Stets um diese Jahreszeit muss ich ans dänische Gedser denken, wo wir vor einigen Jahren gestrandet sind: Eine schöne Herbsttour sollte es werden. Dann aber tobt ein Sturm los, wie ich ihn noch nie erlebt habe. Unsere arme „Alte“ wird hin- und hergeschleudert, und ich danke Gott, dass wir uns angeleint haben. Als wir in Gedser einlaufen, sehe ich, dass bereits mehrere Boote längsseits an einem Steg liegen; ansonsten ist der Hafen leer. „Was für ein Wetter!“, sagt ein netter Mann, der uns beim Anlegen hilft. „Da will man ein Mal im Jahr mit der Frau segeln gehen, und dann das.“ Er stellt sich als Norbi aus Salzgitter vor, seine Frau hinter ihm sieht genervt aus.
„Wenn ihr wollt, könnt ihr rüberkommen“, lädt er uns freundlich ein. „Das ist aber nett! Wir ziehen uns nur schnell was Trockenes an“, erwidere ich. Norbi freut sich: „Ich habe Holundersaft. Da sind viele Vitamine drin. Wir können auf den Sturm anstoßen.“
„Ich habe gar keine Lust, jetzt mit anderen Leuten zu reden“, sagt mein Mann kurz darauf im Salon. Er wolle lieber in Ruhe auf dem Schiff hocken und sich übers Wetter aufregen. „Und dann auch noch Holundersaft. Viele Vitamine. Pah!“, nörgelt er weiter. Mir hingegen ist nach Gesellschaft. „Die sind doch nett. Komm, lass uns rübergehen.“ Gesagt, getan. Auf Norbis Boot sind bereits mehrere Leute versammelt, offenbar ebenfalls hier Gestrandete. „Hallo, ich bin Heinz, aber alle nennen mich Rübe“, stellt sich ein älterer Herr mit Elbsegler und Pfeife vor. Ein bisschen sieht Rübe aus wie Hans Albers. Ein Kauz, aber sympathisch. Neben ihm sitzen Hilke und Senta, Zwillingsschwestern und Professorinnen der Rechtsmedizin im Ruhestand. Ferner ein junges Ehepaar in kratzig aussehenden Norwegerpullovern: Anne und Frederik aus Hamburg, Studenten der Soziologie und Philosophie. Last, but not least Leif und Beppo aus Greifswald, ein jungvermähltes Paar, das gerade den Segelschein gemacht hat und noch nicht so gut mit ihrer „Glitzerbarbie“ umgehen könne. „Wir sind passionierte Pilzsammler. In dieser Gegend gibt es angeblich den Blutblättrigen Hautkopf, der ist giftig. Hoffentlich finden wir einen!“
Ich schaue meinen Mann an. Der sitzt stocksteif da und macht ein zum Wetter passendes Gesicht. „Was will man bitte schön mit einem giftigen Pilz?“, fragt er mit einer Portion Sarkasmus in der Stimme. Bevor die Angesprochenen antworten können, mischt sich Anne ein: „Du, so pauschal kann man so eine Frage gar nicht stellen.“ Es könne ja sein, dass Leif und Beppo aus bestimmten Gründen nach diesem Pilz suchten, dass das alles eine Bedeutung habe. Vielleicht sei „etwas in der Kindheit schiefgelaufen“. Mein Mann starrt Anne nur an. „Aha. Und deswegen sammelt man dann giftige Pilze“, stellt er trocken fest. Frederik springt seiner Frau bei: „Es ist doch nur eine Möglichkeit. Der Pilz kann ein Symbol sein.“ Soso. „Noch jemand Holundersaft?“, unternimmt Norbi einen Versuch, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken. Keiner antwortet. „Meine Kindheit war okay“, sagt Beppo leicht angesäuert. „Die Pilze haben nichts damit zu tun. Da muss man gar nicht so giftig sein.“ Beppo ist beleidigt, was meinen Mann nicht anficht : „Ich bin nicht giftig!“ Er betont jedes Wort einzeln. „Das war ein Wortwitz!“, ruft Beppo und wird von Rübe unterbrochen: „Gibt es auch was anderes als Holundersaft?“
