Den ganzen Tag über weht nur ein lasches Lüftchen, viel zu wenig, um die betagte, schwere Fahrtenyacht voranzubringen. Dabei haben wir eine lange Strecke vor uns, von Schleimünde aus segeln wir in Etappen nach Göteborg, wo die Familiencrew an Bord kommen soll. Bis dahin sind wir zu zweit und wollen tagsüber lange Etappen segeln, doch bei der langsamen Fahrt will uns das nicht gelingen. Südlich von Langeland treiben wir mehr über den Großen Belt, als dass wir segeln, und auch für morgen verspricht der Wetterbericht nicht viel Druck unter den Wolken.
Heute Abend und in der Nacht soll es laut Prognose allerdings auffrischen und mit bis zu 20 Knoten aus West wehen, ein Jackpot im Wetterroulette. Mit sinkender Sonne steigt die Windanzeige tatsächlich stetig an und damit auch die Stimmung von Steuermann Jan, der sich jetzt weigert, den Kurs zum geplanten Übernachtungshafen zu steuern. „Das sind die besten Bedingungen, diese schöne Brise nehmen wir noch mit!“, erklärt der taktikerprobte Regattasegler. Langfahrt war bisher nicht sein Ding. „Okay“, stimme ich zu, „dann erleben wir eben einen perfekten Sonnenuntergang auf See!“
Mit neuem Kurs auf einen anderen Hafen geht die Fahrt mit Rauschefahrt und Glücksgefühl weiter in die Wasserlandschaft, über der sich der Abendhimmel in ein Farbenspektakel aus explodierendem Rot-Gelb-Blau verwandelt hat. Das neue Ziel liegt etwa acht Seemeilen voraus, und schneller als gedacht folgt auf die Dämmerung Dunkelheit. Die Positionsbeleuchtung verrichtet ihren Dienst seit Sonnenuntergang, Kopflampen und Handstrahler liegen griffbereit. Es ist ein Sicherheitsvorteil, wenn die Fahrtenyacht grundsätzlich fürs Nachtsegeln ausgestattet ist und die Crew sorglos in den Dunkelheitsmodus wechseln kann. Flaute, die Wahl eines moderaten Kurses, das Ablaufen bei Sturm, überfüllte oder gesperrte Häfen, schlechter Ankergrund: Es gibt viele Gründe, warum auf See aus Plan A ein Plan B werden kann, und wer dann auch Plan N für Nachtfahrt im Repertoire hat, der kann sich Njörds Gunst gewiss sein.
Ich dimme die Navigationsinstrumente und schalte das Licht am Niedergang auf Rot. Jan steht an der Pinne und schaut mit dem Fernglas in die Dunkelheit. Seine Stimme klingt nervös, als er fragt : „Was ist jetzt mit den Fischerbojen und kleinen, unbeleuchteten Fahrzeugen ohne AIS-Sender? Da fahren wir doch einfach drüber.“ Auf dem Plotter ist im Umkreis von fünf Meilen kein Signal eines Wasserfahrzeuges zu sehen, weiter entfernt sind Frachtschiffe im Fahrwasser auf Kurs Nord.
„Ich übernehme die erste Wache, du hast jetzt den Befehl zu genießen“, erkläre ich Jan. Er war noch nie bei Nacht auf See unterwegs, sondern spätestens bei Dämmerung im Hafen. Wenn er das Nachtsegeln ohne die Sonne am Firmament als eine positive Erfahrung verbucht, wird sich ihm eine ganz neue Welt erschließen und weit entfernte Törnziele näher rücken. „Hol dir warme Klamotten, eine Tasse Tee und etwas Süßes“, ist mein Kommentar. „Und Achtung: Nachtsegeln ist mit das Schönste, was es auf See zu erleben gibt. Es besteht Suchtgefahr.“
Der Autopilot macht einen guten Job, in meinem Kopf entsteht ein mehrdimensionales Bild von der näheren Umgebung durch das Lagebild des Plotters, die Feuer umliegender Seezeichen und die Positionslichter von Frachtern und Fähren. Ich finde mich auch ohne Tageslicht schnell zurecht. Es gibt viel weniger Informationen zu verarbeiten als bei Tag, und die sind meist auch eindeutig zu verstehen.
