YACHT-Redaktion
· 19.11.2023
„Salut, ich bin Marieke, 25 Jahre alt und würde gern Ihr Schiff kaufen und ein Klavier in die Achterkoje bauen.“ Am anderen Ende des Hörers wird es still. Dann nur noch ein Piepton. Der Eigner hat aufgelegt. Heute reist die mittlerweile 35-jährige Pianistin und Singer-Songwriterin Marieke Huysmans-Berthou mit genau diesem Segelboot namens „Lady Flow“ von Hafen zu Hafen und gibt Konzerte zwischen Fingerstegen und an Kaimauern. Mal vor 20 Menschen in einem abgelegenen Fischerort, mal vor Tausenden auf einem Kulturfestival.
Wenn sie in einem neuen Ort festmacht, fällt sie auf. Einen zwölf Meter langen und pechschwarzen Zweimaster, der beinahe an ein Piratenschiff erinnert, sieht man nicht alle Tage. Wenn Marieke dann noch per Knopfdruck ein Klavier aus ihrer Achterkoje hinauf an Deck fährt, machen Bootsnachbarn große Augen.
Nachdem der vorherige Eigner ihres Schiffs sich Mariekes Musik angehört und festgestellt hatte, dass ihr Anruf kein Telefonstreich war, rief er zurück und verkaufte ihr vor zehn Jahren sein Stahlschiff vom Typ Freedom 40. Inzwischen segelt Marieke nicht mehr allein mit dem zwölf Tonnen schweren und catgetakelten Boot, das bis zu neun Knoten auf die Logge bringen kann. Die Crew der „Lady Flow“ hat in den vergangenen Jahren Zuwachs bekommen: Freund Sebastian Flamin, 49, ihr gemeinsamer Sohn Árann, 5, und Katze Seabird touren mit um die Welt.
Die Französin war 16 Jahre alt, als der Wunsch, ein Nomadenleben als Musikerin auf dem Meer zu führen, immer größere Wellen in ihr schlug. Segelerfahrung hatte sie keine und ein wasserscheues Elternhaus noch dazu.
Mit 20 fiel ihr die französische Abenteuerbiografie „Damien autour du monde“ in die Hände, die sie mehrere Tage nicht mehr aus der Hand legen konnte. Zwei Freunde bauten sich Ende der Sechziger ein zehn Meter langes Holzboot und segelten damit innerhalb von sechs Jahren 55.000 Seemeilen von Spitzbergen bis in die Antarktis. Sie lebten das, wovon die Französin seinerzeit in ihrem Jugendzimmer schwärmte.
„Diese Jungs sind die größte Inspiration für Reisende auf dem Meer. Wenn du etwas ältere französische Segler triffst, kannst du sicher sein, dass dieses Buch Teil ihrer Bordbibliothek ist“, erzählt Marieke und zeigt auf das Buchcover hinter sich, auf dem ein Mann auf einem Bug, segelnd im Treibeis, zu sehen ist. Nach ihrer Lektüre kontaktierte sie Gérard Janichon, den Autor des Buches, und erzählte ihm von ihrer Idee. „Ich wollte wissen, ob er mich für verrückt hielt, mein Umfeld tat es sowieso.“ Der Fahrtensegler überlegte nicht lange: „Vis ton rêve!“, sagte der damals über 60-Jährige zu Marieke, „Lebe deinen Traum!“ Damit begann eine langjährige Freundschaft zwischen den beiden Segelenthusiasten.
„Pianocean“ steht auf einer schwarzen Tafel mit weißer Kreide, darunter eine Skizze der „Lady Flow“, Noten fliegen darum herum. Wenn die Musikerin beginnt, auf dem Heck ihres über 40 Jahre alten Schiffs zu spielen und zu singen, wird es oft flüsterleise im Hafenbecken. Aus ihrer leicht rauchigen Sprechstimme wird eine zarte Gesangsstimme, die berührt. Einige Zuhörer haben die Plakate zuvor in der Stadt oder die Tafel am Hafen erspäht, andere werden von den Klängen an die Kaimauer gelockt. Es wird getuschelt: „Wo kommt die Frau im bodenlangen gelben Kleid her?“ Und: „Hat sie das Klavier immer an Bord?“
„Ich finde es besonders schön, wenn Menschen mein Konzert zufällig beim Schlendern an der Pier entdecken, mir eine Stunde lauschen und danach zu mir kommen und mich umarmen, weil es eine schöne Überraschung für sie war“, erzählt Marieke. Ihre Touren plant die weltoffene Französin im Voraus, sie schreibt Gemeinden, Festivals und Kulturausschüsse an. Diese buchen im Idealfall ihre Konzerte, kümmern sich um die Werbung vor Ort und reservieren der „Lady Flow“ einen prominenten Hafenplatz. Für ihr Publikum sind die Konzerte kostenlos. „Mir ist es wichtig, dass meine Musik allen Menschen zugänglich gemacht wird“, erzählt sie.