„Ach, das wäre schön“, sagt Hilke oder Senta. „Als wir noch gearbeitet haben, haben wir auch gern mal tagsüber ein Likörchen genommen“, ergänzt die andere. „Im Sektionssaal?“, fragt Anne erstaunt. Die beiden nicken. „Manchmal muss man da gute Nerven haben. Da hilft ein Likörchen, ist gut für die Seele.“ Norbi indes schüttelt bedauernd den Kopf: „Also ich hab leider gar keinen Alkohol an Bord. Aber ich hab Reiswaffeln. Möchte jemand?“
Du meine Güte!“, sagt mein Mann später, als wir auf der „Alten“ sitzen. „Was für eine Truppe! Ich guck mal nach dem Wetter. Ich will so bald wie möglich hier weg. Lange halte ich das nicht aus.“ Allein das Wetter verspricht keine Besserung. Es soll noch ein paar Tage stürmen. Und wie das so ist in der Not, wächst aus uns sehr unterschiedlichen Menschen allmählich eine Gemeinschaft. „Wollen wir Karten spielen?“ oder „Wer geht mit auf einen Spaziergang in den Wald?“, heißt es bald.
Norbi entpuppt sich dabei als fachkundiger Waldschrat. Er weiß alles über Schädlinge. „Ich bin Baumchirurg“, erzählt er, während wir durchs Geäst stapfen. „Besonders hat es mir die Wollige Napfschildlaus angetan.“ Weiterhin erklärt Norbi, dass Buchenspringrüssler Lochfraß verursachen, der Eichenprozessionsspinner ein nervenaufreibender Schädling ist und es recht viele Lausarten gibt. Höhlenschildläuse, Pockenläuse, Schmier-und Wollläuse und was weiß ich nicht noch alles. Merkwürdigerweise oder vielleicht weil wir sonst nichts zu tun haben, hören wir anderen interessiert zu und stellen Fragen. Nur mein Mann, der sagt nichts.
Zum Glück hat Rübe einen schier unerschöpflichen Vorrat an Weiß- und Rotwein an Bord. Er versorgt uns gern und reichlich. Meist sitzen wir deshalb bei ihm im Salon und reden nicht selten bis spät in die Abendstunden. Es ist Tag sechs, als wir uns zum wiederholten Mal Anekdoten aus unser aller Leben erzählen: „Wir hatten mal einen auf dem Tisch liegen, Herzinfarkt“, beginnt Hilke, oder war es ihre Schwester? „Den kannten wir!“ Norbis Frau Lena wird blass: „Oh Gott! War das nicht schrecklich für euch?“, meint sie mitfühlend. Doch: „Nein, wir wussten, dass der kommt. Der hatte gedacht, er käme davon. Aber nicht mit uns!“ Wahrscheinlich Hilke hebt die Hand und ballt sie zur Faust : „Dem haben wir es aber gezeigt!“
„Wie bitte, ihr habt den umgebracht? Warum das denn?“, fragt mein Mann nun zum ersten Mal wirklich interessiert. „Unfug“, sagt Hilke. „Er hatte tags zuvor einen normalen Herzinfarkt. Ich gebe zu, dass er sich kurz davor ein bisschen über uns aufgeregt hat. Aber unserer ‚Käthe‘ fährt man eben nicht mal einfach so ins Heck und denkt dann, man könne einfach abhauen.“ Die Schwester nickt : „Der richtet mit seinem Boot keinen Schaden mehr an!“
In der Not wachsen wir zu einer Gemeinschaft zusammen – und werden zu Mitwissern wahrhaft finsterer Geschichten.”
Stille. Schließlich fragt mein Mann: „Und keiner hat was gesagt?“ Eine der beiden antwortet : „Na, er selber konnte ja nicht mehr. Und sonst wusste keiner davon. Nur ihr jetzt.“ Wieder Stille.
