma Concremag, die in der Region Magallanes im Bausektor tätig ist. Mitarbeiter hatten die Optis mittlerweile zum Glück vom Zoll abgeholt und in einem Zwischenlager deponiert. Denn bald sollte die Frachtfähre „Yaghan“ die Boote zu ihrem ursprünglichen Bestimmungsort bringen: eine letzte 30-Stunden-Fahrt bis zum Anleger im südlichen Beagle-Kanal. Während Osvaldo Torres also mittlerweile auf seiner eigenen Yacht von Valparaíso gestartet war und nach Süden segelte, traten die vier tapferen Jollen ihre finale Etappe an.

Und so kommt es im März 2024 – nach Tausenden Seemeilen, endlosen Pandemie-Wirren und einem heillosen logistischen Seiltanz – zu einem bühnenreifen Seifen­operfinale. Fast zeitgleich machen Torres und die vier roten Optis nach dieser Schlingerfahrt durch die moderne Zeit am Ende fest: auf 54,56 Grad Süd, direkt an der letzten Segelschule vor Kap Hoorn. Der Steg der Weltumsegler liegt direkt gegenüber, einen Steinwurf entfernt. Willkommen in Feuerland, willkommen am Fin del Mundo!

Zur offiziellen Übergabe steigt eigens eine kleine Feier

Beim Auspacken, drei Jahre nach der Spendenaktion in Deutschland, kommen die vier kecken Dinghys endlich zum Vorschein – und ganz groß raus. Osvaldo Torres ist nun sogar selbst vor Ort, um die Jollen der Schule zu übergeben. Am Anleger in Puerto Williams herrscht an diesem 23. März 2024 gutes Wetter. Kein Sturm, keine Schauerböen. Die Sonne scheint. Gemeinsam mit den Kindern baut Torres die Optis auf der Wiese auf. Steckt die Schwerter, stellt die kleinen Riggs. Hübsch sehen die Boote aus. Wie bunte Enten, die gerade aus ihren Kisten geschlüpft sind.

Zur offiziellen Übergabe steigt eigens eine kleine Feier. Vor dem Holzhaus der Segelschule stehen Vertreter der chilenischen Marine, Eltern sind anwesend, applaudieren. Auch der Bürgermeister von Puerto Williams ist gekommen. Er sagt ein paar Worte, schickt seinen Dank nach Deutschland. Osvaldo Torres trägt an diesem Tag Jeans, Fleecejacke, graue Mütze. Nach fünf Wochen Überführung im Ostpazifik kann er noch nicht so richtig glauben, dass er genau jetzt hier ist. Dass die Optis jetzt wirklich hier sind. Dass nach drei Jahren wahrhaftig alles passt.

Die Kinder der südlichsten Segelschule der Welt haben derweil anderes im Kopf. Ihre vier neuen Seifenkisten haben sie längst runter zum Wasser getragen und sind am Segeln.

Die spendenfinanzierte Segelschule in Puerto Williams bietet Kindern und Jugendlichen aller sozialer Schichten kostenlos eine der wenigen Freizeitmöglichkeiten vor OrtFoto: CEDENADie spendenfinanzierte Segelschule in Puerto Williams bietet Kindern und Jugendlichen aller sozialer Schichten kostenlos eine der wenigen Freizeitmöglichkeiten vor Ort

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