Eine Herausforderung für Marieke ist es, die Termine so zu legen, dass sich eine geeignete Segelroute für ihre Familie ohne Zickzackkurs ergibt. Ein Sturm machte bisher noch keinen Strich durch die Konzertreise. „Ich würde lieber einen Gig absagen, als gegen die Elemente anzukämpfen“, sagt sie. 50 Prozent ihrer Einnahmen erzielt sie mit ihrer Gage, 50 Prozent mit dem Verkauf ihrer CDs nach den Konzerten. „Viele Menschen kaufen meine CDs, obwohl sie oft nicht mal einen CD-Player besitzen“, erzählt sie und schmunzelt. Es sei wohl eine Erinnerung an den Moment, und sie wüssten, dass sie Mariekes musikalisches Leben auf dem Meer mit dem Kauf unterstützen würden.
Marieke studierte nach der Schule Musik und tourte anschließend mit einer Jazzband durch Frankreich. Wenn sie einige Wochen freihatte, setzte sie mit einer Fähre zu den bretonischen Glénan-Inseln über. Dort besuchte sie Segelschulkurse. Wer Marieke aus dem Profil – steuerbord – sieht, entdeckt eine tätowierte Galway Hooker auf ihrem Hals. Den irischen Traditionssegler mit einem Haupt- und zwei Vorsegeln ließ sie sich vor vielen Jahren in Irland, ihrem Lieblingsland, als stete Erinnerung an ihr Vorhaben stechen. Auf so einem Boot wollte sie irgendwann die Welt besegeln, nur hochseetauglicher sollte es sein und nicht aus Holz.
Als sie sich im Alter von 25 Jahren zum ersten Mal bereit für ihr erstes Schiff und ihre Selbstständigkeit als Musikerin fühlte, vibrierte ihr Handy. „Ich habe dein Boot gefunden!“, schallte es durch den Hörer. Ihr Segellehrer hatte die Freedom 40 zufällig in einem Hafen in der Bretagne entdeckt und sich an das Tattoo und den Traum seiner Schülerin erinnert.
Wer die „Lady Flow“ von außen betrachtet und mit einer klassischen Freedom 40 vergleicht, erkennt schnell: Die hat aber zwei Bäume! Original ist sie mit sogenannten Wishbones ausgestattet, Gabelbäumen, die an ein Windsurf-Rigg erinnern. Die Doppelsegel sind um den Groß- und Achtermast gelegt. Aufgrund der schwer zu handhabenden Gabelbäume entschied sich Marieke vor ein paar Jahren, stattdessen zwei herkömmliche Bäume und zwei klassische Segel zu riggen. Die kann sie dank eines Rollenlagers aus übergroßen Perlen, wie man es von einigen Traditionsschiffen kennt, auch allein setzen. Freistehend sind die beiden imposanten schwarzen Masten aus Kohlefaser aber weiterhin.
Der Segler Gary Hoyt hatte Freedom Yachts 1976 gegründet; alle Boote wurden von der Werft Tillotson Pearson in Rhode Island in den USA gebaut. Sie sind selten in Europa. Eine weitere Freedom 40 ist Marieke bisher nur einmal vor Südenglands Küste begegnet. Auf einer zukünftigen Tour in den USA hofft sie, deutlich mehr Schwesterschiffe am Horizont zu erspähen.
Wie aber lässt sich ein gut eineinhalb Meter breites und mehrere Hundert Kilogramm schweres Klavier, ein Feurich 122, auf einem Segelboot so unterbringen, dass es im Hafen aus der Kajüte zur Bühnenshow hinauf an Deck befördert werden kann? Darüber zerbrach sich Marieke gemeinsam mit einer Gruppe verrückter Kreativer, darunter Mechaniker, Ingenieure, Segler, Bootsarchitekten und Rigger, monatelang den Kopf. Angeführt von Bootsbauer Denis Kergomard, der eigentlich auf Mehrrumpfer spezialisiert ist, machten sie sich ans Werk. Gesehen oder geplant hatte zuvor noch niemand einen Klavier-Fahrstuhl in einem Schiffsrumpf, umso größer war der Ansporn.