Irgendwann räuspert sich Norbi. „Eigentlich wollte ich nie heiraten“, kommt es plötzlich aus ihm heraus. „Lena hat mich damals angelogen, sagte, sie sei schwanger.“ Lena wird rot. „War ich ja auch!“ Doch das lässt Norbi nicht so stehen: „Ja“, kontert er, „drei Monate später. Schönen Dank!“ – „Dann lassen wir uns eben scheiden“, kommt es nun etwas zu schnell von Lena. „An mir soll’s nicht liegen.“ Da mischt Leif sich ein: „Also ich würde eine so attraktive Frau wie Lena nicht einfach ziehen lassen.“ Da aber hakt sein Mann Beppo nach: „Was weißt du denn von Frauen?“ Leif: „Ich war mal mit einer verheiratet.“
Die Stille währt diesmal nur kurz. „Und warum bist du jetzt mit mir verheiratet?“ Beppo, der kurz erstarrt war, ist sichtlich wütend über das Geständnis. Leifs Antwort macht es nicht besser: „Ja, das weiß ich manchmal auch nicht.“
„Bitte hört auf!“, näselt Frederik in seinem Norwegerpulli. „Das ist nicht gesund für die Psyche.“ Doch: „Also wie gesagt, ich finde dich sehr attraktiv, Lena“, erklärt Leif erneut. Norbi steht auf und geht zu ihm rüber. „Lass meine Frau in Ruhe!“ Jetzt versucht Anne zu vermitteln: „Halt, stopp, Frieden!“ Und Lena sagt : „Das ist oft so in Stresssituationen, dass man ausrastet, das hab ich mal gelesen.“ Wir sollten uns doch bitte alle wieder beruhigen.
Aber es ist etwas ganz anderes, das sich beruhigt. Auf einmal hat sich alles verändert. Das Gespräch verstummt. Wir stellen die Gläser auf dem Salontisch ab. Halten inne. Heben die Köpfe. Und lauschen: Da ist nichts mehr. Gar nichts. Der Wind. Er ist weg. Der Sturm. Vorbei. Eine Woche ohrenbetäubendes Gejaule in den Riggs unserer Schiffe ist mit einem Mal zu Ende. Stattdessen Ruhe. Beinahe fehlt etwas. Wir gehen an Deck und kommen mit der Situation so recht nicht klar. „Wir können los“, sagt einer, fast noch ungläubig. Es dauert, bis wir uns gefasst haben. Und beschließen, gleich morgen nach dem Frühstück abzulegen.
„Komische Leute, alle zusammen“, sagt mein Mann. „Dasselbe sagen sie vielleicht von uns“, überlege ich laut. Doch das lässt er nicht gelten: „Also ich habe noch keinen in die Rechtsmedizin gebracht, bloß weil er meine ‚Alte‘ angefahren hat. Wobei …“ Am nächsten Morgen dann die große Verabschiedung. Ja, ganz sicher wird man sich wiedertreffen, die Ostsee ist ja eine Pfütze.
Wir segeln nach Sonderborg zurück. Unsere Ferienwoche ist um. „Himmel, bin ich froh, wenn wir wieder normale Stegnachbarn haben!“, freut sich mein Mann. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr. Keiner, der uns ungefragt mit seinen Beziehungsdramen behelligt. Keiner, der von Giftpilzen und Schädlingen schwafelt.“
Michi hilft uns beim Anlegen. „War’s schön?“ Wir schauen uns an. Bloß keinen großen Klönschnack mehr. Also sagen wir nur: „Alles wunderbar!“ Und so beiläufig wie möglich: „Und bei dir so?“ „Ich hab schlechte Laune“, sagt Michi. Dann holt er aus: „Bei mir zu Hause hat sich die Wollige Napfschildlaus in den Bäumen niedergelassen. Ich muss mich jetzt intensiv mit Schädlingen auseinandersetzen. Erzähl ich euch alles nachher in Ruhe.“