KI-ReportDiese Branchenzweige nutzen künstliche Intelligenz – und wo Handarbeit weiterhin unverzichtbar ist

YACHT-Redaktion

 · 30.09.2025

Ersetzt ein Computerprogramm künftig den Skipper und Steuerungselektronik die Crew?
Foto: Storychief-KI/YACHT/Michael Amme
Künstliche Intelligenz wird die Lebens- und Arbeitswelten in nahezu allen Bereichen verändern. Werften, Elektronikfirmen, Marinas oder Händler betrachten das Thema aktuell noch heterogen – langfristig ist aber klar, dass auch der Segelsport mehr und mehr digitalisiert wird.

Text von Jörg Müller-Dünow

Noch ist es Utopie: Eine Yacht segelt den errechneten Track eigenständig zum Zielhafen, weicht unterwegs Schauerböen aus und hält sich dabei an die Seeschifffahrtsstraßenordnung. Der Zeitpunkt zum Ablegen wurde auf Basis von Wetter- und Strömungsdaten sowie des Polardiagramms errechnet. Vier Meilen vor dem Hafen reserviert eine Software online den ruhigsten Liegeplatz, motort zur zugewiesenen Box, hält die Yacht dort gegen den Seitenwind auf der Stelle – der Eigner muss nur noch die Leinen ausbringen.

Schöne neue Welt? Dank künstlicher Intelligenz (KI) ist dieses Szenario rein technisch keine Zukunftsmusik mehr. Allein eine funktionierende Vernetzung der Systeme fehlt noch. Doch keine Frage: Die KI wird bald auch den Segelsport tiefgreifend verändern.


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„Bis 2027 schon könnten bis zu 25 Prozent der Routinetätigkeiten weltweit automatisiert werden“, zitiert KI-Experte Marcus Bastian Prognosen der OECD und von Goldman Sachs. „Diese Entwicklung betrifft Juristen ebenso wie Analysten oder Designer und macht vor der Yachtbranche nicht halt.“

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Das Feld möglicher Anwendungen ist nahezu grenzenlos. Schon lange setzen zum Beispiel die Teams im America’s Cup bei der Optimierung der Boote auf maschinelles Lernen (ML) und KI. Das „Docksense“-System von Raymarine soll automatisierte Anlegemanöver ermöglichen. Sunreef Yachts nutzt künstliche Intelligenz für die Steuerung von Solar- und Batterieladezyklen. In Marinas soll KI künftig das Management der Gastlieger übernehmen. Yachthändler könnten durch den Einsatz von Marketingautomatisierungs-Software die Ansprache neuer Interessenten systematisieren und die Wiederverkaufschancen bei Bestandskunden steigern.

Wo also steht der Segelsport konkret? „Die Branche ist traditionsbewusst und zählt gewiss nicht zu den Vorreitern im Einsatz künstlicher Intelligenz“, so KI-Experte Bastian. „Aber gerade junge Unternehmen treiben die Entwicklung.“

Menschliche Crews unterstützen, nicht ersetzen

Ein Beispiel ist Sea.AI: Die Firma entwickelt Kamerasysteme, die im Wasser treibende Objekte entdecken und vor ihnen warnen sollen. Patrick Haebig , Business Developer für die EMEA-Region, erklärt: „Sea.AI ist wie ein Extra-Paar Augen an Bord, das nicht blinzelt und selbst in totaler Dunkelheit klar sieht.“

Das Sichtfeld sei deutlich breiter als beim Menschen, Ermüdungserscheinungen gebe es nicht. In der nächsten Ausbaustufe sollen – zusätzlich zu den optischen und thermischen Kameras – auch Radar- und AIS-Daten von der Software mit in die Gefahrenanalyse einbezogen werden.

Sea.AI soll die menschliche Crew nicht ersetzen, sondern unterstützen“, so Haebig, die Lösung übernehme die Aufgabe eines Ausgucks, der kontinuierlich die Wasserfläche betrachtet, Objekte identifiziert und bewertet, ob ein Alarm ausgelöst werden muss. Selbst der Blas eines Wals, der nur wenige Sekunden als dünner Nebel über dem Wasser sichtbar ist, werde erkannt.