„Es hat uns Monate gekostet, herauszufinden, wie wir es hinbekommen, das Piano hoch- und runterzufahren. Letztendlich entschieden wir uns aus Platzgründen für einen mechanischen statt hydraulischen Antrieb. Wir befreiten das Klavier von seinem Holzmantel und bauten einen Carbonkörper drum herum, um Gewicht zu sparen“, berichtet Marieke. 250 Kilogramm bringt es trotzdem noch auf die Waage.
Ins Deck haben sie ein großes Loch geschnitten und aus den Brettern eine Luke gebaut. Bevor Marieke ihre Konzerte startet, öffnet sie zwei schwere Klappen; per Knopfdruck lässt sich das Klavier dann in wenigen Minuten an Deck fahren. Mikrofon, Soundsystem, Klavierhocker, Licht – fertig ist die schwimmende Bühne.
Wie beim Segeln ist „Pianocean“ auch bei ihren Outdoor-Konzerten dem Spiel der Elemente ausgeliefert. Wenn es während eines Konzertes nur mal kurz nieselt, kann Marieke eine Schutzhülle über ihr Klavier stülpen. Bei stärkeren Regenfällen musste sie in der Vergangenheit aber schon Konzerte unterbrechen, vor allem in Irland. „Dann sage ich mitten in einem Song, dass ich das Konzert leider abbrechen muss. Die Crew stürmt an Deck, baut alles ab, das Piano fährt runter – und au revoir!“ Marieke lacht, wenn sie von solchen skurrilen Momenten erzählt.
Nach jedem Regenbogen ging es bisher stets weiter. In Norwegen geriet das Tastenspiel aus anderem Grund zur Herausforderung: der Kälte. Marieke spielte oft mit Handschuhen, Mütze, Schal und einer dicken Jacke, um den Temperaturen um den Gefrierpunkt zu trotzen. Jetzt freut sie sich über Kurs Süd, der auch ihrem Sohn mehr Freiräume ermögliche.
Fast jedes Jahr in einem neuen Land touren, solange sie Lust dazu hat – das ist Mariekes Masterplan. Nach zwei Jahren Bootsarbeiten startete sie 2015 im Mittelmeer, segelte 2016 bis 2018 in der Bretagne, 2019 in Irland, 2021 in Schottland und ein Jahr später auf den Shetland-Inseln und in Norwegen. Vor Kurzem fand das Grande Finale ihrer Azoren-Tour statt.
Nach mehrtägigen Überfahrten benötigt das Klavier im nächsten Hafen stets ein bis zwei Tage, um sich zu akklimatisieren
Der Wohlfühlbereich ihres Tasteninstrumentes liegt bei 50 Prozent Luftfeuchtigkeit. Das hielt die Französin aber nicht davon ab, auch schon mal während des Segelns an Deck zu spielen. „Die Feuchtigkeit an sich ist nicht das Problem, sondern große Feuchtigkeitsschwankungen, wie zum Beispiel in der Mittelmeerregion“, erklärt Marieke. Um ein geeignetes Mikroklima zu schaffen, hat sie zwei „Piano Life Saver“-Systeme, welche die Luftfeuchtigkeit konstant bei 50 Prozent halten sollen, am Klavier installiert. Sie zeigt auf kleine Schläuche, die sich wie Schlangen um den Klangkörper winden. Die Systeme laufen durchgängig, wenn die „Lady Flow“ Landstromanschluss hat. Nach mehrtägigen Überfahrten benötigt das Klavier im nächsten Hafen stets ein bis zwei Tage, um sich zu akklimatisieren – so wie die Segelcrew auch. Kurz vor jeder Tour stimmt Marieke außerdem ihr Instrument – 88 Noten – in einem aufwändigen Prozess, den sie von einem Spezialisten über Jahre hinweg erlernt hat.
Stehen Marieke und ihr Klavier nicht im Rampenlicht an Deck, wird die Achterkajüte, die ab und zu als Gästekoje für Freunde und Familie dient, zum Tonstudio für Pianocean. Schwarzer Tee aus Irland dampft auf dem Regal, Seabird schnurrt um Aufmerksamkeit, und Marieke blättert konzentriert in einem ihrer vielen schwarzen Notizbücher mit Erinnerungen, Aquarellmalereien und Songentwürfen. Durch die zwei großen Fenster am Heck kann sie das Hafentreiben beobachten. Ihre Lieder sind inspiriert vom Leben an Bord, von den Menschen, die sie trifft, von lokalen Kulturen und Geschichten. Jedes Album, das sie veröffentlicht, gleicht einem musikalischen Reisetagebuch.