Es ist immer wieder ein fantastisches Schauspiel und fast schon eine mystische Erfahrung, wenn das Dunkel die gewohnte Sicht verschlingt und die Fahrt ins Farblose weitergeht. Jetzt übernehmen Leuchtfeuer und Lichter die Führung. An Backbord feuert rundum weiß Keldsnor Fyr, steuerbord voraus blinken die Tonnen des Tiefwasserweges Langelandbelt, und wie eine Perlenkette reihen sich die Frachter und Fähren auf der viel befahrenen Nord-Süd-Achse aneinander. Bei wenig Sicht ist es die Voraussicht, die uns den Weitblick verschafft. Die Augen sind fokussiert, das Gehör sensibel, der Geruchssinn geschärft, und über die Haut nehmen wir kleinste Luftveränderungen wahr. Der ganze Körper liefert dem Gehirn solche für die Orientierung hilfreichen Informationen und erlebt zeitgleich eine berauschende Party der Stille. Die Sucht heißt Segeln, das berauschende Mittel ist Adrenalin.
Die Voraussetzung dafür, dass es anschließend keinen Kater gibt, ist Vertrauen. In das Schiff, den Skipper, die Crew – und nicht zuletzt in sich selbst. Außerdem muss vermieden werden zu frieren, und andere als die körpereigenen Stimulanzien sind tabu. Ohne volle Sichtkontrolle heißt es bei Dunkelheit, sich voll auf die Situation einzulassen. Dabei ist Angst kaum zu vermeiden, das Ruder aber darf sie nicht übernehmen, denn dann hört der Spaß auf, und es kann gefährlich werden. Besonders bei der Begegnung von anderen Schiffen, Seezeichen und dem Einlaufen in Häfen ist Besonnenheit wichtig, denn Entfernungen und Geschwindigkeiten richtig einzuschätzen ist bei Dunkelheit viel schwieriger als bei Licht betrachtet.
Crewmitglied Jan sitzt ganz still und schaut abwechselnd in den Himmel, querab ins Wasser und an den Horizont. „Das ist ja wahnsinnig schön!“, konstatiert er. „Lass uns doch den günstigen Wind und Strom nutzen und weitersegeln.“ Seine Stimme klingt nicht mehr gestresst, er hat tatsächlich den inneren Hebel von Angst und Sorge auf Wachsamkeit und Genuss umgelegt. Nach einem kurzen Update von Position, möglichen Zielen und der Verkehrs- und Wetterlage ist klar, sein Vorschlag ist sinnvoll. Zwar wäre es machbar, den ursprünglich avisierten, unbekannten Hafen anzulaufen, das würde aber die aktuelle Lebensfreude und den Törnplan kassieren. Denn das momentane Erlebnis beim Nachtsegelist grandios. Das Boot pflügt mit Rumpfgeschwindigkeit durch eine wild wogende Wasserlandschaft, hinter uns zeichnen wir eine weiße Spur aus Gischt ins Kielwasser.
Keiner von uns möchte schlafen, noch schwappt wohldosiertes Adrenalin durch die körpereigene Bilge. Wir sind in den Südteil des Großen Belts eingelaufen, und die Choreografie dieses Nachttörns hat ihren Höhepunkt erreicht. Ein beleuchteter Gigant aus Stahl und Beton quert unseren Kurs, die Belt-Brücke. Mit schneller Fahrt rasen wir darauf zu, eine Trasse von riesiger Spannweite, angestrahlte Pylone und Stahlseile wie Spinnennetze, Dutzende blinkende Lichter von Seezeichen, Schiffen und dazu die Scheinwerfer des querenden Auto- und Bahnverkehrs.
Segeln wir noch, oder sind wir schon in Walhalla?
Am nordöstlichen Himmel schaltet jetzt der Oberbeleuchter das Licht ein, und die Nacht weicht dem Tag. Als die Sonne über den Horizont klettert, schläft der Wind allmählich wieder ein. Und wir langsam auch. Der Anker liegt sicher auf Grund, das kleine Eiland Musholm umarmt uns im Westen mit Schutz vor dem Dampferschwell. „Ich buche wieder eine Nachtfahrt, diesmal mit Meeresleuchten“, murmelt Jan noch vor dem Einschlafen. Das kann er haben, heute Abend soll der Wind wieder auffrischen.