Die interne Datenbank, von der die KI lernt, speichert mehr als 150 Millionen Bildinformationen über mögliche Gefahrenquellen. „Künstliche Intelligenz wird eine wichtige Rolle im Yachtsport spielen“, verspricht Haebig und betont: „KI muss transparent, unterstützend und nutzerfreundlich sein.“ Sea.AI konzentriert sich übrigens nicht allein auf den Freizeitmarkt: Die Produkte dienen auch der Seenotrettung oder Behördenfahrzeugen, etwa um Personen im Wasser aufzufinden.

Entlastung der menschlichen Intelligenz

Deutlich bodenständiger steigt Yachtino in die KI-Technologie ein. Die Firma hinter Portalen wie Yachtall.com oder Happycharter.com will bis Ende des Jahres die Suchergebnisse ihrer Nutzer automatisch optimieren. „Wir wollen wissen, welches Boot der Kunde kauft, bevor er es selbst weiß“, sagt CEO Carsten Rettig. „Unsere Software soll lernen, was der User sucht und welche Kriterien ihm wichtig sind, und ihn dann mit individuellen Angeboten versorgen, die exakt seinem Suchverhalten entsprechen.“

Im Luxus-Segment hingegen steht die vertrauensvolle Beziehung zwischen Kunde und Berater an erster Stelle. Das erklärt Stuart Isaacs, Marketing Director beim Charter- und Brokerhaus Ocean Independence: „Wir setzen künstliche Intelligenz ein, um die menschliche Intelligenz zu stützen, aber hauptsächlich für verwaltungsintensive Aufgaben, die traditionell einen Großteil der Zeit unserer Consultants in Anspruch genommen haben.“

Hier soll Software die Broker entlasten, damit sie sich auf die Akquise, den Aufbau von Beziehungen und die Kundenbetreuung konzentrieren können. „Da im Yachting der Mensch im Vordergrund steht, darf Effizienz nicht auf Kosten der persönlichen Beziehungen gehen. Allerdings sind wir immer noch dabei, herauszufinden, wie wir die KI am intelligentesten einsetzen und wie wir sie im Unternehmen ohne unbeabsichtigte Folgen einführen können. Obwohl wir viel Potenzial sehen, sind wir vorsichtig“, so Isaacs.

Reifegrad in der Branche unterschiedlich

Hanseyachts etwa nutzt KI aktuell vorrangig in der Administration. Microsoft Copilot oder ChatGPT unterstützen bei Texten, Analysen oder Präsentationen. Im Marketing setzt die Werft auf die automatisierte Produktion von Werbemitteln und deren Verbreitung.

„In verschiedenen Abteilungen werden KI-gestützte Auswertungen und Dashboards genutzt, um datenbasierte Entscheidungen zu beschleunigen“, sagt Hanse-CEO Hanjo Runde. Die Erfahrungen seien positiv: „Viele Routineaufgaben werden automatisiert, was den Mitarbeitenden Freiräume für strategischere Aufgaben gibt. Dank KI-gestützter Analysen stehen relevante Informationen schneller zur Verfügung“, so Runde weiter.

Zudem führe Automatisierung und bessere Ressourcenplanung zu Einsparungen und einer zielgruppengenaueren Kommunikation. Die Greifswalder wissen gleichwohl: „Organisatorisch entstehen auch neue Anforderungen. Etwa an Kompetenzen im Umgang mit KI-Tools oder an Datenschutz und Governance“, so Runde.

Auch im Zusammenspiel mit den Vertriebsorganisationen sieht Runde Bedarf: „Der Reifegrad bei unseren Handelspartnern ist unterschiedlich. Einige Händler setzen bereits eigenständig KI-basierte Tools für Kundenkommunikation oder Lead-Management ein, andere stehen noch am Anfang dieser Entwicklung.“

Von der Denk- und Rechenleistung des Computerhirns profitieren

Bei Bavaria Yachts in Giebelstadt bleibt die Automatisierung bisher ebenfalls auf die Verwaltung beschränkt. „Die Produktion ist in ihren Betriebsabläufen noch sehr handwerklich geprägt. Es wird noch viel Hand angelegt“, erklärt Bavaria-Pressesprecher Marcus Schlichting.

Die Partner der Werften sind da schon einen Schritt weiter: Im Yachtdesign etwa gehören KI-Tools zum Standard. Wo früher an physischen Modellen getestet wurde, wird heute mit hydrodynamischen Simulationen und digitalen Zwillingen künftiger Rumpfformen die Performance neuer Modelle erprobt.