Die Songwriterin schreibt ihre Texte oft in den lokalen Sprachen, als Hommage an die Orte, die sie bereist: auf Norwegisch, Katalanisch oder Irisch-Gälisch. Hilfe bekommt sie von Einheimischen. Manchmal hört man in den Liedern im Hintergrund den Wind pfeifen oder Möwen kreischen.
Eines ihrer Highlights spielte sich in Schottland ab. Kurzfristig war ihr Konzert, das sie vor zwei Jahren auf der Isle of Skye geben wollte, abgesagt worden. Der Zufall brachte die kleine Segelfamilie dann auf die Isle of Canna, die westlichste der vier Kleinen Inseln in den Inneren Hebriden. „Wir haben im Nebel an der bröckelnden Pier festgemacht, sind durch die malerische Landschaft zum einzigen Restaurant der Insel gewandert und erzählten dem Eigentümer bei einem Bier von unserem Pech. Der sagte daraufhin: ‚Wenn ihr hier morgen ein Konzert spielt, lade ich alle Inselbewohner ein‘, und er ergänzte stolz: ‚Wir sind 19 insgesamt.‘“
Das ungewöhnliche Konzert fand tatsächlich am nächsten Abend statt. Alle Bewohner von Canna pilgerten zum Anleger. Kurz danach meldete sich jemand von einer der Nachbarinseln – der Inselfunk tat sein Bestes. Schlussendlich gab Marieke auf allen vier Inseln Konzerte. „Alles war improvisiert. Wir haben abends gemeinsam frisch gefangenen Hummer an der Pier gegrillt, sind mit den Einheimischen ins Gespräch gekommen, alle haben Geschenke für uns mitgebracht und sich so sehr über die Musik gefreut. Das war wunderschön“, erinnert sich die Sängerin.
Marieke entschloss sich zudem schon nach dem ersten Konzert, einen Song über die vier Inseln zu komponieren und jeder einen Vers zu widmen. „Den ersten Vers habe ich auf Canna geschrieben. Die Zuschauer auf der zweiten Insel, der Isle of Eigg, konnten dann zwei Versen und dem Chorus lauschen, und die Leute auf der vierten Insel, der Isle of Muck, das ist die kleinste von allen, hörten den ganzen Song mit Blick auf den Atlantik“, erzählt Marieke.
Der „Small Isles Song“, den sie später auch für das Pianocean-Album „Cap au Nord“ aufnahm, erzählt von Fischern, tief hängenden Wolken und riesigen Vogelkolonien.
Rund die Hälfte des Jahres verbringt die Familie auf See. Im Winter mieteten sich die drei in ein kostengünstiges Airbnb in Frankreich ein. Der Sohn tauscht dann Boat Schooling im Salon gegen die Schulbank im Klassenzimmer. Und für die „Lady Flow“ stehen wie jedes Jahr zahlreiche Refits an. Allein im letzten Winter haben Marieke und Sebastian das Teakdeck saniert, das Elektrosystem erneuert, den Motor überholt und den Mast gelegt, um einen Riss zu beseitigen. Dieses Jahr bleibt das Boot auf den Azoren. 2024 möchte Marieke mit ihrer schwimmenden Bühne Madeira und die Kanarischen Inseln ansteuern. Danach: Kurs Abenteuer!
Die drei und das Crewmitglied auf vier Pfoten wollen mit Zwischenstopp auf den Kapverden über den Atlantik bis nach Brasilien und danach via Karibik weiter nordwärts über den Intracoastal Waterway, die 4.800 Kilometer lange Küstenwasserstraße entlang der Atlantik- und Golfküste in den Vereinigten Staaten. Ihr Ziel ist Kanada.
Auf die Atlantiküberquerung freut sich Marieke weniger, dafür aber umso mehr auf das entspannte Küstensegeln. „Was ich am Segeln mag, ist das Ankommen an einem neuen Ort und neue Menschen kennenzulernen.“ In einem ihrer ersten Songs, den Marieke während eines Mittelmeertörns komponiert hatte, heißt es: „Der Ozean erinnert dich daran, wie wunderschön das Land ist.“
Text: Katharina Charpian
Die freie Journalistin Katharina Charpian lebt selbst auf einem Segelboot. Im Hafen von Gijón in Nordspanien machte sie zufällig neben Marieke und ihrer Familie fest. Noch mehr Menschen, die auf ihren Booten leben, porträtiert sie in ihrem neuen Buch „Boatlife – Leben und Freiheit auf dem Wasser“ (Gestalten Verlag, 50 Euro).