Judel/Vrolijk-CEO Johan Siefer etwa erklärt: „Beim Yachtentwurf kommen Tools zur Datenanalyse und bei der Bildbearbeitung zum Einsatz.“ Hier liege ein wichtiger Schwerpunkt auf der Auswertung großer Datenreihen. Bei aero- oder hydrodynamischen Berechnungen setzen die Bremerhavener eigenentwickelte Prompts und Prozesse auf Basis von OpenAI ein und profitieren so von der Denk- und Rechenleistung des Computerhirns.

Ohne das Menschliche ist Kreativität kaum möglich

Schier grenzenlos scheint das Potenzial für den Einsatz von KI in den Werften. Erste Hersteller erproben kamerabasierte KI-Systeme, die Fehler und Unregelmäßigkeiten im Fasergelege erkennen, bevor die Harzinfusion startet. KI-gesteuerte Präzisions-Roboterarme positionieren Composite-Lagen und Bauteile. Die Lagersoftware kann Verbrauchsprognosen berechnen und Werkstoffe automatisch nachbestellen. Für die großen deutschen Serienwerften ist dies jedoch noch Zukunftsmusik.

»Die Produktion ist in ihren Betriebsabläufen noch sehr handwerklich geprägt – es wird noch viel Hand angelegt.«

Yachtdesigner Lorenzo Argento, der schon für Beneteau oder Y-Yachts zeichnete, ergänzt: „KI hat einen massiven Einfluss auf unsere gesamte Arbeit.“ Die möglichst realistische Darstellung von Yachtdesigns und -details gehört zu Argentos Kerngeschäft. „Wir nutzen einige Tools für die generative Bilderstellung, die leistungsstark und unglaublich schnell sind.“ Seinen Kunden falle es oft nicht leicht, zweidimensionale Planzeichnungen zu verstehen. Daraus entstehe der Wunsch nach fotorealistischen Bildern. Generative KI sei hier eine echte Hilfe, so der Designer: „Man kann in Echtzeit mit den Ergebnissen spielen.“ Zugleich weist er auf die Grenzen der KI hin: „Diese Tools reproduzieren immer nur das bereits Bekannte.“ Um wirklich von Grund auf kreativ zu sein, brauche es also immer die menschliche Komponente und Kreation.

KI im Bordalltag

Im Bordalltag der Segler beeinflusst KI vor allem die Nutzung der Bordelektronik und Hafeninfrastruktur. Das Start-up Predict Wind führt in einer neuen Lösung Wetter- und Leistungsdaten des jeweiligen Bootes zusammen, um präzise Routings zu ermitteln. Dafür analysiert eine KI in der NMEA-Blackbox während des Segelns die Leistungsdaten der Yacht und erstellt aus den gesammelten Informationen „AI Polars“. Diese geben nicht nur das theoretische Geschwindigkeitspotenzial wieder, sondern die individuellen Daten aus der Segelpraxis. Denn das Standard-Polardiagramm der Werft berücksichtigt eben nicht die Fähigkeiten der segelnden Crew.

Auch das Elektronik-Start-up Orca integriert KI-Funktionalitäten in ihre Software. „Ein Schlüsselbereich ist die Verbesserung von Wettermodellen, wo KI die Genauigkeit erhöhen kann“, so Mitgründer und CEO Jorge Sevillano. Außerdem arbeite Orca an der Optimierung von Routing-Empfehlungen und der Vorhersage von Wartungsintervallen auf KI-Basis. Die hausinternen Produktentwickler wiederum setzen selbst KI im Entwicklungsprozess ein, so Sevillano weiter: „Künstliche Intelligenz ist bereits ein grundlegender Bestandteil unserer Produkte und Prozesse.“

»Der Liegeplatz wird über eine App gebucht und online bezahlt. Die App leitet den Kunden an seinen Liegeplatz, wo er online eincheckt.«

Personalloser Hafenbetrieb soll Qualität der Kundenbetreuung heben

Die deutsche Software-Schmiede Up2Boat entwickelt Systeme für die Verwaltung von Marinas. Gründer Andreas Haberer erklärt, was bald möglich sein wird: „Der Liegeplatz wird über eine App gebucht und online bezahlt. Die App leitet den Kunden an seinen Liegeplatz, wo er online eincheckt. Nach dem Check-in kann er seine Stromsäule aktivieren und der Stromverbrauch wird auf seine Sammelrechnung geschrieben. Mit gültiger Buchung wird die Zutrittskontrolle zum Steg und zur Sanitäranlage geöffnet und die Waschmaschine gestartet. Ist der Buchungszeitraum beendet, deaktiviert die Software alle Zugänge. Bei Bedarf kann der Hafenbetreiber vom heimischen Sofa aus mit seinem Tablet Türen öffnen, die Stegbeleuchtung einschalten oder Strom freischalten.“

UP2Boat simuliert diesen Betrieb anhand des digitalen Zwillings einer echten Marina. Das Ziel: der personallose Hafenbetrieb. „Wir wollen Raum dafür schaffen, dass sich der Hafenmeister zuerst um das Wohlergehen der Kunden kümmern kann und das eher lästige Tagesgeschäft im Hintergrund automatisch läuft“, so Haberer.

Ein weiterer Prototyp beschäftigt sich mit der Auslastungsprognose in Marinas auf Basis von Vorjahres-Belegungsdaten, Ferientagen, Wetterinformationen oder Veranstaltungen in der Nähe. Hafenbetreiber gewinnen hieraus Informationen für ihre Personalplanung, die Auslastung von Restaurants und Shops, können gezielt die umsatzträchtigeren Yachten berücksichtigen und müssen ihre Liegeplätze nicht über externe Buchungsportale vermarkten.

KI wird auch im maritimen Bereich zentral

Die Hafengruppe Port Adhoc mit Marinas in Frankreich, Holland und Schweden nutzt künstliche Intelligenz primär für die Datenanalyse im Finanzbereich. Neben dem Zeitgewinn verspricht sich das Unternehmen dadurch neue Erkenntnisse über das Geschäft. „Generell erwarte ich schnellere, umfassendere und komplexere Datenmodelle, die Unternehmen mehr Einblicke in ihre Geschäfte verschaffen“, sagt Jorin Bijl, Managing Director Port Adhoc Nederland. „Ich gehe auch von einem vorübergehenden Anstieg der Datenfehler aus, da KI ohne fundiertes Prompting zu Interpretationsfehlern neigt.“ Aktuell müsse sorgfältig überwacht werden, dass die Datenauswertung nicht verzerrt werde. Aber: „Ich rechne damit, dass sich die künstliche Intelligenz in den kommenden Jahren schnell verbessern wird, sodass diese Herausforderung abnehmen wird.“

Ganz gleich also in welchem Bereich: „Künstliche Intelligenz wird für unsere Industrie zunehmend zentral“, erwartet Philip Easthill, Generalsekretär des in Brüssel ansässigen Verbands der Europäischen Bootsindustrie EBI.

Karsten Stahlhut, Geschäftsführer im Verband Maritime Wirtschaft Deutschland, sieht in der künftigen Nutzung von KI einen klaren Nutzen für die Branche: „Die Effizienz wird besser und könnte hier und da Lücken beim Fachkräftemangel füllen. Schließlich hat unser Verband viele kleine und mittelständische Unternehmen, wo der Chef selbst Werkstatt, Buchhaltung, Marketing – also alles in einem ist.“

»Der Anspruch darf nicht lauten, dass die KI den Menschen vollständig ersetzt – der erfahrene Skipper bleibt am Ruder.«

Besonders diese Unternehmen könnten stark von KI profitieren, denn jede eingesparte Bürokratie-Minute könne in eine produktivere für Dienstleistungen genutzt werden, so Stahlhut. „Daher gehe ich auch nicht davon aus, dass sich die Personaldecken maßgeblich verändern, das tun sie aufgrund der Demografie ohnehin. Da kommt die KI gerade zur rechten Zeit.“

Bei allem Optimismus sieht Philip Easthill aber auch Herausforderungen: „KI erfordert Investitionen in digitale Kompetenzen und Infrastruktur.“ Ein klares Augenmerk verdienten auch die Aspekte Sicherheit, Datenschutz und Compliance. „Wer trägt die Verantwortung bei KI-Fehlern? Wie schützen Anbieter ihre smarten Systeme vor Hacks? Und gerade auf See muss eine Frage ganz oben stehen: Kann ich mich wirklich blind auf die KI verlassen?“, legt KI-Experte Marcus Bastian den Finger in die Wunde. „Der Anspruch darf nicht lauten, dass KI den Menschen vollständig ersetzt – der erfahrene Skipper bleibt am Ruder.“

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